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Oktober 1840
längs des ticino von Bellinzona bis faido, ein langes, ziemlich breites thal
und dazwischen der rhein, der hier ebenso reißend und verderblich ist als
dort der Ticino; eine Menge alter, zerstörter Ritterburgen, deren es über-
haupt in graubündten eine große menge gibt, und darunter mehrere von hi-
storischer Bedeutung, z.B. razuns, hohenrhaetien auf einem schauerlichen
Berge ober thusis, welche von rhaetus erbaut seyn und dem land den nah-
men gegeben haben soll. im übrigen aber sind die häuser, dörfer etc. schon
ganz anders als in der eigentlichen schweitz, viel ärmlicher und nicht die
Zierlichkeit, Nettigkeit und Wohlhabenheit wie dort; sie sind schon mehr ita-
liänisch und von stein und beinahe so wie im canton tessin, jedoch noch um
einen grad besser. thusis ist ein romanisches dorf, Andeer wieder deutsch,
wie denn überhaupt diese 2 sprachen ziemlich vermengt untereinander woh-
nen; es gibt 5 Arten des romanischen, dessen Hauptsitz das Engadin ist, wel-
ches superbe seyn soll; doch besuchen es sehr wenig Reisende; Länder haben
glück so wie die menschen, die schönsten sind oft die unbekanntesten.
Jenseits Thusis fängt die Via mala an, ein magnifiquer Weg in einer en-
gen felsschlucht, hoch, längs und manchmal über den rhein hin, so unge-
fähr wie die gotthardtstraße zwischen faido und Airolo, jedoch weniger
imposant und ergreifend wegen der minder schauerlichen Umgebung; dann
ist die felsschlucht von splügen viel breiter und zudem der rhein viel ru-
higer als der tobende schäumende Ticino; doch gibt es ein Paar wirklich im-
posante, in den felsen gesprengte gallerien, u.a. das berühmte Prou perdu.
von Andeer bis splügen geht es stark aufwärts, der rhein macht da ein
Paar schöne cascaden, auch gibt es an der straße ein bedeutendes eisen-
bergwerk und schmelzhütte.
von splügen aus, wo wir speisten, fuhren wir den eigentlichen Berg
hinan; von hier aus ist die Straße mit einer wirklich großartigen Freigebig-
keit ganz von der österreichischen regierung und zwar Anno 1821 erbaut
worden, und noch jetzt werden alle bedeutenden Arbeiten an derselben von
ihr und zwar mit vieler magnificence bestritten. Nach einer Fahrt von 2 1/2
stunden, während deren wir beständig in Wolken und regen eingehüllt
waren, dabey aber an beyden seiten der straße hohen schnee fanden, wa-
ren wir auf dem gipfel, wo ein rondell von stein und die wohlbekannte Auf-
schrift: Via all’Ufficio Doganale etc. die österreichische Grenze bezeichnete.
von einer Aussicht war bey diesem Wetter keine rede, man sagte mir aber,
daß es auch sonst keine besondere gäbe als auf ein Paar Bergspitzen in der
nähe und höchstens im hintergrund 1 oder 2 gletscher. nicht weit von da
ist das Zollamt, wo wir nur sehr kurz aufgehalten wurden und man mir als
signor Aggiunto complimente schnitt.
von da an geht die straße auf österreichischem gebieth mit einer wirk-
lich erstaunlichen magnificence weiter; es bestehen 4 große, steinerne Häu-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien