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110 Tagebücher
chen Faden an meinem bisherigen, alltäglichen Leben; wie wenig hätte es
gebraucht, und auch dieser wäre zerrissen; wäre die Convention von Bergara
nicht geschehen, ich wäre zu Don Carlos gegangen;1 aber meine gedanken,
meine Pläne waren schon völlig frey, himmel und erde gehörten mir, und
ich stand mitten auf der Welt, konnte mich wenden wohin ich wollte, alle
rücksichten, alle Bande der hausbackenen Alltäglichkeit, alle die kleinen
misèren unseres Außenlebens waren vergangen und verschwunden. Aber
da kam Auguste, deren Brief mich unfreiwillig, Böses ahnend, jedoch von
delicatesse und erinnerungen gefesselt, nach francfurt zog, und von da nä-
her und immer näher zog es mich mit tausend Armen wie die motte an das
licht, bis ich mir taumelnd wie sie die flügel versenkte und wehklagend zu
Boden sank; das ist meine traurige Geschichte.
Aber jene Zeit der freyheit, der unbefangenen, fessellosen Welt-Anschau-
ung, soll sie auf immer verschwunden seyn? nein, sie soll und wird es nicht!
ich kann mich in diese kleinliche existenz nicht finden, und könnte ich es,
so würde ich mich vor mir selber schämen, mich selbst verachten und das
theuerste, was ich auf erden habe, den glauben an mich selbst, das Be-
wußtseyn daß ich zu Besserem geboren sey als die menge um mich her, ver-
lieren, und das verhüte gott!
Auch fühle ich, daß meine entschlüsse, meine ideen in mir immer noch
zur reife kommen, und deßhalb segne ich den moment, der mich nach mai-
land brachte, weil ich fühle, daß ich hier nicht, wie es in Wien geschehen
wäre, verflachen, versanden, verdummen werde; hier habe ich geistige Anre-
gung, soviel davon in österreich möglich ist, und faute de mieux ist mir das
genug und kann es auch seyn, nachdem ich schon in mir der Aufregung des
geistigen lebens genug trage, um nur des leisesten Anstoßes zu bedürfen.
nur die Art meinen Zweck zu erreichen, hat sich vielleicht seit einem Jahr
modificirt; damals dachte ich noch an ein persönliches, actives, thätliches
einschreiten, wodurch ich ebensogut ein verunglückter Aventurier werden
konnte, als das was ich erreichen wollte; und jetzt denke ich eher daran, mir
durch Denken und Schreiben den Weg zum Handeln zu bahnen; aber selbst
hierin kehren zu Zeiten meine alten velleitäten wieder.
Meine Arbeit habe ich, seit ich wieder hier bin, nicht fortgesetzt; meine
Wohnung ließ sich nur nach und nach in den comfortablen Zustand verset-
zen den ich brauche, um ungestört pouvoir nageur à me pensées; jetzt aber
1 mit der konvention von Bergara v. 31.8.1839 endete der erste karlistenkrieg zwischen den
Anhängern der minderjährigen königin isabella bzw. ihrer mutter und regentin maria
christina und jenen des thronprätendenten don carlos v. Bourbon, der die von isabellas
vater ferdinand vii. 1830 wieder ermöglichte weibliche thronfolge nicht anerkannte und
sich auf das seit 1713 bestehende gesetz berief, das die ausschließlich männliche thron-
folge bestimmte.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien