Seite - 296 - in Der Weg ins Freie
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»Es geht ihm doch besser?«
»Nein, es geht ihm gar nicht gut. Er ist so schwach. Man würde mir
natürlich keinen direkten Vorwurf machen. Aber ich… ich kann die Mutter
jetzt nicht allein lassen, wegen so eines Ausfluges.«
Er zuckte die Achseln, ein wenig verletzt über die Bezeichnung, die sie
gewählt hatte.
»Und sag einmal aufrichtig«, fügte sie wie scherzend hinzu, »liegt dir denn
gar so viel dran?«
Er schüttelte den Kopf, schmerzlich beinahe. Aber er fühlte, daß auch diese
Geste der Aufrichtigkeit entbehrte. »Ich versteh dich nicht, Anna«, sagte er
schwächer, als er gewünscht hätte. »Daß so ein paar Wochen des Fern-
voneinander-seins, daß die… Ja ich weiß gar nicht, wie ich’s nennen soll…
Es ist ja, als hätte man sich verloren. Ich bin’s doch, Anna, ich bin’s doch… «,
wiederholte er heftig aber müd. Er saß auf dem Sessel vor dem Pianino. Er
nahm ihre Hände, führte sie an die Lippen, zerstreut und ein wenig erregt.
»Wie war’s denn in Tristan?« fragte sie.
Beflissen berichtete er von der Vorstellung, verschwieg auch seinen Besuch
in der Ehrenbergschen Loge nicht, sprach von all den andern Menschen, die
er gesehen, und bestellte ihr die Grüße von Heinrich Bermann. Dann zog er
sie zu sich auf die Knie und küßte sie. Als er sein Antlitz von dem ihren
entfernte, sah er Tränen über ihre Wangen rinnen. Er spielte den Befremdeten.
»Was hast du denn, Kind… ? Ja warum denn, warum… «
Sie erhob sich, trat zum Fenster, das Gesicht von ihm abgewandt. Nun
stand er auf, etwas ungeduldig, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, trat
endlich zu ihr, drängte sich nah an sie und begann wieder, unvermittelt,
hastig: »Anna! Überleg dir’s, ob du nicht doch mit mir fahren könntest! Es
wäre alles so anders, als hier. Man könnte sich aussprechen. Wir haben über
so wichtige Dinge zu reden. Ich brauch ja auch deinen Rat; wegen meiner
Entschlüsse für das nächste Jahr. Ich hab dir ja geschrieben, nicht wahr? Es ist
also sehr wahrscheinlich, daß man mir schon in den nächsten Tagen einen
dreijährigen Vertrag zur Unterschrift vorlegen wird.«
»Was soll man da raten?« sagte sie. »Du wirst schließlich am besten
wissen, ob du dich dort wohlfühlst, oder nicht.«
Er begann zu erzählen, von dem liebenswürdigen und begabten
Intendanten, der ihn offenbar als Mitarbeiter heranzuziehen wünschte, von
dem sympathischen, alten Kapellmeister, der einmal so berühmt gewesen war,
von irgendeinem sehr klein geratenen Bühnenarbeiter, den man Alexander
den Großen nannte, von einer jungen Dame, mit der er die Micaela studiert
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik