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andere. Es gab wirklich viel zu wenig Worte. Für den einen geht man in den
Tod, mit dem andern liegt man im Bett, – vielleicht noch in der Nacht, eh man
sich für den einen ertränkt. Und was beweist ein Selbstmord am Ende?
Vielleicht nur, daß man in irgendeinem Augenblick den Tod nicht recht
verstanden hat. Wie wenige versuchen es noch einmal, wenn es ihnen einmal
mißglückt ist. Das Gespräch mit Grace fiel ihm ein, an Labinskis Grab, das
glühend-kalte, an dem sonnigen Februartag im schmelzenden Schnee. In jener
Stunde hatte sie ihm gestanden, daß sie von keinem Grauen erfaßt worden
war, als sie Labinski erschossen vor ihrer Wohnungstür gefunden hatte. Und
als vor vielen Jahren ihre kleine Schwester gestorben war, hatte sie eine Nacht
lang am Totenbett gewacht, ohne auch nur eine Spur von dem zu empfinden,
was andere Menschen Grauen nannten. Aber etwas, das diesem Gefühle
ähnlich sein mochte, so erzählte sie Georg, hatte sie in der Umarmung von
Männern kennen gelernt. Zuerst war ihr das selbst rätselhaft gewesen, später
glaubte sie es zu verstehen. Sie war nach der Aussage von Ärzten zur
Unfruchtbarkeit bestimmt, und darum mußte es wohl geschehen, daß der
Augenblick der höchsten Lust, durch dieses Verhängnis gleichsam sinnlos
geworden, ihr wie in ahnungsvollen Schauder versank. Dies war Georg
damals wie ein affektiertes Gerede erschienen, heute zum erstenmal spürte er
einen Hauch von Wahrheit darin. Sie war ein seltsames Geschöpf gewesen.
Ob ihm noch einmal ein Wesen solcher Art begegnen würde? Warum nicht?
Am Ende bald. Nun fing ja eine neue Epoche seines Lebens an, und irgendwo
wartete vielleicht schon das nächste Abenteuer. Abenteuer… ? Durfte er
daran noch denken… ? Hatte er von heute an nicht ernstere Verpflichtungen
als je? Liebte er Anna nicht mehr, als je zuvor… ? Das Kind war tot… Aber
das nächste würde leben… ! Heinrich hatte wahr gesprochen: Anna war dazu
bestimmt, Mutter zu werden. Mutter… Aber, dachte er fröstelnd, ist sie denn
auch bestimmt, Mutter meiner Kinder zu werden?… Der Wagen hielt. Georg
stieg aus, ging die zwei Treppen hinauf in seine Wohnung. Felician war noch
nicht zu Hause. Wer weiß, wann er kommt? dachte Georg. Ich kann ihn nicht
erwarten, ich bin zu müd. Er entkleidete sich rasch, sank ins Bett, und tiefer
Schlaf nahm ihn auf.
Als er erwachte, suchten seine Augen durchs Fenster, wie er es nun seit
Tagen gewohnt war, eine weiße Linie, zwischen Wald und Wiesen: den
Sommerhaidenweg. Er sah aber nur einen bläulichen, leeren Himmel, in den
eine Turmspitze sich bohrte, mit einemmal wußte er, daß er zu Hause war,
und alles, was er gestern erlebt hatte, fiel ihm ein. Doch fühlte er Leib und
Seele morgenfrisch, und ihm war, als hätte er außer dem Traurigen, das
geschehen war, sich auch irgendeiner günstigen Sache zu entsinnen. Ach ja.
Das Telegramm aus Detmold… War das denn etwas so Günstiges? Gestern
Abend hatte er es nicht so empfunden.
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik