Seite - 109 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band I
Bild der Seite - 109 -
Text der Seite - 109 -
10924.
Oktober 1840
plötzliche Abberufung unsers Gesandten Baron Stürmer;1 ottenfels mußte
Knall und Fall nach Constantinopel; der Grund davon ist die neuerlich vom
großherrn versagte Absetzung mehemed Ali’s selbst von der statthalter-
schaft von egypten, welche auf verlangen lord Ponsonby’s und mit unter-
stützung von Seiten Stürmer’s geschah; nun ist aber dieses mehr als jemals
im tractat vom 15. July bedungen worden, und so will fürst metternich
damit wahrscheinlich einen halben schritt der Annäherung an frankreich,
welches Gift und Galle speyt, thun; wie aber eine jede Halbheit, so ist auch
dieses wohl ein faux-pas und wird uns mit unseren verbündeten entzweien,
ohne deßwegen frankreich zu gewinnen, oh tiefe Weisheit des größten eu-
ropäischen staatsmannes! es bringt mich jedes mal aus meinem Phlegma,
wenn ich diesen erborgten glanz rühmen höre.
[mailand] 24. oktober 1840a
heute habe ich einen Brief von gräfin lottum erhalten, der aus versehen
schon 8 Tage auf der Post lag; dieser Brief ist von Luzern datiert, wo sie
am 30. september, also einen tag nach meiner Abreise von dort, ankam
und sich einige Zeit aufhielt; welch ein fataler, unangenehmer guignon! Ich
mache diese reise beinahe bloß in der Absicht, sie zu sehen, und verfehle
sie nur um wenige stunden! ist das nicht verzweifelt ärgerlich? sie sagt,
mir nach louèche geschrieben zu haben, was aber aus dem Brief geworden,
weiß Gott; also wieder ein Contretems [sic] mehr; das Wetter, der Ticino,
der simplon und die louècher Post, Alles scheint sich verschworen zu ha-
ben; übrigens schreibt sie mir ganz heiter und hat die besten Hoffnungen,
ihre Angelegenheiten bald und gut beendigt zu haben. von Brockhausen
schreibt sie, daß sie hoffe, er werde den vacanten gesandtschaftsposten in
Neapel erhalten; nach alldem scheint es also, als hoffe sie auf vollständige
Trennung von ihrem Manne und Wiederverehelichung mit Brockhausen; ihr
schicksal will sie nun in lausanne oder genf abwarten und in der nähe von
italien bleiben, weil sie noch immer die Absicht hat, den Winter in italien
zuzubringen. die Briefe der guten lottum haben auf mich immer eine eigene
Wirkung, sie bouleversiren mich ganz, und zwar nicht so sehr wegen des ei-
genthümlichen gefühls zwischen freundschaft und mehr, welches ich für sie
hege, als deßwegen, weil sie mich an die bedeutendste, aufgeregteste Periode
meines lebens erinnern, denn in der Zeit als ich sie kannte, war ich frey wie
seitdem und früher nie wieder, mein geist war frey, ich hatte mich freiwillig
zwischen 2 stühle gesetzt und hing nur mehr mit einem einzigen schwa-
1 frh. Bartholomäus v. stürmer wurde nicht abberufen, sondern nur nach Wien zitiert, er
blieb bis 1850 internuntius in konstantinopel.
a Jahreszahl mit anderer tinte beigefügt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien