Seite - 194 - in Der Weg ins Freie
Bild der Seite - 194 -
Text der Seite - 194 -
Villenweg, der an dieser Stelle das Tal durchquerend nach abwärts bog. In
wenigen Minuten befand er sich auf der Straße, an deren Ende waldesnah,
neben bescheidenen, gelben Parterrehäuschen, nur durch die Balkonmansarde
mit dem dreieckigen Holzgiebel über jene erhöht, die kleine Villa stand, in
der Anna wohnte. Er durchschritt das Vorgärtchen, wo inmitten des Rasens
zwischen Blumenbeeten, auf viereckigem Postament, der kleine blaue
Tonengel ihn grüßte; den schmalen Gang, neben dem die Küche lag, das
kahle Mittelzimmer, auf dessen Boden durch die schadhaften grünen
Jalousien Sonnenlinien hinspielten, und trat auf die Veranda. Er wandte sich
nach links und warf einen Blick durchs offne Fenster in Annas Zimmer, das er
leer fand. Nun ging er im Garten längs der Fliederbüsche und
Johannisbeerstauden nach aufwärts, und schon von weitem sah er Anna unter
dem Birnbaum auf der weißen Bank sitzen, in ihrem weiten blauen Kleide.
Sie sah ihn nicht kommen, schien ganz in Gedanken versunken. Er näherte
sich langsam. Noch immer blickte sie nicht auf. Er liebte sie sehr in solchen
Augenblicken, da sie sich unbeobachtet wähnte und auf ihrer klaren Stirn
unbeirrt die Gütigkeit und der Friede ihres Wesens ruhten. Sonnenkringel
zitterten auf dem Kies zu ihren Füßen. Ihr gegenüber, auf dem Rasen, lag
schlafend die fremde Bernhardinerhündin. Das Tier war es, das, erwachend,
Georgs Kommen zuerst bemerkte. Es erhob sich, und schwerfällig trappelte es
Georg entgegen. Jetzt sah Anna auf, und ein beglücktes Lächeln schwebte
über ihre Züge. Warum bin ich so selten da, fuhr es Georg durch den Sinn.
Warum wohn ich nicht heraußen und arbeite oben auf dem Balkon unter dem
Giebel, wo man die hübsche Aussicht auf den Sommerhaidenweg hat? Die
Stirne war ihm feucht geworden, so heiß brannte noch immer die
Spätnachmittagssonne.
Er stand vor Anna, küßte sie auf Aug’ und Mund und setzte sich an ihre
Seite. Das Tier war ihm nachgeschlichen und streckte sich zu seinen Füßen
hin.
»Wie gehts, mein Schatz?« fragte er, indem er seinen Arm um ihren
Nacken legte.
Es ging ihr sehr gut, wie gewöhnlich, und heute war ein besonders schöner
Tag gewesen. Seit dem Morgen schon war sie sich ganz selbst überlassen,
denn Frau Golowski hatte wieder einmal in die Stadt fahren müssen, um nach
den Ihren zu sehen. Es war wirklich nicht übel, manchmal so völlig allein mit
sich zu bleiben. Da konnte man sich ungestört in seine Träume versenken. Es
waren freilich immer dieselben, aber sie waren so hold, daß man ihrer nicht
müde wurde. Von ihrem Kinde hatte sie sich träumen lassen. Wie sehr liebte
sie es schon heute, noch ehe es geboren war. Nie hätte sie das für möglich
gehalten. Ob Georg es denn auch verstünde?… und da er versonnen nickte,
194
zurück zum
Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik