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Maly Trostinez#

Denkmal für die Opfer von Maly Trostinez
Denkmal für die Opfer von Maly Trostinez.
Foto: Homoatrox. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

Das Vernichtungslager Maly Trostinez befand sich etwa zwölf Kilometer südöstlich von Minsk in einer abgelegenen, ländlichen Gegend und unterstand dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) für Weißrussland.

Am 28. Juni 1941 war die deutsche Wehrmacht in Minsk einmarschiert. Zwischen 1942 und 1944 wurden in Maly Trostinez 40.000 bis 60.000 Menschen ermordet, weit überwiegend Juden. Viele davon kamen aus Österreich.

Sofort nach dem Angriff der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) setzte in den eroberten sowjetischen Gebieten die systematische Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung ein. Dieser Gewalteskalation fielen auch die Juden und Jüdinnen aus West- und Mitteleuropa, die ab Herbst 1941 in das "Reichskommissariat Ostland" deportiert wurden, zum Opfer. Das "Reichskommissariat Ostland" war eine im Juli 1941 gebildete Verwaltungseinheit des Deutschen Reichs, die die früheren baltischen Staaten sowie den größten Teil des westlichen Weißrussland umfasste. Nahezu 15.000 jüdische Österreicherinnen kamen dort in Ghettos und Vernichtungsstätten ums Leben. Eine zentrale Hinrichtungsstätte war Maly Trostinec bei Minsk (Weißrussland): Zwischen Mai und Oktober 1942 trafen insgesamt 16 Deportationszüge aus Wien, Königsberg, Theresienstadt und Köln in Minsk ein. Entsprechend einer Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich wurden die Deportierten bis auf wenige Ausnahmen nach der Ankunft ermordet. Ort der Massenexekutionen war das Waldgebiet von Blagowschtschina, unweit des Zwangsarbeitslagers Maly Trostinec, einer ehemaligen Kolchose, die der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Weißruthenien (KdS) im April 1942 übernommen hatte. Von den 1942 knapp unter 8700 nach Maly Trostinec verschleppten österreichischen Juden und Jüdinnen - rund 8500 aus Wien Deportierte, dazu kamen 136 jüdische Österreicherlnnen, die mit den Transporten aus dem Ghetto Theresienstadt nach Maly Trostinec überstellt wurden - sind nur 17 Überlebende bekannt. Auch viele der 1000 bereits am 28. November 1941 von Wien in das Ghetto Minsk deportierten Männer, Frauen und Kinder wurden vermutlich bei Maly Trostinec getötet (von ihnen sind drei Überlebende bekannt).

Die Ende November 1941 wegen Transportproblemen der Wehrmacht abgebrochenen Deportationen nach Minsk wurden in Wien am 6. Mai 1942 wieder aufgenommen (weitere Transporte sollten am 20. und 27. Mai, 2. und 9. Juni, 17. und 31. August, 14. September sowie 5. Oktober 1942 folgen). Nach zweitägiger Fahrt wurden die rund 1000 Menschen, die am 6. Mai verschleppt wurden, in Wolkowitz (Wolkowysk/Waukawysk, Weißrussland) in Viehwaggons umwaggoniert, in Kojdanow (Dsjarschynsk/Dserschinsk, circa 40 km von Minsk entfernt) wurden am 9. Mai die ersten Toten aus dem Zug geholt. Dort blieben die versiegelten Waggons fast zwei volle Tage lang stehen...

Der Ablauf nach dem Eintreffen auf dem Minsker Güterbahnhof - bzw. ab August 1942 näher bei Maly Trostinec, in Kolodisze - folgte einem gleich bleibenden Schema, wobei in der Regel einschließlich der Schutzpolizisten und Waffen-SS-Angehörigen 80 bis 100 Mann zum Einsatz kamen. Nach der Ausladung wurden die Deportierten zu einem nahe gelegenen Sammelplatz getrieben, wo ihnen Geld-und Wertsachen abgenommen wurden. Hier wurden von Angehörigen der Dienststelle des KdS auch jene wenigen Personen - beim ersten Transport rund 80, später pro Transport zwischen 20 und 50 -ausgewählt, die in das Zwangsarbeitslager Maly Trostinec eingewiesen werden sollten. Alle anderen wurden auf Lastkraftwagen nach Blagowschtschina zu den bereits vorbereiteten Gruben gefahren...

Die Deportierten der ersten Transporte wurden an den Gruben durch Genickschuss getötet, etwa ab Anfang Juni 1942 wurden auch „Gaswagen“ eingesetzt.

Die zur Zwangsarbeit ausgewählten Häftlinge wurden zum Aufbau des Lagers und in der Landwirtschaft eingesetzt, mussten aber auch das Gepäck der ermordeten Juden und Jüdinnen sortieren und wurden zur Reinigung der Gaswagen abkommandiert. Drakonische Strafen, Misshandlungen und Morde bestimmten den Lageralltag...

Um die Spuren der Verbrechen zu verwischen, wurden vom Oktober bis Dezember 1943 unter Aufsicht des Sonderkommandos 1005-Mitte die Massengräber in Blagowschtschina geöffnet und die Leichen verbrannt. Die weißrussischen Häftlinge, die diese Arbeiten ausführen mussten, wurden Mitte Dezember 1943 getötet. Auch weil es immer wieder zu Angriffen durch Partisanen kam, wurden die Exekutionen 1944 in unmittelbarer Nähe von Maly Trostinec - im Wald von Schasch-kowa - durchgeführt.

Die letzten Tötungsaktionen in Maly Trostinec fanden vom 28. bis 30. Juni 1944 statt.

Was bleibt

Für nahezu alle der nach Maly Trostinec verschleppten österreichischen Juden und Jüdinnen gilt, dass die Einträge in den Deportationslisten die letzten verbliebenen Spuren sind, beim überwiegenden Teil auch die einzigen. Scans dieser Transportlisten aus Wien sind in die DÖW-Daten-bank (DB) Shoah-Opfer integriert.

Ein weiterer geschlossener Aktenbestand stammt aus der Magistratsabteilung 52 und dokumentiert die Kündigungsaktion der nationalsozialistischen Wiener Stadtverwaltung gegen jüdische Mieterinnen von Gemeindebauten (Sommer 1938), von der auch mehrere später nach Maly Trostinec deportierte Familien betroffen waren. Herbert Exenberger, Johann Koß und Brigitte Ungar-Klein haben diese Unterlagen in den 1990er-Jahren für ihre Publikation Kündigungsgrund Nichtarier Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938-1939 (Wien 1996) aufgearbeitet. Scans der Dokumente sind für Besucherinnen im Intranet des DÖW abrufbar (DB Gemeindebauten), einige Fallbeispiele sind in der Web-Auswahl enthalten. Einen (bruchstückhaften) Einblick in den Alltag vor der Deportation nach Maly Trostinec, in Hoffnungen und Ängste, (vergebliche) Ausreisebemühungen, finanzielle Schwierigkeiten u. Ä. lassen einige private Briefe zu, die im DÖW aufliegen.

Ebenfalls im DÖW archiviert sind Dokumente wie Anzeigen, Gerichtsurteile oder Bilder aus der Erkennungsdienstlichen Kartei der Gestapo Wien, die spätere Opfer der Deportationen nach Maly Trostinec betreffen. Sie zeugen von Fluchtversuchen, vom Abtauchen in den Untergrund, vom Aufbegehren gegen die Sonderbestimmungen für Juden und Jüdinnen ebenso wie von der Verfolgung wegen „Rundfunkverbrechen44, Vergehen nach dem „Heimtückegesetz44 und anderen „Delikten.

Quelle: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Folge 231, Juni 2017 (Auszug)

Essay#

Im Wald der Toten#

An keinem anderen Ort wurden mehr österreichische Juden ermordet als im weißrussischen Maly Trostinez. Jedes Jahr pilgern Angehörige in den Wald, in dem ihre Familien umgebracht wurden.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 2./3. August 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Solmaz Khorsand


Mit Schildern an Stämmen wird die Erinnerung an die Opfer wachgehalten
Auf diese Weise - mit Schildern an Stämmen - wird die Erinnerung an die Opfer wachgehalten.
© Khorsand

Jede Stadt hat einen Ort, den ihre Bewohner meiden. Fast so als bringe es Unglück, wenn man nur seinen Namen ausspricht. In Minsk liegt dieser Ort im Südosten der Stadt, 12 Kilometer entfernt vom schmucken aufgeräumten Zentrum. Einst war der Ort ein eigenes Dorf. Heute ist er Teil der weißrussischen Hauptstadt. "Maly Trostinez, was willst du dort?", fragen die Einheimischen misstrauisch. "Dort gibt es nichts", sagen sie. Plattenbauten. Ein Friedhof. Eine stillgelegte Mülldeponie. Und ein paar arbeitslose Halbstarke, die einen schon einmal anpöbeln, wenn ihnen langweilig ist.

Und es gibt dieses verlassene Waldstück. Eine kleine grüne Oase mitten im Nirgendwo. Blühende Wiesen. Dichte Baumkronen. Idylle pur. Blagowtschina nennen es die Weißrussen. Es bedeutet "Wohlfühlort". Hier an diesem Wohlfühlort haben die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs Tausende Menschen ermordet. Per Genickschuss oder im Gaswagen. Und sie dann in 34 Gruben im ganzen Wald verscharrt.

Nur 17 Überlebende#

Langsam wandert Edna Magder den Schotterweg zur Waldlichtung. Die 73-Jährige muss vorsichtig sein. Am Vortag hat es geregnet und der Weg ist matschig. Magder sieht sich um. Saftiges Grün überall. "Asche ist eben der beste Dünger", sagt sie nüchtern.

Dann steht die kleine rüstige Frau bei der Lichtung. Hier wurde ihre Großmutter ermordet. In einer Grube in diesem Wald. Theresia Hanni Brody, geborene Löwy, die Witwe eines hochrangigen Offiziers aus dem Ersten Weltkrieg. Deportiert am 14. 9. 1942 aus Wien nach Minsk. Ermordet vier Tage später in Maly Trostinez. 13.500 Österreicher wurden in der Blagowtschina getötet. Nur 17 Menschen überlebten.

"Hier wurden die meisten Österreicher als Opfer der Shoa von den Nazis umgebracht", sagt Waltraud Barton, "deswegen ist dieser Ort für Österreich sogar wichtiger als Auschwitz." Immer wieder wird die große blonde Frau diesen Satz wiederholen. Barton hat 2009 den Verein "Initiative Malvine - Maly Trostinec erinnern (IM-MER)" gegründet. Sie soll an die österreichischen Opfer in Maly Trostinez erinnern.

Anfangs wollte die 55-jährige Mediatorin nur ihre eigene Familiengeschichte aufarbeiten: Die Biografie der ersten Frau ihres Großvaters, Malvine Barton, einer Jüdin, von der sich ihr christlicher Großvater hat scheiden lassen, und die 1942 nach Maly Trostinez deportiert wurde. Es war das große Tabu ihrer Familie. Barton forschte weiter. Sie wollte wissen, was es mit dem Familienbaum ihrer Mutter auf sich hatte. Großmutter, Großvater, Tante: Alle gestorben 1942. Mehr stand dort nicht. Irgendwann fand sie - aufgewachsen in einer protestantischen Familie - heraus, dass ihre Verwandten Juden waren. Und nicht irgendwie gestorben waren.

Seit vier Jahren pilgert Barton in das verlassene Waldstück nach Minsk. Und seit vier Jahren begleitet sie eine Delegation. Es sind Angehörige und Interessierte. Jene, deren Familien in diesen Gruben ermordet wurden. Und jene, deren Familien daran beteiligt waren, dass es so weit kommen konnte. Fünf Tage lang wird Barton mit ihnen durch dieses wilde Weißrussland reisen, dessen Sprache sie nicht sprechen. Und wo keiner versteht, was diese Männer und Frauen dazu treibt, ausgerechnet jene Orte zu besuchen, deren Vorstellung immer mit dem Satz endet: "Und hier hat man sie dann ermordet."

Erster Zug aus Wien#

Es ist Dienstagvormittag. Die Sonne scheint. Die Vögel zwitschern. Aufmerksam lauscht die Gruppe ihrer weißrussischen Reiseleiterin. Wie sie vom ersten Zug erzählt, der am 28. November 1941 aus Wien hier ankam. Neun weitere Züge sollten folgen. Rund 1000 Personen waren es pro Transport. Drei Tage hat ihre Reise von Wien nach Minsk gedauert. Die deutsche Reichsbahn hat exakt gearbeitet. Fiel die Ankunft eines Zuges auf einen Samstag, stand er zwei Tage lang auf den Gleisen, bis er schließlich am Montag "entladen" wurde.

Anfangs kamen die Züge noch in Minsk an. Die Menschen wurden dann auf Lastwägen nach Maly Trostinez gebracht. Im August 1942 hat man dann die Gleise verlängert. Und die Züge kamen direkt ins Vernichtungslager. Raus aus dem Zug, rein in die Grube.

Stoisch hört Edna Magder zu. Sie ist Veteranin, wenn es um solche Geschichten geht. Der Holocaust ist Teil ihres Lebens. Er war immer da. Bei jedem Geburtstag, jedem Abendessen. Bei jeder Verabredung ihrer Tochter, die sie nach Hause brachte. Immer saßen Hitler und seine Schergen mit am Tisch. Das war ihr Alltag. Das ist ihr Alltag. Geboren und aufgewachsen in Israel, lebt Edna Magder mit ihrem Mann heute in Toronto, Kanada. Oft war die Psychologin in Wien, seit 1986 immer öfter. Damals ist ihre Mutter gestorben, die Frau, die nie wieder einen Fuß nach Wien setzen wollte. Erst seit dem Tod ihrer Mutter hat Edna Magder sich intensiver mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt. In Wien hat sie ihre Tage in Archiven verbracht. Sie wollte alles herausfinden über das Leben ihrer Großmutter. In welcher Straße sie gewohnt hat, in welchem Haus, mit welchen Nachbarn. Und wann sie deportiert wurde. Nun steht sie hier gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter in diesem Wald. "Ich will das Puzzle endlich lösen", sagt sie. "Das schulde ich meiner Großmutter. Und auch meine Mutter hätte das gewollt."

Es ist 11 Uhr. Die Reiseleiterin ist fertig mit ihren Ausführungen. Es ist Zeit für die Trauerfeier. Die Anwesenden kramen gelbe Schilder hervor. Es sind Schilder mit den Namen jener Menschen, die sie hier verloren haben. Jeder liest seine Namen vor: das Geburtsdatum, den Tag der Deportation und den Tag der Erschießung.

Konzentriert hört Adolf Silberstein jedem Einzelnen zu. In der Hand hält er seine Schilder. "Eigentlich hätte ich hier dabei sein sollen", sagt der 78-Jährige ruhig. Fünf Jahre alt war er, als seine Mutter gemeinsam mit seinen Großeltern deportiert wurde. Er war nicht im Sammellager, als sie seine Familie abholten, er war im Krankenhaus. Eine Mittelohrentzündung hat ihm das Leben gerettet. "Dolfi" haben sie ihn früher immer genannt, seine Verwandten und auch die Kinder im Kinderheim, in dem er den Krieg überlebte. "Vielleicht hat mich mein Vorname gerettet", hat er am Vorabend beim gemeinsamen Abendessen noch lakonisch bemerkt.

Heute nennt ihn niemand mehr Dolfi. Silberstein schaut auf die Schilder seiner Familie. "Es geht mir gut", sagt er noch auf dem Weg zur Lichtung. Nun steht er dort. Vor ihm die Bäume. Die Stimme versagt ihm für einen Moment, wenn er die Namen seiner Verwandten vorlesen soll. "Ich weiß nicht, was da passiert ist, ich dachte immer, ich bin darüber erhaben", wird er später sagen, "es ist doch schon so lange her."

200 Schilder im Wald#

Zwei Stunden lang werden sie ihre Schilder aufhängen. Jeder versunken in seinen Gedanken. Die einen erleichtert, etwas abzuschließen, was sie zeit ihres Lebens zu Getriebenen gemacht hat. Die anderen mit Bedauern, dass sie nicht früh genug angefangen haben zu fragen, herauszufinden, was es mit der verschwundenen Großmutter auf sich hatte. Jetzt ist niemand mehr da, den man fragen kann. Nur mehr stumme Dokumente. Und ein kleiner Wald mit Namen. Mit ihren Namen.

Rastlos arbeiten die Männer und Frauen nebeneinander her. Die pensionierte Pharmazeutin, deren Mutter ihr immer nur in der dritten Person von den Bräuchen der Juden erzählt hat, um sie nicht in Gefahr zu bringen, falls "es" wieder passieren sollte; die Schauspielerin, die zum Judentum konvertiert ist, weil sie nie "in die Verlegenheit" kommen wollen würde, ihren Mann und ihre Familie verlassen zu können, um ihre eigene Haut zu retten, falls sich die Geschichte wiederholen sollte. Und die junge Frau, die mit dem Holocaust aufgewachsen ist, und sich immer die Frage stellt: Was hätte ich vor 70 Jahren getan? Hätte ich meine Familie beschützen können?

200 Schilder hängen heute in dem Wald. Einen offiziellen Grabstein für die österreichischen Opfer gibt es in nicht. Dabei haben Architekten längst einen fertigen Entwurf: Ein sechs Meter hoher Grabhügel mit einem Durchmesser von 70 Metern soll in der Blagowtschina entstehen. Der Hügel symbolisiere jene Handvoll Erde, die jedem der 13.500 Toten bei ihrem Begräbnis ins Grab nachgeworfen worden wäre - hätten sie ein Begräbnis gehabt.

Spätestens zum 75. Jahrestag der ersten Deportationen im November 2016 will Waltraud Barton, dass das Projekt realisiert wird. Doch sie weiß: Erinnerung ist keine Privatangelegenheit, sondern Sache des Staates - und die muss richtig inszeniert werden, vor allem in einem Land wie Weißrussland. Bis jetzt hatte die Regierung kein Interesse, ihr Projekt zu bewilligen. Und auch Österreich hält sich in Sachen Unterstützung zurück. Ein bisschen fühlt sich Waltraud Barton wie Antigone, jene Königstochter aus dem griechischen Mythos, die ihren Bruder begraben will - um jeden Preis. "Diese Leute waren Teil der Wiener Gesellschaft und deswegen ist es meine Pflicht, sie zu beerdigen", erklärt sie.

Hitler am Esstisch#

Edna Magder ist müde. Das Aufhängen der Schilder war anstrengend. "Ich muss das alles noch verarbeiten", sagt die Kanadierin in klarem Deutsch. Vor ein paar Jahren war sie mit ihrem Mann in Ausschwitz. Sie hat ein Gebet gesprochen und eine Kerze angezündet. Sie dachte, dass ihre Großmutter dort ermordet wurde, und hatte gehofft, mit ihrer Reise einen Schlussstrich ziehen zu können. Vor einem Jahr teilte man ihr mit, dass ihre Großmutter nicht in Auschwitz, sondern in Maly Trostinez getötet wurde.

Wieder begann sie zu recherchieren. Wieder verbrachte sie Tage im Archiv. Und wieder begab sie sich auf die Reise in ein fremdes Land. Fünf Tage lang ist sie durch Weißrussland gereist. Kann sie jetzt den Schlussstrich ziehen? Verabschieden sich Hitler und seine Freunde nun endlich von ihrem Esstisch?

Edna Magder sitzt erschöpft in dem Minivan auf dem Weg zurück ins Hotel. Barton spricht über das Leben der Juden in Wien. Aufmerksam hört Magder zu, wenn Barton erzählt, dass die meisten Juden vor ihrer Deporta-tion in Sammelwohnungen untergebracht worden waren. "Das heißt, die Wohnung, die ich in Wien besucht habe, war gar nicht die meiner Großmutter", murmelt Magder. Sie dreht sich zu Barton. "Meine Reise ist noch nicht zu Ende, oder?" Barton lächelt. "Ist sie denn je zu Ende?"

Solmaz Khorsand, geboren 1985, ist seit 2013 Redakteurin bei der "Wiener Zeitung" und arbeitet als Magazinjournalistin.

Wiener Zeitung, Sa./So., 2./3. August 2014

--> Helmberger, D.: „Dieses Fehlen sichtbar machen“ (Essay)


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Essay#

„Dieses Fehlen sichtbar machen“ #

Waltraud Bartons jüdische Verwandte wurden 1942 im weißrussischen Dorf Maly Trostinec ermordet – wie 10.000 andere Österreicherinnen und Österreicher. Seit zwei Jahren kämpft sie nun für ein würdiges Gedenken an diese Opfer der Shoa. #


Von

Doris Helmberger

Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (12. Jänner 2012)


Waltraud Barton
Hartnäckig. Waltraud Barton wird am 11. August 1959 in Wien als eines von sieben Kindern geboren. 2009 ruft die ausgebildete Schauspielerin, Mediatorin und zweifache Mutter die „Initiative Malvine“ ins Leben, 2010 gründet sie den Verein IM-MER.
© Foto: Katrin Bruder

Der Mann mit Hut geht darüber hinweg. Die Mutter mit Kinderwagen fährt darüber hinweg. Und direkt daneben, am Haussockel, erleichtert sich offensichtlich dann und wann ein Hund. Die einst glänzenden Messingplaketten, die vor knapp zwei Jahren in das Trottoir direkt vor dem Haus Hollandgasse 8 in der Wiener Leopoldstadt eingelassen wurden, sind matt geworden. Aber immerhin: Es gibt ein paar Namen, die dem Vergessen entrissen sind. Und es gibt einen schlichten Satz: „In diesem Haus mussten 98 jüdische Frauen, Männer und Kinder auf engstem Raum in Sammelwohnungen leben, ehe sie von den Nazis deportiert und ermordet wurden.“

Eine von ihnen war Malvine Barton, die erste Frau von Waltraud Bartons Großvater. Die Eckdaten ihrer Existenz sind im rechten, oberen Eck der Gedenkplakette verewigt: geboren am 23. Oktober 1878, deportiert am 17. August 1942 nach Maly Trostinec, ermordet am 21. August 1942. „Als Todesdatum wird der Tag genommen, an dem der Zug in diesem weißrussischen Dörfchen nahe der Hauptstadt Minsk angekommen ist“, erklärt Barton. „Die Deportierten wurden ja sofort ermordet.“

Vielleicht aber starb die 64-Jährige schon auf dem langen Transport, bei dem sie mit tausend anderen Menschen in Viehwaggons gepfercht wurde; vielleicht verdurstete sie, während die Waggons stunden- oder gar tagelang versiegelt in glühender Hitze stehen blieben, weil die Angestellten der Reichsbahn auf ihrem Dienstschluss beharrten; vielleicht erreichte sie das landwirtschaftliche „SS-Gut Trostinec“ aber doch noch lebend und wurde aus dem Waggon heraus in eine Waldlichtung getrieben, wo sie sich nackt am Rand einer Grube hinstellen musste und nach einem Genickschuss direkt in ihr Grab fiel – zu den Schlagerklängen eines Plattenspielers. Nicht nur Malvine Barton: Maly Trostinec wurde zum Massengrab für rund 10.000 Wiener Jüdinnen und Juden.

Kaum Augenzeugen#

Die Namen der Ermordeten und die Tage ihrer Deportation wurden in den bis heute erhaltenen Transportlisten penibel aufgeschrieben. Doch im kollektiven Gedächtnis haben sie bislang keinen Platz. Anders als Auschwitz, das als Chiffre für den Holocaust insgesamt gilt, ist der Name Maly Trostinec weitgehend unbekannt, obwohl es nirgendwo sonst so viele österreichische Opfer der Shoa gegeben hat. Vielleicht liegt das auch an den wenigen Augenzeugen: Gerade einmal 17 Menschen haben diese Vernichtungsstätte überlebt.

Gedenkstein
Erinnern. Am Gehsteig vor dem Haus Hollandstraße 8 erinnern „Gedenkstein“ an Malvine Barton und 97 andere Shoa-Opfer.
© Foto: Katrin Bruder

Wie kann es sein, dass in einer Stadt wie Wien das Verschwinden so vieler Menschen bis heute totgeschwiegen wird? Waltraud Barton kann es nicht begreifen – und noch weniger akzeptieren. „Es geht darum, dieses Fehlen endlich sichtbar zu machen“, sagt sie mit funkelnden Augen. „Diese Toten müssen ihren Platz bekommen. Solange das nicht geschieht, gibt es eine offene Wunde.“

Die Dimension des Geschehens wurde ihr selbst erst nach und nach bewusst. Es ist das Jahr 2009, als sie ihrem bevorstehenden 50. Geburtstag einen Sinn geben will und sich einfach nur Geld wünscht: um für Malvine Barton sowie für jüdische Verwandte mütterlicherseits, die ebenfalls in Maly Trostinec ermordet wurden, Erinnerungssteine anfertigen zu lassen; und um ihrer im Rahmen einer Weißrussland-Reise zu gedenken. „Aber dann habe ich herausgefunden, dass es dort nichts, absolut gar nichts gibt, was an diese ermordeten Menschen erinnert“, erzählt Waltraud Barton. Also ruft sie die „Initiative Malvine“ ins Leben, nach Malvine Barton, deren Vorname sich aus den ersten Silben der Orte ihrer Ermordung und ihrer Geburt zusammensetzt: Mal und Wien.

Skulptur für Waltraud Barton
Ein Künstler hat für Waltraud Barton eine Skulptur gefertigt, die Malvine repräsentieren soll.
© Foto: Katrin Bruder

Von der Existenz dieser Frau – ihrer jüdischen Verwandten überhaupt – hat Waltraud Barton lange nichts gewusst. Eigentlich dachte sie als Tochter eines evangelischen Kirchenhistorikers, gemeinsam mit ihren sechs Geschwistern „direkt von Martin Luther abzustammen“. Als sie mit 24 Jahren erfährt, dass es auch in ihrer Familie Opfer der Shoa gegeben hat, ist sie freilich zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um weiter zu recherchieren. Sie ist damals alleinerziehende Mutter eines Sohnes und verdient als Schauspielerin kaum ihren nötigen Lebensunterhalt. Später, als Mutter zweier Söhne, Kulturmanagerin und ausgebildete Mediatorin, schiebt sie dieses Thema weiter vor sich her, um das familiäre Tabu nicht zu verletzen. Doch vor ihrem 50. Geburtstag duldet das Erinnern keinen Aufschub mehr. Die von ihr im Frühjahr 2009 gegründete „Initiative Malvine“ zeitigt jedenfalls Erfolg: Bereits im September wird ein Gedenkstein der Republik Österreich für die österreichischen Opfer errichtet – zwar nicht am Ort des Verbrechens selbst, aber am Platz des ehemalige jüdischen Ghettos von Minsk. Um den Stein zu besichtigen, organisiert Waltraud Barton zu Pfingsten 2010 eine erste Reise nach Weißrussland, an der sich 16 Interessierte beteiligen. Mit im Gepäck hat sie bereits die Statuten des Vereins IM-MER, den sie davor gegründet hat: Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern. Es wird für alle Beteiligten eine Tour de force: Am Ort der ehemaligen Vernichtungsstätte hängen sie Schilder mit den Namen der Ermordeten an die Bäume. Tags darauf findet eine von Waltraud Barton organisierte interreligiöse Trauerfeier in Minsk statt. Als Barton am Platz des ehemaligen jüdischen Ghettos die Tafeln mit den Namen ermordeter deutscher Juden sieht, begreift sie, „dass es nicht mehr nur um Malvine, sondern um alle in Maly Trostinec ermordeten Österreicherinnen und Österreicher geht“.

60 gelbe Namensschilder#

Seither ist die 52-Jährige als ehrenamtliche Generalsekretärin des Vereins IMMER unermüdlich unterwegs: Im Juni 2011 leitete sie eine zweite Gedenkreise nach Maly Trostinec. Und Ende November, genau 70 Jahre nach der ersten Deportation von Wiener Jüdinnen und Juden nach Minsk am 28. November 1941, organisierte sie die internationale Konferenz „Maly Trostinec erinnern“ in Wien. In der ersten Reihe saß Margit Fischer, die Frau des Bundespräsidenten: Ihre eigene Großmutter und ihre Großtante wurden am „SS-Gut Trostinec“ ermordet.

Was soll, was muss noch geschehen? „Wir brauchen hier in Wien endlich einen Ort oder ein Museum, wo man sich an diese 10.000 fehlenden Menschen erinnert“, sagt Waltraud Barton vor dem Haus Hollandstraße 8. „Und wir brauchen in Maly Trostinec eine Gedenkstätte, wo jeder ermordete Mensch seinen Namen hat.“ Bis es so weit ist, wird sie weiter nach Weißrussland reisen, um in dem kleinen Kiefernwäldchen nahe Minsk gelbe Namensschilder mit Blumendraht auf Bäumen zu fixieren. 60 Schilder hängen bereits dort. Um jedem einzelnen Toten die Ehre zu geben, braucht es aber ein würdiges Gedenken der Republik.

Verein IM-MER Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern.

--> www.im-mer.at

DIE FURCHE, 12. Jänner 2012

--> Khorsand, S.: Im Wald der Toten (Essay)


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