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128 Tagebücher
sie mich auf, sie zu besuchen, und das ist in Mailand viel; ich machte ihr
auch gleich tags darauf eine visite in der scala in ihrer loge, wo ich aber
unter eine menge wildfremder stock-italiäner gerieth, was auch ihre son-
stige Liebenswürdigkeit etwas paralysirte; das ist das Unangenehme hier
in Mailand; die Frauen sind Alle, wenigstens so viele ich kenne, artig und
freundlich, aber wie man einer derselben näherrückt, so geräth man in ein
Wespennest von unterirrdischen [sic] männern, welche finster blicken und
dadurch die frau vom hause in verlegenheit setzen, denn sie hat selten
oder nie genug usage de monde, um diese feindlichen Mächte zu versöhnen;
übrigens ist es meine tactique, solche gerunzelte gesichter nicht zu bemer-
ken, und wenn sie dann sehen, daß man kein ogre ist, so entrunzeln sie
sich wohl von selbst.
künftige Woche ist wieder komödie und dann costumirter Ball bey sa-
moiloff; ihr salon ist nun ganz verschollen, wenigstens für uns, man findet
nun niemand dort als martini und consorten, d.i. einen haufen mailänder
Buben, die plötzlich aus der Erde aufgetaucht sind; die gute Frau benimmt
sich so dumm und de mauvais gout als nur möglich; letzthin schickte sie ihm
auf einen Ball, auf dem sie nicht war, hintereinander 5 billets! eine ihrer ha-
bituées ist jetzt eine ziemlich équivoque französin mad. des caneps [?] und
ihr Liebhaber Mr. Casello, der aber ein ganz distinguirter Mensch ist; dieser
war letzthin krank, und die samojloff redete ihr zu, seine kräfte in puncto
puncti nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen, worauf sie ganz naiv antwor-
tete: comment donc! voilà plus de douze heures que je n’ai rien fait!
gestern war der gewöhnliche Ball, den graf cicogna alle 2 Jahre gibt, mit
einer unendlichen Wichtigkeit, und wovon ganz Mailand pénétrirt scheint;
ich war nicht dabey, weil Pachta, den ich längst gebethen hatte, mich auf-
zuführen, mich sitzen ließ, was ich ihm übel nehme; Cicogna, der übrigens
ein sehr höflicher mann ist, jedoch seine einladungen wie eine affaire d’etat
betreibt, ließ mir durch seinen schwager calvi, der bey der delegation Prac-
ticant ist, sagen, wenn ich wünschte, könnte ich mit ihm kommen; eine ganz
curiose, jedoch hier in Mailand nicht beleidigende Art mich einzuladen; ich
fand es aber meiner stellung nicht angemessen, auf eine solche Art hinzu-
kommen und dankte – quelles misères! – und mit solchen sachen muß ich
mich hier beschäftigen!
Mein Buch ist schon seit längerer Zeit fertig, d.h. éhanchirt; jetzt bin ich
beym Aus- und Überarbeiten, aber es geht mir hart; oft befällt mich eine
so vollkommene entmuthigung, daß ich an meinen fähigkeiten zu zweifeln
beginne; ich möchte doch wissen, ob jeder Schriftsteller dergleichen Anwand-
lungen hat, oder ob es nur mein character oder meine ungewohntheit in
dergleichen Arbeiten ist; wieder ein neuer und peinigender Zweifel; wenn
dem aber so ist, so ist der ruhm eines Autors ein theuer erkaufter.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien