Liberalismus#
Die freiheitliche und fortschrittsgläubige Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung des Liberalismus wurzelt im Zeitalter der Aufklärung und war gegen Absolutismus und geistige Bevormundung gerichtet. Sie ging von der Überzeugung aus, dass der Mensch kraft seiner Vernunft ein autonomes Wesen sei und dass ein auf allen Feldern der menschlichen Existenz den Regeln des Marktmechanismus und des Wettbewerbs gehorchendes, dem Fortschritt verpflichtetes Zusammenleben der mündigen Bürger sowohl dem Interesse des Einzelnen als auch der Gesamtheit am förderlichsten sei. Ihre Vorkämpfer waren im 19. Jahrhundert die Träger des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaats, der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung und der Idee von der Freiheit und prinzipiellen Grenzenlosigkeit von Wissenschaft und Kunst. Die Liberalen vertraten in erster Linie das gehobene und reichere Wirtschaftsbürgertum und gewisse Kreise der Intellektuellen (freie Berufe oder auch Teile der Beamtenschaft), bekämpften die sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Schranken und verfügten über eine mächtige Presse. Im Vormärz konnte sich liberales Gedankengut nur im kleinen Kreise artikulieren, doch ab der Revolution 1848 verstummten liberale und demokratische Tendenzen in der politischen Landschaft Österreichs nicht mehr. Nachdem der "deutschliberale" Staatsminister Anton von Schmerling und sein Ministerium (1860-65) 1861 durch das der liberalen Ideologie entgegenkommende Februarpatent eine zentralistisch-konstitutionelle Verfassung geschaffen hatten, begann die eigentliche liberale Ära in Österreich. Aber von Anfang an traten innerhalb der Liberalen verschiedene politische Richtungen auf, so der "Bürgerklub", der "Deutschdemokratische Verein", die "Großösterreicher" (E. A. Mühlfeld), die "Unionisten" (E. Herbst), oder die steirischen "Autonomisten" (M. Kaiserfeld). Einig waren sie sich im Kampf gegen die Vorherrschaft von Adel und Geistlichkeit (Klerikale), gegen die föderalistischen Bestrebungen der slawischen Nationalitäten, in ihrem Wirtschaftskonzept ("freie" Wirtschaft) und im Versuch, die freiheitlichen und konstitutionellen Grundlagen des Staats (Rechtsstaat, Verfassung, Gewaltenteilung, unabhängige Gerichtsbarkeit, sanktionierte Grund- und Freiheitsrechte) auszubauen und zu sichern. Nach dem Ausgleich mit Ungarn und der Verabschiedung der maßgeblich von ihnen gestalteten Dezemberverfassung wurden die Liberalen die herrschende Partei in der österreichischen Reichshälfte und stützten das Bürgerministerium (1868-70) mit den liberalen Ministern K. Giskra, E. Herbst, J. N. Berger, R. Brestel, L. Hasner von Artha und I. Plener und das Ministerium des Fürsten A. Auersperg (1871-78/79) mit den Ministern J. von Lasser, J. Glaser, K. von Stremayer, A. Freiherr von Banhans, J. Unger und andere. Diese Jahre stellten die Hochblüte des Liberalismus dar, besonders gekennzeichnet durch eine rege Bautätigkeit (Gründerzeit). Fabriken, Industrieanlagen, Eisenbahnen und zahlreiche andere Unternehmungen wurden errichtet, ebenso Banken, Baugesellschaften, Versicherungen usw. In diesem Zusammenhang begann eine bedeutende soziale und lokale Umschichtung vor allem in den Großstädten. Die Liberalen standen jedem kirchlichen Anspruch auf Volksbildung und -führung feindlich gegenüber und drängten die katholische Kirche in eine Verteidigungsstellung. Zu ihren größten Erfolgen zählten die kirchenpolitischen Gesetze von 1868 und 1874 (Ehegesetz, Schulgesetz, interkonfessionelles Gesetz: Maigesetze), das Reichsvolksschulgesetz (1869), die Aufhebung (1870) des Konkordats von 1855 und die Wahlreform von 1873. Ungelöst blieb die Nationalitätenfrage; auf die sozialen Probleme dieser Zeit wussten die Liberalen ebenfalls keine zufriedenstellenden Antworten. Bald kamen aber innerhalb des Liberalismus die gegensätzlichen Strömungen wieder zum Tragen. Die steirischen Autonomisten traten für die Loslösung von Galizien, Bukowina und Dalmatien von Österreich ein, um das Übergewicht der deutschsprachigen (deutschnationalen) Abgeordneten in der österreichischen Reichshälfte zu sichern. Die nach der Wahlreform von 1873 durchgeführte