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es besser, wiewohl noch lange nicht so wie ich mich erinnerte, ihn im Jahre
1835 gesehen zu haben. gestern endlich als am ersten fastensonntage war
großer corso, jedoch ohne Benêts [?], das ist der brillanteste corso im Jahr,
und es war auch wirklich eine unabsehbare reihe von Wagen, die schritt
vor schritt von einem ende der stadt bis zum ende des passeggio und wie-
der zurück zog, darunter manche sehr schöne, aber auch eine unzahl infa-
mer équipagen, denn darin sind die italiäner viel gescheidter als wir, daß sie
keinen Begriff davon haben, sich darüber zu schämen, daß sie es an glanz
anderen nicht gleichthun können; wer einen Einspänner, wer einen horrib-
len Armensünderkarren hat, fährt damit gerade so stolz und vergnügt auf
den Corso wie der Millionär mit seinem Postzuge; bey uns würde ein solcher
mensch aus dummer falscher scham zu hause bleiben. im grunde bin ich
recht froh, daß der carnevalone aus ist, denn es war eine fatigante Zeit, man
kam zu gar nichts, nicht zum lesen, nicht zum schreiben, kaum zum denken.
übrigens bin ich gerade im Begriffe mich in eine situation zu verwickeln,
die mir viele gedanken macht und worüber ich noch zu gar keinem festen
entschluß gekommen bin. unter den tänzerinnen des hiesigen corps de bal-
let, welche hier Alle jung und hübsch sind, da es lauter schülerinnen der
i.r. scuola di ballo sind, gibt es eine, Adelaide Pirovano, die mir schon seit
längerer Zeit wegen ihres edlen, interessanten gesichts und ihrer graziösen
Bewegungen auffiel; sie ist 15–16 Jahre alt und bereits unter den ersten des
Corps de Ballet, so daß sie in den Ballabile’s die ersteren Rollen tanzt; ich
coquettirte daher länger hintereinander mit ihr, d’après la coutume du pays,
wozu ich excellente gelegenheit hatte, indem die gouverneursloge, in wel-
cher ich nun fast beständig sitze, zu ebener erde, sur l’avant-scène, also fast
mitten unter ihnen ist; es dauerte eine Zeit, bis sie auf mich aufmerksam
wurde, und endlich ließ ich ihr durch Pompeo Belgiojoso, der wie ein narr
in eine ihrer Freundinnen verliebt ist, sagen, ich möchte mit ihr sprechen;
wirklich erpaßte ich den moment am Abend nach dem ersten corso am don-
nerstag, da sie von der cerrito, bey welcher sie vom Balcon aus zugesehen
hatte, nach Hause ging; ich abordirte sie, und sie antwortete mir, worauf ich
schon vorbereitet war, und ebenfalls d’après la coutume du pays, ich müßte
mit ihrer mutter reden und von ihr die erlaubniß begehren, ihr haus zu
besuchen; Tags darauf sah ich sie wieder auf der Straße, wo sie mir sagte,
sie käme Abends mit ihrer Mutter en masque auf den Veglione; das geschah
denn auch, und ich führte sie bis 6 uhr früh am Arme herum und redete so-
wohl mit ihr als mit der Mutter allerley über meine Absichten und Projeckte;
gestern endlich führte mich Adelaide in ihre ärmliche Wohnung; ich kann
gar nicht sagen, was mir diese Armseligkeit, worauf ich nicht gefaßt war,
für einen traurigen Eindruck machte und noch macht; dann hatte ich einen
langen discurs mit der mutter, welche mir eine interessirte hexe zu seyn
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien