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1156.
Dezember 1840
vielleicht nicht drucken, obwohl ich mir kaum soviel selbstverläugnung zu-
traue; ist es aber gedruckt, dann vogue la galère, vielleicht geht es ungelesen
und ungekannt zu Grunde; das wäre das Ärgste.
Heute sind Hartigs von hier fort; er schien sehr angegriffen, sie dumm-
froh; von seinem Nachfolger weiß man noch nichts; man spricht von großen
Änderungen: erzherzog rainer nach Wien, statt erzherzog ludwig der sich
in Ruhe begeben will; Erzherzog Stephan statt seiner hieher und Lobkowitz
als Staatsminister ihm beigegeben; Vedremo, ich verlange und wünsche
nichts, als daß man mich hier lasse, meine Pläne und gedanken in ruhe
auskochen; hier habe ich Anregung, Gelegenheit und Muße dazu, mehr als
sonst wo in der monarchie, auf Avancements steht mein sinn nicht, es ist
eine zu jämmerliche perspective als alter Esel Governeur zu werden; übri-
gens bin ich soeben etwas geworden, nähmlich Kämmerer und zwar taxfrey;
voyez le grand personnage.
[mailand] 6. dezember
heute früh ist lobkowitz nach Wien abgereist, auf dringende Briefe, die er
erhalten hatte; ich war in der letzten Zeit mit ihm sehr bekannt und bei-
nahe intime geworden, und ich glaube ihm gefallen zu haben, was immer
gut ist, denn er ist schon jetzt einer der größten Personnages der monarchie,
und vielleicht bestimmt der größte zu werden; seine plötzliche Abreise fällt
mir sehr unangenehm, weil ich gerade jetzt den gedanken gefaßt hatte, mit
ihm von meinem Projecte zu reden, das mich beschäftigt, und ihn für dessen
Ausführung zu gewinnen, nähmlich eine größere reise zu unternehmen, und
zwar mit appui und wo möglich wenigstens theilweise auf kosten des staa-
tes; meine Absicht wäre die südamerikanischen Staaten und Republiken,
ein bisher wenigstens für österreicher und deutsche beinahe unbekanntes
land, und welches in wissenschaftlicher, commercieller und politischer hin-
sicht eine reiche Ausbeute geben dürfte, zu bereisen; davon wollte ich mit ihm
sprechen, kam aber nicht dazu, weil er eben abreiste, als ich einen klaren
Entschluß gefaßt hatte; das ist mir sehr unangenehm; jedoch werde ich dieses
thun wenn ich ihn in Wien sehe, oder sollte dieß früher geschehen, wenn er
wieder nach Mailand kömmt, was wie er sagt, im Frühjahr geschehen wird;
denn etwas großes, Wichtiges muß ich jetzt unternehmen, ich fühle, daß die
Zeit dazu gekommen ist, mehr als jemals fühle ich, daß der Augenblick da ist,
mir ein großartigeres Leben zu formiren; als stepping stone zu einem solchen
betrachte ich meinen gegenwärigen séjour in mailand.
meine Arbeit geht ziemlich gleichförmig vorwärts, obwohl meine ämtli-
chen Beschäftigungen, die lecture welche ich um keinen Preis vernachläs-
sigen wollte und die übrigen Anforderungen meines hiesigen lebens mir oft
kaum eine minute Zeit lassen. ich passire jetzt fast alle Abende, d.h. nach
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien