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Ehrlich, Eugen#

* 14.09.1862, Czernowitz/Tscherniwzi (Ukraine)

† 05.05.1922, Wien

Rechtssoziologe

Ehrlich
Eugen Ehrlich - Foto: Archiv
Eugen Ehrlich wurde am 14. September 1862 als Sohn des Rechtsanwalts Dr. Simon Ehrlich und seiner Frau Eleonora in Czernowitz geboren. Er absolvierte das Jesuitengymnasium in Sambor, einer Provinzstadt in Galizien, studierte an der Universität Lemberg und an der Universität Wien Jus und promovierte dort 1886 zum Doktor beider Rechte. Einige Jahre war er in Schwechat bei Wien als „Advocaturskandidat" und „Hof- und Gerichtsadvocat" tätig. 1883 habilitierte er sich an der Universität Wien für Römisches Recht aufgrund seiner Schrift über „Die stillschweigende Willenserklärung" (Berlin 1897). 1896 wurde Ehrlich zum außerordentlichen Professor für Römisches Recht an der 1875 gegründeten k.k. Franz-Josephs-Universität in Czernowitz ernannt, 1990 zum ordentlichen Professor, 1901 war er Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, 1906 Rektor. 1902 erschienen seine „Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen", 1903 die „freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" und 1913 die „Grundlegung der Soziologie des Rechts."

„Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit wie zu allen Zeiten weder in der Gesetzgebung noch in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst." So beginnt Ehrlich seine „Grundlegung der Soziologie des Rechts"

1914 erhielt er von der Universität Groningen (Niederlande) zusammen mit Leon Duguit, François Gény und Eugen Huber die juristische Ehrendoktorwürde.

Kenntnis und Erkenntnis des lebenden Rechts in den gesellschaftlichen Funktionen und das Wissen um seine Entwicklungsgesetze waren ihm die Voraussetzungen einer wissenschaftlich begründeten Kunst der Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Rechtswissenschaft sollte also Rechtssoziologie sein. Eine umfassende Rechtssoziologie soll die Grundlagenwissenschaft für die Jurisprudenz, für die Rechtspraxis und für die Rechtspolitik werden. Alle praktischen Richtungen der Juristerei sollen als angewandte Sozialwissenschaft auf dieser Grundlage betrieben werden. Unter dem Einfluss des Comte'schen Wissenschaftsbegriffs definierte er die theoretische Erforschung des Rechts als einen Teil der Soziologie und verstand die Beziehung von Jurisprudenz und Rechtssoziologie als die Beziehung von praktischer Handwerks- und Kunstlehre und theoretischer Wissenschaft. Seine „Grundlegung der Soziologie des Rechts" wurde zusammen mit dem Werk „Juristische Logik" sein magnum opus. Darin wird die traditionelle kontinentaleuropäische Jurisprudenz relativiert und eine Analyse des gesellschaftlichen Rechts präsentiert, welche die geschichtliche und soziale Bedingtheit der Jurisprudenz herausarbeitet. Das war die Basis für seine „neue Wissenschaft vom wirklichen Recht".

Ehrlich errichtete an der Universität Czernowitz ein „Seminar für lebendes Recht". Er wollte das lebende Recht der neun Volksstämme der Bukowina erfassen: sammeln, beobachten, befragen, aufzeichnen, untersuchen, erheben - das war der Anfang einer umfangreichen Rechtstatsachenforschung.

Der Erste Weltkrieg traf Ehrlich auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit und seiner internationalen Anerkennung. Er engagierte sich in der Friedensbewegung und versuchte die Alliierten von der Zerschlagung der Donaumonarchie als eines Vielvölkerreiches abzuhalten. Noch vor Kriegsende reiste er zur geplanten Völkerbundkonferenz in der Schweiz und erlebte dort das Ende des alten Österreichs.

Zur Zeit Ehrlichs, der an der Peripherie der österreichisch-ungarischen Monarchie das Recht neu suchte und fand, entwickelte sich im Zentrum der Monarchie die Wiener Rechtstheoretische Schule, die das Recht anders neu erfasst. Sie sucht nicht Tatsachen, sondern Normen, nicht Sein, sondern Sollen.

Diese Wiener Schule des „theoretischen" Rechtspositivismus und Ehrlichs Czernowitzer Schule des „wirklichen“ Rechtspositivismus standen zueinander im Konflikt. Kelsen bekämpfte Ehrlich. Trotzdem bestehen Überschneidungen und Berührungen. Die von Hans Kelsen begründete „Reine Rechtslehre" hat etwa den Unterschied zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung im allgemeinen und Rechtssetzung und Rechtsprechung im besonderen relativiert und „das doppelte Rechtsantlitz" (Adolf Julius Merkl) entdeckt. Danach ist Rechtsanwendung in der Regel auch Rechtserzeugung und umgekehrt. Damit ist nicht nur die Gesetzgebung politisch in dem Sinn, dass auf die Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen Einfluss genommen wird, politisch sind auch Verwaltung und Gerichtsbarkeit, aber auch die Bürger, die unter sich privat autonom Recht setzen. Sie alle setzen Recht.

Ehrlich, der das Recht von der Gesellschaft her verstand, konnte im Zentrum Wien, in dem das Recht vom Staat her verstanden wurde, nie reüssieren. Es kommt nicht von ungefähr, dass Kelsen der Hauptredaktor der Verfassungen des neuen Österreich ab 1918 wurde. Er formulierte weitgehend die österreichische Bundesverfassung 1920, die heute noch gilt. Seine Lehre prägte die Rechtswissenschaft in Österreich. Es wurde ein Hans-Kelsen-Institut errichtet, aber nie ein Eugen-Ehrlich-Institut. Nach Karl Renners Worten - er war selbst ein großer Rechtssoziologe – war Eugen Ehrlich „eines der größten Opfer des Ersten Weltkrieges“.

Nach Kriegsende kehrte Ehrlich zwar nach Czernowitz, das nun nicht mehr österreichisch, sondern rumänisch war, zurück. Er war aber bereits von der damals nicht behandelbaren Zuckerkrankheit gezeichnet.

Am 5. Mai 1922 starb Ehrlich mit 59 Jahren in dem Sanatorium in der Peter Jordan Straße 82 in Wien, im heutigen Wilhelm-Exner-Haus der Universität für Bodenkultur. Eine Tafel erinnert dort an Eugen Ehrlich.

Der größte österreichische Rechtssoziologe der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ist in Österreich nie wirklich rezipiert und akzeptiert worden. Anders war es in den USA und Japan. Manche meinen, dass der Einfluss der wichtigsten Werke Ehrlichs in den USA wohl am größten gewesen sei. Prof. Kawakani, Kyoto, meint dagegen, dass das eher für Japan zutreffe. Junge japanische Gelehrte, die während seines kurzen Züricher Aufenthaltes bei ihm Privatunterricht gehabt hatten, haben Ehrlichs wissenschaftliche Anschauungen nach Japan gebracht.

Werke (Auswahl)#

  • Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen, 1. Teil, Berlin 1902;
  • Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, Leipzig 1903;
  • Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten, 1908
  • Grundlegung der Soziologie des Rechts. München/Leipzig 1913;
  • Die juristische Logik, Tübingen 1918;
  • Gesetz und lebendes Recht. Vermischte kleinere Schriften, hrsg. von M. Rehbinder, Berlin 1986 (Schriftenreihe des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung der freien Universität Berlin, Bd. 61):

Literatur#



Dem deutschen Rechtssoziologen Manfred Rehbinder verdanken wir die Rezeption Ehrlichs in der deutschen und schweizerischen und österreichischen Rechtssoziologie.
  • Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, (hrsg. v. M. Rehbinder, Berlin 1967 - Schriftenreihe des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung der Freien Universität Berlin, Bd. 7;
  • M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich. Schriftenreihe des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung der Freien Universität Berlin, Berlin 1967)

Redaktion: M. Welan/P.Diem