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kleine, im schmalen Talgrund länglich hingebreitete Ortschaft freilag. Er sah
von hier gerade auf das Dach, unter dem Anna wohnte, ließ seine milde
Sehnsucht nach der Geliebten, der er so nahe war, mit Willen allmählich
lebhafter werden, bis er hinabeilte, die kleine Türe aufschloß und über den
Kies mitten durch den Garten zum Haus hinunterschritt. Oft, in schwüleren
Nachmittagsstunden, wenn Anna noch schlief, setzte er sich in der gedeckten
Holzveranda, die längs der Rückseite des Hauses hinlief, auf einen bequemen,
mit geblümtem Kattun überzogenen Lehnstuhl, nahm ein mitgenommenes
Buch aus der Tasche und las. Dann, in einfach-sauberm, dunkeln Kleid, trat
aus dem dämmrigen Innenraum Frau Golowski und stattete mit leiser, etwas
wehmütiger Stimme, einen Zug mütterlicher Güte um den Mund, von Annas
Befinden Bericht ab, insbesondere, ob sie mit Appetit gegessen hatte und ob
sie fleißig im Garten auf und ab gegangen war. Wenn sie geendet, hatte sie
immer in Küche oder Haus etwas Notwendiges zu besorgen und verschwand.
Dann, während Georg weiterlas, kam wohl auch eine trächtige
Bernhardinerhündin herbei, die Leuten in der Nachbarschaft gehörte,
begrüßte Georg mit tränenvoll-ernsten Augen, ließ sich von ihm das
kurzhaarige Fell streicheln und streckte sich dankbar zu seinen Füßen hin.
Später, wenn ein gewisser, strenger, dem Tiere wohlbekannter Pfiff ertönte,
erhob es sich, mit der Schwerfälligkeit seines Zustands, schien sich durch
einen schwermütigen Blick zu entschuldigen, daß es nicht länger bleiben
durfte, und schlich davon. Im Garten daneben lachten und lärmten Kinder, ein
und das andermal hüpfte ein Gummiball herüber, an der niedern Hecke
erschien ein blasses Kindermädchen und bat schüchtern, man möge ihn
wieder zurückschleudern. Endlich, wenn es kühler wurde, zeigte sich am
Fenster, das auf die Veranda ging, Annas Antlitz, ihre stillen, blauen Augen
grüßten Georg, und bald, in leichtem, hellen Hauskleid, trat sie selbst heraus.
Nun spazierten sie im Garten auf und ab längs der abgeblühten Fliederbüsche
und treibender Johannisbeerstauden, meist auf der linken Seite, an die die
freie Wiese grenzte, und ruhten sich auf der weißen Bank nah dem obern
Gartenende unter dem Birnbaum aus. Erst wenn das Abendessen aufgetragen
wurde, erschien Frau Golowski wieder, nahm bescheiden ihren Platz am
Tische ein und erzählte auf Befragen allerlei von den Ihrigen; von Therese,
die nun in die Redaktion eines sozialistischen Blattes eingetreten war, von
Leo, der dienstlich jetzt weniger beschäftigt als früher, mathematischen
Studien emsig oblag und von ihrem Gatten, dem sich, während er in einer
rauchigen Kaffeehausecke den Schachkämpfen unermüdlicher Spieler mit
Hingebung zuschaute, immer neue Hoffnungen regelmäßigen Erwerbs
eröffneten und gleich wieder verschlossen. Nur selten kam Frau Rosner zu
Besuch und entfernte sich meist bald nach Georgs Erscheinen. Einmal an
einem Sonntagnachmittag war auch der Vater hier gewesen und hatte mit
Georg eine Unterhaltung über Wetter und Landschaft geführt, als wäre man
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik