Seite - 176 - in Der Weg ins Freie
Bild der Seite - 176 -
Text der Seite - 176 -
Alle waren einverstanden. Georg eilte rasch aufs Zimmer, um Umhüllen zu
holen. Als er wieder herunterkam, fand er die andern bereit zum Fortgehen an
der Tür des Parks stehen. Er half Anna in ihren hellgrauen Mantel, hing
Therese seinen eigenen, langen Überzieher um die Schultern und behielt
einen dunkelgrünen Plaid über dem Arm. Sie gingen langsam durch die Allee,
bis zu der Stelle, wo Kähne verankert lagen. Zwei Schiffer führten die
Gesellschaft mit raschen Ruderschlägen aus der Dunkelheit des Ufers in das
schwärzlich glänzende Wasser hinaus. Unnatürlich riesenhaft ragten die
Berge zum Himmel auf. Die Sterne waren nicht sehr zahlreich. Kleine,
graublaue Wölkchen hingen in der Luft. Die Ruderer saßen auf zwei
quergelegten Brettern; in der Mitte des Kahns auf schmalen Bänken, einander
gegenüber, die beiden Paare: Georg und Anna, Demeter und Therese. Alle
waren zuerst ganz schweigsam. Erst nach einigen Minuten unterbrach Georg
die Stille. Er nannte den Namen des Berges, der den See nach Süden
abschloß, machte auf ein Dorf aufmerksam, das wie in unendlicher
Entfernung an einer Felsenlehne ruhte und doch in einer Viertelstunde zu
erreichen wäre; erkannte das weiße, leuchtende Haus auf der Höhe über
Lugano als das Hotel, in dem Demeter und Therese wohnten, und erzählte
von einem Spaziergang, den er neulich unternommen, zwischen besonnten
Weinbergen weit ins Land hinein.
Anna hielt unter dem Plaid, während er sprach, seine Hand gefaßt. Demeter
und Therese saßen ernst und korrekt nebeneinander, gar nicht wie
Liebesleute, die einander erst vor kurzem gefunden haben. Nun erst gewann
Georg für Therese allmählich seine Neigung zurück, die während ihres lauten,
heftigen Redens beinahe geschwunden war.
Wie lang wird diese Geschichte mit Demeter währen? dachte er. Wird sie
zu Ende sein, wenn der Herbst da ist, oder wird sie am Ende so lange oder
länger dauern, als meine mit Anna? Wird diese Fahrt auf dem dunkeln See
auch einmal eine Erinnerung an vollkommen Entschwundenes sein, so wie
die Fahrt auf dem Veldeser See mit dem Bauernmädel, die mir jetzt seit
Jahren zum erstenmal wieder einfällt… wie die Reise mit Grace übers Meer?
Wie seltsam. Anna hält meine Hand, ich drücke sie, und wer weiß, ob sie
nicht in diesem Augenblick ganz ähnliches in Hinsicht auf Demeter
empfindet, wie ich in Hinsicht auf Therese? Nein, doch nicht… sie trägt ein
Kind unter ihrem Herzen, das sich sogar schon regt… Deswegen… ach
Gott… Auch mein Kind ist es ja… Nun fährt unser Kind auf dem See von
Lugano spazieren… Werd ich es ihm einmal erzählen, daß es vor seiner
Geburt auf dem See von Lugano herumgefahren ist… ? Wie wird das alles
nun werden? In wenigen Tagen ist man wieder in Wien. Existiert denn dieses
Wien überhaupt? Es ersteht erst langsam wieder, während wir zurückfahren…
Ja, so ist es… Sobald ich zu Hause bin, wird ernstlich gearbeitet. Ich werde
176
zurück zum
Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik