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vom 18.08.2019, aktuelle Version,

Amras (Thomas Bernhard)

Amras ist die erste große Erzählung von Thomas Bernhard aus dem Jahr 1964. Der Titel bezieht sich auf den Innsbrucker Stadtteil Amras. Damit stellte Bernhard nach der Erzählung Der Kulterer (1962) und dem Roman Frost (1963) erneut die Handlung eines seiner Werke nach Österreich. Inhaltlich behandelt die Erzählung das Schicksal zweier Brüder, deren gemeinsamen Verdruss über das Leben und ihre Kapitulation.[1]

Inhalt

Die Familie des etwa 20-jährigen K., dem Ich-Erzähler, und Walter, seinem jüngeren Bruder, begeht kollektiven Selbstmord durch eine Überdosis Schlaftabletten. Durch Zufall werden die beiden Brüder vor Eintreten des Todes gefunden. Um sie vor der Öffentlichkeit zu schützen, bringt ihr Onkel mütterlicherseits die beiden Jungen in einen Turm in Amras, den sie aus ihrer Kindheit bereits kennen. Die Gründe des familiären Selbstmords liegen zum einen in der Tiroler Epilepsie, an welcher die Mutter und Walter erkrankt sind, und zum anderen in den Schulden des Vaters, die aus der Epilepsie resultieren.

Aufgrund der Qualen, welche die Krankheit erzeugt, stürzt die Familie immer weiter in ihr Unglück, bis der Vater den kollektiven Suizid beschließt, dem sich alle Familienmitglieder fügen. Dem Tod entronnen, setzten sich die beiden Söhne im Turm mit ihrem Schicksal auseinander, werden von Erinnerungen an die Eltern heimgesucht und leiden, vor dem Hintergrund ihres Überlebens, an Schuldgefühlen. Der Turm ist für den naturwissenschaftlich veranlagten K. und den musikalischen Walter Gefängnis und Zufluchtsort zugleich. Allerdings kehrt die Tiroler Epilepsie in der Einsamkeit im Turm zurück und erschwert den jungen Männern das Leben. Walter muss nun wieder regelmäßig zu einem Innsbrucker Internisten, das bedeutet für die Protagonisten, nach ihrer Isolation, eine erneute Konfrontation mit der Gesellschaft. Nach einem Besuch bei diesem Internisten und besonders schlimmen Anfällen verlässt K. den Turm, um mit den Zirkusleuten im Winterquartier zu sprechen. Währenddessen tötet sich Walter mit einem Sprung aus dem Turmfenster.

Daraufhin veranlasst der Onkel, dass K. nach Aldrans gebracht wird, wo der Onkel ein Forsthaus besitzt. Trotz der Arbeit mit den Holzfällern bleibt K. dort isoliert und hängt seinen Erinnerungen nach. In der Zwischenzeit versucht er bestimmte Dinge aus dem verpfändeten Hausrat zurück zu kaufen, beschäftigt sich mit der verblassenden Erinnerung an Walter und macht in Begleitung einer jungen Frau Spaziergänge über den Friedhof. In Aldrans ist der Tod und die Einsamkeit K.s allgegenwärtig. Seine geistige Verfassung wird zum Ende hin immer schlechter. Schlussendlich wendet er sich sogar von den Naturwissenschaften ab und verlässt Aldrans mit der Bitte um Verzeihung und Verständnis, um seine Studien zwar nicht mehr an der Universität, aber dafür in sich selbst weiterzuführen. Es bleibt dabei unklar, ob sein Weg ihn in ein Irrenhaus führt.

Aufbau und Erzählperspektive

Die Erzählung hat eine kapitelähnliche Unterteilung mit Überschriften. Die Handlung wird durch Zitate aus Briefen an Hollhof (einen Freund des Vaters), den Onkel und an einen Gläubiger des Vaters unterbrochen. Hinzu kommen literarische Fragmente von Walter, Notizbucheinträge und literarische Zitate in italienischer Sprache. Nach Marquardt nutzt Bernhard diese Schreibweise um „die Unfähigkeit, ein kohärentes Bild der Außenwelt zu zeichnen, […]“ darzustellen.[2] Schwerpunkte des Textes sind Reflexionen der Protagonisten, ihre Erinnerungen und ihre Gedanken zu Krankheit und Tod.

Die Handlung wird aus der Retroperspektive erzählt. Die Erzählperspektive wechselt von einem Wir-Erzähler zu einem Ich-Erzähler und zum Schluss zu einem Du-Erzähler.[3] Hinzu kommt ein besonderer Satzbau, der vor allem durch die außergewöhnliche Länge und Verschachtelung der Sätze und die Vielzahl von eingestreuten Aphorismen auffällt. Bernhard nutzt komplexe und teilweise unbeendete Sätze, um die Verwirrung und Verschlechterung des geistigen Zustandes der Protagonisten deutlich zu machen.[4] Die Distanz der Brüder zu ihrer Umwelt und anderen Menschen zeigt sich nicht nur durch ihren Rückzug in die abgeschlossene Räumlichkeit des Turmes, sondern auch in ihrer Sprechweise. Durch den exzessiven Gebrauch wissenschaftlicher und abstrakter Termini soll eine Distanz der Brüder K. und Walter zur Gesellschaft und zum sozialen Alltag dargestellt werden.[5]

Motive

Der Turm: Er besitzt in der Erzählung eine ambivalente Konnotation. Zum einen ist er kurz nach dem Selbstmord ein Zufluchtsort und schützt die Brüder vor dem Geschwätz der Innsbrucker Gesellschaft. Hinzu kommt, dass mit dem Turm einige Kindheitserinnerungen verbunden sind. Im weiteren Verlauf allerdings wird der Turm zu einem physischen und psychischen Gefängnis. Die Brüder sind isoliert und beginnen in der Einsamkeit zu phantasieren. Die Isolation im Turm ist der Abgeschlossenheit im Haus der Herrengasse ähnlich.[6] Weiterhin entsteht ein autoaggressives Verhalten und Walters Epilepsie verschlimmert sich. Die Brüder suchen Ablenkung und Beschäftigung in ihren Wissenschaften, dabei werden sie enttäuscht.

Die Tiroler Epilepsie: Die von der Mutter vererbte Tiroler Epilepsie verdeutlicht zum ersten die negative Heimatvorstellung und demonstriert zum zweiten die Schlechtigkeit der Weiblichkeit. Die Krankheit führt zum Sturz der Familie, sie wirkt sich auch auf die gesunden Familienmitglieder aus, und ist der Hauptgrund für die Kapitulation vor dem Leben. Sie dient der Chiffrierung der gefährlichen Provinzialität und sie ist für die Brüder Verstörung, Identität und Eigenart zugleich.[7]

Die Brüder: K. und Walter sind in vielerlei Hinsicht gegensätzlich. K. ist der Naturwissenschaftler und achtet auf seinen Bruder Walter, während Walter der musikalische und an Nerven feinere von beiden ist. Zudem trägt er die Krankheit, die alles verschuldet, in sich und begeht deshalb auch Selbstmord. Die Abgrenzung zur Gesellschaft wird durch den elitären Status, den die beiden inne tragen, verstärkt.

Vater und Mutter: Die Eltern der Protagonisten tragen beide an der Familientragödie bei. Die Mutter ist durch ihre Tiroler Epilepsie der Grund dafür, dass der Vater sich dem Glücksspiel zuwendet und viel Geld verliert.[8] Er ist der Lebemann im Kontrast zu seiner kränklichen, bettlägerigen, despotischen Frau. Sie wird immer wieder als die Ursache der Qual am Leben genannt.

Die Natur: Die die Brüder umgebende Natur ist ein Spiegel ihrer inneren Verfassung. Die Attribute, die Bernhard für die Naturbeschreibungen nutzt, sind zugleich Attribute, welche die Innenwelt von K. und Walter darlegen. Die Gebrüder sind nicht von der Natur zu trennen. Durch die verschwimmende Grenze zwischen Außen und Innen schafft Bernhard es, die Grenze zwischen Realität und Phantasie undeutlich zu machen.[9]

Die Finsternis: Sie gilt als Metapher für die entartete Welt, die alles Seiende erfasst. Diese Terminologie, die das Wesen des Daseins beschreibt, findet sich auch in Frost.[10]

Die Provinz: Eine offensichtlich negative Konnotation haftet an der Tiroler Epilepsie. K. beschreibt die Natur bzw. die Landschaft selbst als krankheitsauslösend. K. kann auch in Aldrans, dem Ort der Waldarbeiter, keinen Anschluss an die Gesellschaft mehr finden. Die Provinz hält ihn in der Isolation.

Literatur

  • Thomas Bernhard: Amras. (= Bibliothek Suhrkamp. 489). Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-01489-7.
  • Clemens Götze: Die Untergeher. Zum Niedergangstopos in Amras. In: Clemens Götze: „Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt!“ Studien zum Werk Thomas Bernhards. Marburg 2011, ISBN 978-3-8288-2672-4, S. 43–60.
  • Eva Marquardt: Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards. (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte. 54). Tübingen 1990, ISBN 3-484-32054-0.
  • Markus Scheffler: Kunsthaß im Grunde. Über Melancholie bei Arthur Schopenhauer und deren Verwendung in Thomas Bernhards Prosa. (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 252). Heidelberg 2008, ISBN 978-3-8253-5413-8.
  • Jens Tismar: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. München 1973, ISBN 3-446-11732-6.

Einzelnachweise

  1. Markus Scheffler fasst es auf S. 264 wie folgt zusammen: „Amras beschreibt eine völlig aus den Fugen geratene Welt, die ein finales Stadium erreicht hat, deren Schöpfungskraft erloschen ist und nichts lebensfähiges mehr hervorbringt.“
  2. Marquardt S. 91.
  3. Vgl. Marquardt, S. 90.
  4. Tismar, S. 115 „Die umständliche Satzbeschreibung will nichts als auf die eigentümliche Spannung zwischen Rationalität und Irrationalität aufmerksam machen.“
  5. Vgl. Tismar, S. 117.
  6. Vgl. Marquardt, S. 88f.
  7. Vgl. Tismar, S. 118.
  8. Vgl. Scheffler, S. 261.
  9. Vgl. Marquardt, S. 93.
  10. Vgl. Scheffler, S. 264.