Wahl, die erste, in der direkt für den Reichsrat gewählt wurde, brachte den Deutschliberalen starke Stimmenverluste. Entscheidend waren die Rückschläge ihrer Wirtschaftspolitik gewesen, die im Börsenkrach von 1873 ihren Höhepunkt fand. Bei den Wahlen von 1879 verloren die Liberalen die Mehrheit im Abgeordnetenhaus; sie traten in Opposition zum Ministerium Taaffe. Nach dem Rücktritt E. Taaffes bildete die Vereinigte Linke mit dem konservativen Hohenwart-Klub und den Polen vorübergehend eine Koalition und unterstützte das Ministerium Windisch-Graetz (1893-95). Bei den Wahlen von 1897 erlitten die Deutschliberalen einen schweren Misserfolg. Gegen die christlichsoziale Bewegung und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung blieben sie auf Dauer erfolglos. Der parteipolitische Liberalismus mutierte darüber hinaus immer stärker (wenn auch von Fraktion zu Fraktion in unterschiedlichem Ausmaß) in Richtung der deutschnationalen Bewegung; in ihr ging schließlich auch die Fortschrittspartei als letzte Nachfolgerin der liberalen Gruppen auf. Der 1910 gegründete "Deutsche Nationalverband" vereinigte alle "deutsch-freiheitlichen" und liberalen parlamentarischen Gruppen des 1907 auf Basis des allgemeinen, gleichen Männerwahlrechts zusammengesetzten österreichischen Parlaments. In den Landtagen und vor allem in den Gemeindestuben (die nach einem eingeschränkten Kurienwahlrecht beschickt wurden) konnte der parteipolitische Liberalismus seine dominierende Stellungen viel länger behaupten, zum Teil sogar bis 1918. Dazu kommt, dass unterschiedliche Teile des liberalen Gedankenguts auch in die Programme der anderen Parteien Eingang gefunden hatten, so dass alle 3 politischen Lager, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts bildeten, nicht zu Unrecht von sich behaupten konnten, das Erbe des Liberalismus - wenn auch in je spezifischer Weise - angetreten zu haben. Versucht man eine Gesamtwürdigung des Phänomens Liberalismus in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, so ist neben dem Niedergang des parteiförmig organisierten Liberalismus auf die weitgehende Durchsetzung der rechtlich-institutionellen Errungenschaften des Liberalismus hinzuweisen, die in der Zwischenkriegszeit zwar von einer illiberalen Grundströmung in den Hintergrund gedrängt wurden, die aber in der 2. Republik als allgemein anerkannte Basis einer "civil society" gelten. Im Bereich des kulturellen Liberalismus hatte das Aufbrechen von geistigen Engführungen einen beachtlichen Aufschwung von Wissenschaft und Kunst zur Folge, der im "Wien um 1900" (aber nicht nur in Wien) zu einem bis in die 30er Jahre andauernden und erst dann gewaltsam abgebrochenen Höhepunkt mitteleuropäischen Denkens und Kunstschaffens führte.
In der 1. und 2. Republik wirkten Traditionen des Liberalismus in wirtschaftlicher Hinsicht eher bei den Christlichsozialen bzw. der ÖVP, in politischer Hinsicht bei den Sozialdemokraten und Grünen fort. In parteipolitischer Hinsicht übernahmen in der 1. Republik die Großdeutsche Volkspartei und der Landbund das Erbe der Liberalen. Nach 1945 reklamierten der Verband der Unabhängigen (VdU), dann durch lange Zeit dessen Nachfolgeorganisation, die FPÖ, liberale Tendenzen für sich, wenngleich diese dort stets in einem Spannungsverhältnis zum deutschnationalen Gedankengut standen. Die Hinwendung zu einem rechten Populismus seitens der FPÖ führte 1993 schließlich zur Abspaltung des Liberalen Forums, einer dezidiert den liberalen Werten aller Schattierungen verpflichteten Gruppierung.
Literatur#
K. Eder, Der Liberalismus in Alt-Österreich, 1955
G. Franz, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der habsburgischen Monarchie, 1955
J. Vesely, Der Niedergang des deutschen Liberalismus in Österreich und seine Ursachen, Dissertation, Wien 1959
D. Harrington-Müller, Der Fortschrittsklub im Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrats 1873-1910, 1972
K. Vocelka, Verfassung oder Konkordat, 1978
W. Wadl, Liberalismus und soziale Frage in Österreich, 1987
L. Kammerhofer, Studien zum Deutschliberalismus in Zisleithanien 1873-79, 1992
L. Höbelt, Kornblume und Kaiseradler, 1993
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