Seite - 122 - in Der Weg ins Freie
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»Nun, warum tun Sie es also nicht?«
Heinrich blieb stehen, und mit zusammengepreßten Zähnen stieß er hervor:
»Sagen Sie, lieber Georg, sollten Sie wirklich noch nicht bemerkt haben, daß
ich feig bin?«
»Ach das nennt man doch nicht feig.«
»Nennen Sie’s, wie Sie wollen. Worte stimmen ja nie ganz – je präziser sie
sich gebärden, umso weniger. Ich weiß, wie ich bin. Nicht um die Welt fahr
ich hin. Lächerlich auch noch? Nein, nein, nein… «
»Also was werden Sie tun?«
Heinrich zuckte die Achseln, als ginge ihn die Sache doch eigentlich nichts
an.
Etwas geärgert, fragte Georg wieder: »Wenn Sie mir eine Bemerkung
erlauben, was sagt denn die… Hauptbeteiligte?«
»Die Hauptbeteiligte, wie Sie sie mit infernalischem, aber unbewußtem
Witz nennen, weiß vorläufig nichts davon, daß ich anonyme Briefe
bekomme.«
»Haben Sie die Korrespondenz mit ihr abgebrochen?«
»Was fällt Ihnen ein? Wir schreiben uns täglich, nach wie vor; sie mir die
zärtlichsten und verlogensten Briefe, ich ihr die gemeinsten, die Sie sich
vorstellen können, – unaufrichtig, hinterhältig, marternd bis aufs Blut.«
»Hören Sie, Heinrich, Sie sind wahrhaftig kein sehr edler Charakter.«
Heinrich lachte laut auf. »Nein, edel bin ich nicht, dazu bin ich offenbar
nicht auf die Welt gekommen.«
»Und wenn man bedenkt, daß es am Ende lauter Verleumdungen sind!«
Georg, für seinen Teil, zweifelte natürlich nicht, daß die anonymen Briefe die
Wahrheit enthielten. Trotzdem wünschte er ehrlich, daß Heinrich an Ort und
Stelle reiste, sich selbst überzeugte, irgend etwas unternähme, jemanden
ohrfeigte oder niederschösse. Er stellte sich Felician in einem ähnlichen Falle
vor, oder Stanzides, oder Willy Eißler. Alle hätten sich besser benommen,
oder wenigstens anders, und gewiß in einer ihm sympathischern Art. Plötzlich
fuhr ihm die Frage durch den Kopf, was er wohl täte, wenn Anna ihn
hinterginge. Anna, ihn?!… War das überhaupt möglich? Er dachte an den
Blick von heut Abend, den neugierig dunkeln, den sie hinüber zu Demeter
Stanzides gesandt hatte. Nein, der bedeutete nichts, das war gewiß. Und die
alten Geschichten mit Leo und dem Gesangsmeister? Die waren harmlos,
kindisch beinah. Aber etwas anderes, vielleicht bedeutungsvolleres, fiel ihm
ein. Einer seltsamen Frage erinnerte er sich, die sie an ihn gestellt, als sie sich
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik