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114 Tagebücher
hartig hatte sich von der mailänder Welt so isolirt, so sehr gleichsam mit ihr
in opposition, daß sein Haus eigentlich von gar keiner ressource war; außer
einigen deutschen, nähmlich den höheren militärs, fand man dort niemand,
und selbst für diese habitués war eigentlich bloß seine Loge von ressource;
nebstdem waren seine faux-airs de grand seigneur, seine affectirte Zerstreu-
ung etc. nicht geeignet, einem sein haus angenehm zu machen, und seine
Frau ist eine gute Linzerin, voilà tout; übrigens war ich einer jener habitués,
kann mich also eher über sie loben als beklagen. das einzige weßwegen ich
hartig regrettire, ist seine leichtigkeit im ertheilen von urlauben und seine
Freyheit von aller Pedanterie im Dienste; ob sein Nachfolger ebenso seyn
wird, muß man erst sehen.
[mailand] 26. november
ich arbeite jetzt ziemlich fleißig an meinem Werke, d.h. so oft ich dazu
komme, doch vergehen oft tage wo ich keinen federzug mache. vormittags
geht es nicht recht, weil da doch immer der eine oder der Andere kömmt und
mich stört, dann muß ich in mein bureau, gabrielle will ich auch beinahe
täglich wenigstens auf einen moment besuchen, nebstdem gibt es auch noch
hie und da andere visiten zu machen etc., und so vergeht der Tag; die Zeit
wo ich arbeiten kann ist daher die Avant-soirée, nähmlich nach tisch, von 7
1/2 8 bis gegen 10 Uhr; oft aber geschieht es, daß ich um diese Zeit visiten zu
machen habe, und dann gibt es eine dies sine linea.
Wie ich mich so nach und nach hineinarbeite, geht es mir immer leichter
von Statten; jedoch ist die Begeisterung, der Enthusiasmus beym Teufel, wie
ich die Feder zur Hand nehme, um etwas niederzuschreiben; solange meine
gedanken im kopfe sind, erscheinen sie mir in einem poetischen lichte des
enthusiasmus, wie ich sie aber zu Papier bringen soll, verschwindet der
nimbus, und ich bin dann selten mit ihnen zufrieden, so daß ich zu Zeiten
wirklich découragirt und in meinem entschlusse wankend werde. übri-
gens schreibe ich jetzt meine Ideen nur als squelette auf; die Ausarbeitung,
Zusätze und Weglassungen werden erst dann nachfolgen, wenn das ganze
Werk ein Mal als Cadre beendet ist; ob das ein gutes System ist, weiß ich
nicht, denn ich bin in schriftstellerischer Traduction ein Neuling; überhaupt
ist der mechanismus des schreibens viel schwerer als ich gedacht hatte,
durch wieviel kalte, trockene, aber doch nothwendige seiten und Blätter
muß man sich durcharbeiten, bis man an ein Paar Zeilen kömmt, bey denen
die ganze seele in der feder sitzt! und in jenen Blättern immer gleichförmi-
gen styl, eine lebhafte, angenehme und nicht pedantische diction zu bewah-
ren, das ist die große schwierigkeit.
indessen will ich jetzt einmal das Zeug im squelette auf’s Papier werfen,
dann es ausarbeiten, und ist Alles das geschehen, dann lasse ich es erst noch
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien