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11921.
Dezember 1840
compagnie geworden ist, gibt jetzt mr. castle, ein Americaner, alle sonntage
phrenologische Vorlesungen und hält craneoscopische Examina; ich war etli-
che Male dort; der Mensch ist merkwürdig durch seine klare Auffassung und
combinations-gabe, und die meisten seiner Portraits cranioscopiques sind
wirklich frappant; wenn die Sache nicht so unpracktisch wäre, so würde sie
mich lebhaft interessiren. Beinahe ebenso unpracktisch, wenigstens für den
moment, ist fourier’s societäts-lehre, welche ich durch neipperg, der dar-
über zum narren wird, aufmerksam gemacht, studiert habe, und ich gestehe
es, sie hat mich mächtig angeregt, es sind sublime, magnifique thatsachen
und Wahrheiten darin, besonders in dem theil desselben, der die kritick un-
serer socialen Zustände enthält, aber auch sie ist bloß speculation, und das
Leben ist so kurz, daß man zwischen ihr und dem Handeln optiren muß; bey-
des läßt sich nicht vereinigen; ich habe mich aber für Letzteres entschieden;
schade ist es um neipperg bey seinem vielen verstand und großen kennt-
nissen und seiner bewunderungswerthen intensivität, seiner Aplications-
gabe, daß er sich auf lauter solche unpracktische studien, und noch dazu
alle Augenblicke auf ein anderes wirft; so wird daraus eine bibliothèque-ren-
versée, ein zwecklos vergeudetes leben. Was ich an ihm bewundere, ist die
immense bonne foi, den enthusiasmus, womit er alle diese lehren, solange
sie ihn beschäftigen, in sich aufnimmt, das Wahre und falsche ohne unter-
schied, und ohne diesen auch nur zuzulassen; dabey sein completer Mangel
der Furcht vor dem Lächerlichwerden; besonders diesen letzteren begreife
ich am schwersten; übrigens glaube ich, daß diese Furcht die gefährlichste
feindin jeder großen, wahrhaften überzeugung, die nie ohne etwas fanatis-
mus abgeht, ist; und wenn man daher aus einem Menschen mehr als einen
bloßen Weltmann und homme comme il faut bilden will, so sollte man, meine
ich, damit anfangen, diese Apprehensivität des ridicule gänzlich auszurot-
ten.
[mailand] 21. dezember
Wir werden nun nächstens nachrichten von den festlichkeiten in Paris we-
gen der translation des cendres des Napoléon erhalten; übrigens höre ich,
daß der Enthusiasmus daselbst ein sehr gedämpfter ist; mir thut es herzlich
leid, daß man diese reste nicht in st helena ließ, das war viel grandioser,
romantischer und angemessener; St helena war ein von der natur für na-
poleon geschaffenes monument, und eben seiner entfernung wegen in einen
poetischen Nimbus gehüllt, ganz wie Napoleon es verdiente; jetzt wird man
ihm einen mesquinen grabstein setzen, wie cromwell in Westminster, wie
so vielen Anderen, und um 2 franken wird man die Wahl haben, napoleon’s
grab oder irgend eine ménagerie anzusehen. schade, alle Poesie verschwin-
det nach und nach!
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien