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Schrammel, Johann#

* 22. 5. 1850, Wien † 17. 6. 1893, Wien

Komponist, Geiger


Johann Schrammel. Foto, 1880., © Copyright Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, für AEIOU.
Johann Schrammel. Foto, 1880.
© Copyright Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, für AEIOU.

Sohn des Klarinettisten Kaspar Schrammel und Bruder von Josef Schrammel. Spielte in diversen Wiener Theater- und Salonorchestern. Gründete mit seinem Bruder das berühmte Schrammel-Quartett.

Werke (Auswahl)#

  • rund 150 Lieder
  • Märsche und Walzer: Wien bleibt Wien
  • Der Schwalben Gruß
  • Weana Gmüat
  • ´s Herz von an echten Weana

Hg.:

  • Alte österreichische Volksmelodien, 1888

Literatur#

  • Österreichisches Biographisches Lexikon




Essay#

Chronologie der Schrammel-Brüder#

von Guido Saner

1811 6. 11. Vater Kaspar Schram(m)el geb. in Kainraths 44 (Ortsteil von Hörmanns; heute: Nr. 44) bei Litschau im nördlichen Waldviertel NÖ; Weber + Bauer.

1823 Mit 11 Jahren Klarinettist in der Dorfmusikkapelle Litschau; weit bekannt als Ländlerbläser mit "picksüßen Hölzl" (kl. Klarinette in Hoch-G); baut Klarinetten-(Ersatz)teile und Zubehör (Blätter).

1832 Arbeitet als Weber in Rottal und wohnt in Litschau Nr. 8. Heirat mit der am 12. 3. 1812 geb. Weberstochter Josefa Irschik aus Seilerndorf. Aus der Ehe geht …

1833 am 27. 3. Konrad Schrammel hervor. Nach nur 4 Jahren, …

1837 am 25. 4. verstirbt Gattin Josefa an der "Weberkrankheit" (Lungenschwindsucht) in Litschau-Vorstadt Nr. 45 im Alter von 25 Jahren.

1846 Aufgabe des Weberhandwerks; zieht mit Sohn Konrad in den Wiener Vorort Neulerchenfeld. Der beliebte Ausflugs- + Unterhaltungsort ("des Hl. Röm. Reiches größtes Wirtshaus"; F. A. de Paula Gaheis 1800) bietet unzählige Möglichkeiten in der Volksmusikszene aufzuspielen. Bekanntschaft mit 20 Jahre jüngeren Volkssängerin Aloisia Ernst, Tochter von Wagenlackierer Peter E. + Theresia geb. Stifter. Schwester Katharina verheiratet mit Gitarrist + Volkssänger B. Schütz. Dennoch Nebenerwerb mit Fertigung von Klarinetten-Blättern (Bambusrohrblätter); erste Auftritte in Lokalen wie "Zum goldenen Luchsen", "Hotel Laudon" u. a. mit begeisterten Zuhörern, insbesondere Fiakern.

1848 25. 1. Anton Strohmayer, später Kontra-Gitarrist bei den Gebr. Schrammel, in Lichtenthal Nr. 60 (heute: teils 9. Bezirk "Alsergrund") als Sohn des Musikanten Alois Strohmayer + einer Wäscherin (teils für Kaiserhof) geboren. Großvater Martin Strohmayer war Lehrer + Organist in der Kirche "Zu den 14 Nothelfern" (heute: "Schubert-Kirche"). / 12. 3. Georg Dänzer, später Klarinettist ("picksüßes Hölzl") bei den Gebr. Schrammel, in Hernals (17. Bezirk) als unehel. Sohn von Elisabeth Dänzer geboren. Vater lt. Taufbuch Leibagent + Polizeirat Felsental. Daneben spielt er virtuos das "Posthörndl".

1850 22. 5. Johann (Hanns) Schrammel in Neulerchenfeld Nr. 119 (heute: Gaullachergasse 35; 16. Bezirk) geboren. Im Taufbuch als Beruf "Handarbeiterin" der "angeblichen" (= unehelich) Mutter eingetragen. Nach Geburt des Sohnes, Übersiedlung in gemeinsame kleine Wohnung in Ottakring Nr. 226 (heute: Friedrich-Kaiser-Gasse 11; 16. Bezirk). 1852 3. 3. Josef Schrammel in Ottakring Nr. 226 (Nachfolgebau "Thaliabad"; heute: o. e.) geboren. Beide Buben mit musikalischer Begabung, aber gegensätzlicher Charaktere.

1853 Am 7. 9. heiraten die Eltern Kaspar + Aloisia in Neu-Ottakring zur Legalisierung ihrer unehelichen Kinder; derzeit ein heikles Vorgehen. / Kurz darauf meldet sich der Sohn aus 1. Ehe …

1854 freiwillig zum Militär und wird am 4. 3. beim 14. Infanterie-Regiment (3. Jäger-Bataillon) angelobt. Zuvor lernt er den Beruf des Färbers; zudem ist er ein begabter Geiger.

1857 Johanns Musikerlaufbahn beginnt bereits in der Volksschule; Aufnahme im Kirchenchor von Neulerchenfeld. Vater fördert beide Buben; Ausbildung beim Primgeiger des "Carl-Theaters", Ernst Melzer. Sie lernen nun, wie im Kirchenchor, die Werke der großen Komponisten kennen.

1859 Am 20. 5. wird Konrad Schrammel in der Schlacht von Montebello gegen die napoleonischen Truppen von Musketenschuss am Arm schwer verletzt; Verbringung ins Wiener Invalidenhaus. / Vater Schrammel beantragt bei NÖ Statthalterei die Produktionsbewilligung für Musik; wird mit der Einschränkung im Wiener Polzeirayon nicht aufzutreten, genehmigt. Kinder dürfen nicht auftreten! Nun ist Kaspar Schrammel Leiter einer "Gesellschaft"; er darf sich "Musikdirektor" nennen. 1861 Der verletzte Konrad heiratet Anna geb. Volkmer; aus der Ehe werden 4 Kinder hervorgehen. / Am 6. 1. (zum 50. Geburtstag) tritt Vater Kaspar Schrammel erstmals bei einem Benefizkonzert im Gasthaus "Zum Goldenen Stuck" in Neulerchenfeld (Neulerchenfelderstr. / Kirchstätterngasse) mit den beiden 11- + 9-jährigen Söhnen auf. Mit von der Partie sind Tante Kathi + Onkel Schütz.

1862 Von der Gattin unterstützt, lässt der "Ländler-Kaspar" seine Buben am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Gesang + Geigenspiel ausbilden; die Freunde erklären ihn für verrückt! Die Ausbildner (u. a. Prof. Josef Hellmesberger) erkennen die Talente, aber Studiengelder sind zu erwirtschaften. Gemeinsam spielen sie dafür in Lokalen vor den Fiakern auf (u. a. "Dachl", "Brettl") am Mehlmarkt (heute: Neuer Markt); sie gehen die Gage "absammeln"; das Lernen erfolgt aus der Not "spielend", aber zielführend. Derzeit ist der "Musikverein" im Haus "Zum roten Igel" in den Tuchlauben (1. Bezirk); die traditionsreiche "Wiener Geigenschule" verbindet ideal die Grundlage des urigen Geigenspiels mit dem Konzertanten. Meist werden die Leistungen der Buben mit "Lobenswert" oder "vorzüglich" in den Jahreszeugnissen beurteilt (1862/1863).

1864 Im neuen Studienjahr ist Prof. Heißler Johanns Geigenlehrer. Nun ist er 14 Jahr alt und nicht mehr schulpflichtig; das Studium erachtet er nicht allzu wichtig. Er will frei sein und mit Musik sein Geld verdienen. Er ist noch bis Juni 1866 am Konservatorium, die Beurteilungen fallen aber nur noch "genügend" - "nicht genügend" aus; ohne Angabe von Gründen wird er lt. Protokoll vom 12. 6. 1866 von der Musikschule ausgeschlossen.

1865 Johann Schrammel ist 1. Geiger im "Harmonietheater" + spielt bei der Kapelle von Fahrbach Senior + im Orchester des "Theaters in der Josefstadt". Verm. hat dies zum Musikschulausschluss geführt, denn zum Familienunterhalt spielen beide Buben mit dem Vater daneben in Gastlokalen auf.

1866 Am 1. 2. erhält der kriegsversehrte Konrad Schrammel das Invalidenpatent; am 31. 8. die Abfertigung für 2 Dienstjahre von 361 Gulden (€ 3180) + Verwundungszulage 10 Kreuzer/Tag (€ 4). Er lebt in der Premlechnergasse 15 in Hetzendorf (12. Bezirk); beantragt die Drehorgellizenz, die vorerst abgelehnt wird, ihm aber für Hietzing (13. Bezirk) genehmigt wird. / Anna, Johann Schrammels Halbschwester, wird geboren und Johann meldet sich zum Militär. Am 1. 12. wird er dem k. k. Dragoner-Regiment Nr. 14 (Stockerau) zugeteilt.

1868 Nach 1 Dienstjahr wird Johann Schrammel zum 32. k. k. Infanterie-Regiment ("Deutschmeister") versetzt + am 18. 3. zum "Vice-Corporal" befördert. / Josef Schrammel zeigt nicht mehr die Begeisterung am Geigenspiel; der Vater steckt ihn in eine Buchbinderlehre. Dort sind 6 Kinder zu betreuen; die Handwerkslehre verkommt. Er will sich sogleich wieder dem Geigenspiel zu widmen. Lt. dem neuen Gesetz ist er militärdienstuntauglich; bald unternimmt er mit Tante + Volkssängerin Katharina Schütz ("Tante Kathi") + "Onkel Schütz" (Gitarre) + Sängerin + 2. Geiger eine Orient-Tournée.

1869 wohnt Konrad Schrammel in Altmannsdorf Nr. 49 Sechshaus (heute: 12. Bezirk), amtl. ist aber Rottal/Gmünd NÖ zuständig. Er sucht um eine neue Drehorgellizent (ausg. Wiener Polzeirayon) mit Arztzeugnis an. Inzwischen hat er 4 Kinder; letzteres verstirbt in 2 Monaten - danach die Mutter! Die Lizenz wird dennoch (vorerst) nicht genehmigt; er muss jährlich das neue Ansuchen stellen. Bald wird er mit der "Melzer Drehorgel" und auffallendem Vollbart stadtbekannt. / Abenteuer pur! Am 19. 12. brechen Josef Schrammel + Ensemble auf nach "Triest - Korfu - Sira - Smyrne - Constantinopel - Cattigoe - Dardanellen - Stambull - Prinzen Insel - Pujuktarie - Calapolis - Mittiline - Chios - Rodus - Zippern - Beirut - Caiffa - Jaffa - Port Said - Alexandira - Cairo - Ismalia - Suetz - Pola - Laibach - Gratz - Wien" ("Tage Buch" Wienbibliothek Rathaus; Inv.-Nr. H.I.N. 236.103). 17 Monate + 2 Tage unterwegs!

1870 2. 5. Johann Schrammel wird "Eskadronstrompeter" im Range Korporal + Musikfeldwebel; erst beim Militär eignet er sich das Trompetenspiel an, das er später nie mehr ausübt.

1871 11. 5. Josef Schrammel kehrt mit Ensemble von der Orientreise zurück; sogleich spielt er auf, mit Billinger, Eichele und Casparek in Dornbach. Folgend mit Dänzer ("picksüßes Hölzl") + Rouland im "Weigl" + "Russ" in Hernals; ab 1876 mit Mayer + Söllner in allen Weinhauer-Lokalen in Nussdorf.

1872 17. 9. Johann Schrammel heiratet die am 22. 3. 1852 geb. Rosalia Weichselberger (Wirtschafterin); der Ehe entsprießen 9 Kinder: Aloisia, Johann, Anton, Josef, Leopoldine, Anna, Franz, Rosalia, Rudolf. 31. 12. Versetzung in Reserve des 49. Infanterie-Regiments; nach erneuter Musterung am 6. 10. 1875 für dienstuntauglich befunden und aus dem Militär entlassen.

1873 "Fremdenblatt" berichtet das Aufspielen des "Wiener National Quartett Dänzer, Strohmayer, Schrammel, Turnofsky, Ableitinger" zum "Gemütlichen". Kurz darauf geht das Ensemble auseinander; Johann Schrammel tritt als Geiger bei der "Salonkapelle Margold" auf; bis zur Gründung des eigenen Trios 1878. Nach dem "Gründerkrach" besinnt man sich der bodenständigen Kunst; man besucht vermehrt die günstigeren Vorstadtlokale. Das Volkssängertum erreicht eine neue Blütezeit; populär sind besonders die Duos "Guschelbauer-Montag" + "Wiesberg-Seidl". Mit der Volkssängerwelle leben die Lokale der Heurigen richtig auf; Musiktradition + Tanz finden großen Zuspruch.

1874 Josef Schrammel nimmt den Platz seines Bruders im "Wiener National Quartett" ein; neu genannt: "Erstes Wiener National Quintett" (Eichele, Dänzer, Josef Schrammel, Draskovits, Rouland). / Am 11. 6. heiratet Josef Schrammel die 19-jährige Volkssängerin Barbara ("Betty") Prohaska, geb. 4. 2. 1855. Aus der Ehe gehen 4 Kinder (Betty, Josefine, Anna, Lisie) hervor.

1875 Am 18. 6. erhält Josef Schrammel die Produktionsbewilligung für sein Ensemble. Mit seiner Familie wohnt er an der Sterngasse 24 / Tür 7 (heute: Haslingerstr.; 17. Bezirk). Mit 2 Partnern spielt er täglich auf; er verdient 10-15 Gulden (€ 88-130). Johann Schrammel in der Salonkapelle nur 3 Gulden (€ 35). Die Gagen reichen kaum zur Versorgung von Frau + Kindern. Johann beendet seine militärische Laufbahn als Unteroffizier/Feldwebel.

1876 Josef Schrammels Frau verlässt ihn und die Kinder ohne nachvollziehbare Beweggründe, doch sind die Sorgen jener Zeit mit Kinderschar erdrückend. Die Schwiegermutter kümmert sich fürsorglich um die Kinder, doch 10 Monate später verstirbt Elisabeth Prohaska unerwartet; die älteste Tochter (Betty) übernimmt 1877 die Obsorge.

1878 Johann + Josef Schrammel beraten sich mit dem ihnen längst bekannten Kontra-Gitarristen Anton Strohmayer über die Gründung eines Terzetts. Das sog. "Nußdorfer Terzett" spielt nun meist in den Wiener Vororten auf; dabei spielt Josef 1. + Johann 2. Geige. Josef führt das kleine Unternehmen; er verhandelt, korrespondiert, verwaltet die Gagen. Bald berichtet die Presse über das neue Ensemble; auch andere Formationen werden hochgelobt (u. a. "Buschettys").

1879 Der 1. Auftritt des "Nußdorfer-Terzetts" mit Anton Strohmayer ist bei der Wohltätigkeitssoirée "Für die armen Kleinen" im Gasthaus "Zum (goldenen) Mondschein" in Rudolfsheim(-Fünfhaus) lt. Ankündigung vom 18. 11. im "Extrablatt".

1880 Bald darf das Terzett bei Veranstaltungen nicht mehr fehlen; u. a. bei "Fiakerbällen" in der Jo-sefstadt.

Ballkönigin ist Emilie Turecek ("Fiaker-Milli"), verehelichte Demel, die als Frau in der Fiakerkleidung in die Geschichte eingeht. Beim "Kleinen Fiakerball" wird erstmals eine Zeichnung des nun neuen Quartetts veröffentlicht. Vorerst nennt sich das Quartett "Die Nußdorfer"; sie treten in dieser Zeit regelmäßig beim "Greiner" (Kahlenbergerstr. 26) auf. Im Sept. spielen sie unter tosendem Beifall am "Michaeli-Weinlesefest" in Neulerchenfeld auf; die Nachfrage beim Publikum ist berauschend!

1881 Neben den "Faikerbällen" wirken die Gebrüder Schrammel + Anton Strohmayer auch an allen "Wäschermädelbällen" mit; die "Wirth-Kathi" tritt in typisch blau-weißen Kleidern als beste Walzertänzerin auf. Zum Heurigenfest beim "Mandl" in Hernals erweitert sie die Besetzung mit Zither, Harfe + Leier. / Am 1. 11. verstirbt nach kurzer Krankheit Aloisia, die Gattin von Kaspar + Mutter der Gebr. Schrammel. / Am 3.12. werden in der Josefstadt die "Straußensäle" (Bauteil "Theater in der Josefstadt"; 8. Bezirk) eröffnet, wo nebst den Gebr. Schrammel (23. 12.-4. 1. 1882)Komponisten wie Johann Strauß Sohn + Vater, Joseph Lanner u. a. aufspielen. / Am 8. 12. steht Wien unter Schock! Das "Ringtheater" brennt nieder. Für die Fam. Schrammel ein entsetzlicher Tag: Josef hat sich für die Vor-stellung "Hoffmanns Erzählungen" Karten gekauft. Am Nachmittag sitzt er bereits im benachbarten Kaffeehaus; er wird gleich für den Abend engagiert und lässt die Karte verfallen. Zuhause gibt es aber keine Nachricht; alle sind tiefbesorgt!! Gegen 21 h meldet ein Gendarm, dass Josef wohl auf ist!

1882 23. 2.: Das "Quartett Dänzer + Angerer" + das Terzett "Gebrüder Schrammel + Strohmayer" treten gemeinsam in den "Straußensälen" auf. Die Musikkritik bejubelt, dass nur diese Ensembles in der Lage sind, das Echt-Wienerische auszudrücken; insbes. als Begleitung des "Preisjodelns". Dieser Wettbewerb ("höchster Duliäh") findet in der Neulerchenfelder "Bretze" statt (heute: Neubau; Lokal "Schaukasten", Grundsteingasse 25 / Brunnengasse; 16. Bezirk). Oft erscheinen Annoncen über die Auftritte des "Terzett Gebrüder Schrammel" oder "Gebrüder Schrammel + Strohmayer". Gäste aller Bevölkerungsschichten folgen in Massen in Vorortlokale! / Am 12. 6. heiratet Vater Kaspar Schrammel erneut die 35 Jahre jüngere Magdalena Fogatsch aus Korneuburg. Damit ist das seit 1866 bestehende Verhältnis (daraus Tochter Anna) legalisiert; Übersiedlung nach Langenzersdorf. / 4 Jahre nach Gründung des "Nußdorfer Terzetts" beginnt sich der Adel für Veranstaltungen mit ihren Auftritten zu interessieren. Ende Nov. werden sie offiziell in die Innere Stadt Wien eingeladen ("L. Graf´s Restauration"; Schottenring 9; heute: teils Polizeidirektion). Danach öffnen sich Tür + Tor zu gehobenen Salons und Sälen der Noblesse.

1883 Die Volksmusikensembles geben "moderne Programme" in Salons (Arrangements der Strauß- + Wagner-Werke u. a.). / Am 8. 3. Auftritt des Schrammel-Terzetts am "Schwomma-Abend" (= Josef Weidlinger) + Johann Schmutzer, Überlieferer alter Volksmelodien. / Am 21. 7. 1. sog. "Schrammel-Abend" beim "Weigl" in Hernals (Kalvarienbergstr. 19; 17. Bezirk); Mitwirkung des Kunstpfeifers "Baron Jean" od. "Schani" (eig. Fiaker). / Am 4. 10. 60-jähriges Musikerjubiläum von Kaspar Schrammel (Vater) beim "Goldenen Luchsen" mit den besten Musikern der Szene. Die Presse verbreitet wahre Lobeshymnen über das Musikereignis. Bei den Musikgrößen finden die Gebr. Schrammel höchste Anerkennung; so erreicht Josef Schrammel ein Telegramm …

1884 am 21. 1.; von Johann Strauß bzw. Prof. Tilgner (Bildhauer; Mozart-Denkmal u. a.). Er kündigt ihren Besuch für den 23. 1. zu einem Auftritt der Gebr. Schrammel in Nussdorf an. Es bleibt nicht nur bei einem Besuch; Strauß möchte, dass die Gebr. Schrammel seinen Geigern den echten Wiener Stil beibringen! Er verhilft ihnen später zu Engagements in Prag und bezeichnet ihr Geigenspiel als das echt wienerisch "Heberte". Johann Strauß empfiehlt die Gebr. Schrammel brieflich am 4. 3. an "Herrn Schrammel, Musikdirektor". Er lädt sie in die Privatvilla zum Aufspielen ein; anwesend sind Brahms + Girardi + Hans Makart (Maler). / Im Juni + Juli stellt Zirkus "Hagenback" in der Rotunde 40 "Singhalesen" (Eingeborene aus Ceylon) + Arbeitselefanten aus. Dabei treten die Gebr. Schrammel erstmals mit den "Zach´schen Ehrengeigen" auf. / Am 16. 5. brennt das "Wiener Stadttheater" (heute: "Ronacher") an der Himmelpfort-/Schellinggasse/Seilerstätte (1. Bezirk) nieder; 1886 kauft Anton Ronacher die Brandruine und Ausbau zu "Concert- + Ballhaus" + Hotel (mit elektr. Licht!). / Am 25. 10. Erweiterung des Terzetts Gebr. Schrammel zum Quartett: "Neue Musikanten-Firma Gebr. Schrammel, Dänzer und Strohmayer Quartett". Dänzers Beitritt mit dem "picksüßen Hölzl" verändert zwar das Klangbild, löst aber beim Publikum keinen Jubel aus; es wird nicht einmal öff. erwähnt. Bald sind die Gäste aber davon hingerissen und begeistert. Bis 1885 erwähnt die Presse nur das "Schrammel-Terzett"; erst ab 1886 das Quartett, als hätten die Musiker schon jahrelang zusammengewirkt. Doch eine Karikatur zeigt die Gebr. Schrammel + Dänzer + Strohmayer bereits 1880; das Terzett hat je nach Bedarf Musiker wie Dänzer hinzugezogen. / In Nussdorf spielt das Quartett fast täglich beim Heurigenschank "Schöll" (Himmelstraße; heute: Kirchengasse 4; 19. Bezirk). Der bedeutendste Volksdichter der Zeit, Carl Lorens, widmet den Vergnügungen in Nussdorf ein Volkslied. In den Heurigenlokalen heben sich die Standesunterschiede völlig auf; alle treffen sich bei den "Schrammeln", Kunstpfeifern + Jodlern ungezwungen, frei und froh! / Das Quartett wird vermehrt zu konzertanten Auftritten engagiert, wie am 31. 12. im Saal ("Blauen Flasche") in Neulerchenfeld. Das Ensemble ist geradezu umschwärmt und darf an gehobenen Bällen, Konzerten + Wohltätigkeitsveranstaltungen nicht fehlen.

1885 Mit Alexander Girardi können die Gebr. Schrammel das Ballett "Wiener Walzer" an der Hofbühne etablieren. Bei der 100. Aufführung wird erstmals der "Schrammel-Marsch" + der "Vindobona-Walzer" von Josef Schrammel vorgetragen. / Fürst von Metternich + Baron de Bourgoing realisieren die Idee des exklusiven Gesellschaftsabends der hohen Aristokratie zur Geschichte des Wiener Walzers mit den Gebr. Schrammel. Es folgen weitere Auftritte vor hohem Adel (Fürstin Esterházy u. a.) lt. Dankesschreiben vom 30. 5.; sie verdankt den ihr gewidmeten "Eugenie-Walzer" an; weitere gewidmete Kompositionen: "Frühlingsgruß an Pauline" (Metternich) od. "Kronprinz Rudolf-Marsch". / Johann Schrammel ist zum Musik-Geschäftsmann avanciert; Kronprinz Rudolf fördert das Ensemble bis in die (privaten) Salons des Adels; auf Bestellung spielen sie auch im "Sacher" auf. Mit Sängerin Alice Barbi besucht Kronprinz Rudolf in der Vorstadt einen "Schrammel-Abend"; er ist vom echt Wienerischen begeistert und öfters bei den "Schrammeln", teils inkognito, anzutreffen. / Am 24. 5. wird das 100-jährige Jubiläum der Fiaker mit Wohltätigkeitsfest der Wiener Rettungsgesellschaft begangen. Dabei wird der Weihgesang der Fiaker, das "Fiakerlied", von Gustav Pick aus der Taufe gehoben. Erstmals singt es Alexander Girardi bereits 1873 an der Weltausstellung in der Rotunde; trotz 10 Gulden (€ 80) Eintrittsgelds wird das Lied zum Riesenerfolg. Der stadtbekannte Fiaker Bratfisch trägt es oft vor; es wird sogar den Militärkapellen verboten damit aufzuspielen. Auch in Berlin wird es gesungen und gepfiffen; sogar ins Türkische übersetzt und im Orient verbreitet. / Am 14. 6. ein Schicksalsschlag für die Familie Schrammel: Im Stellwagen verunglückt Vater Kaspar Schrammel beim Bahnhof Liesing schwer! Ein Eisenbahnzug mit Dampflokkoloss reißt den Wagen auseinander; ein Toter und Schwerverletzte, darunter Kaspar Schrammel. Sein Zustand wird als hoffnungslos diagnostiziert; dank intensiver Pflege und Lebenswillen genest er, kann aber nicht mehr vollends auftreten. Er greift zurück auf das Handwerk des Rohrblattherstellers für Klarinette + Fagott. Am 30. 9. wird zur Genesung für ihn eine Wohltätigkeitsfeier gegeben. / Am 14. 12. tritt das Quartett erstmals in Dornbach (heute: teils 17. Bezirk) in der "Güldenen Waldschnepfe" beim "Elite-Spezialitäten-Abend" auf. Das Lokal wird zur Kultstätte der "Schrammeln"; ganze Heerscharen pilgern zu den legendären Abenden hinaus; über 300 Fiaker warten um die Gaststätte!

1886 Die Gebr. Schrammel treten, wie alljährlich, an Silvester-/Neujahrs- + Faschingsbällen auf; sie musizieren bis 7 h früh; bis Saiten reißen od. Dänzer kein "Ambazour" (Ansatz) mehr hat! Bratfisch ist meist dabei und singt "sein" Fiakerlied. / Josef Schrammels "Nußdorfer-Walzer" wird in Posse "Der Stabstrompeter" eingearbeitet und erobert die Bühne im "Theater in der Josefstadt". / Am 25. 8. geben die Gebr. Schrammel zum 25-jährigen Musikerjubiläumsfest "Wien bleibt Wien", wozu Johann Schrammel seinen weltberühmt gewordenen Marsch beisteuert. Im Trio integriert er das Carl Lorens-Lied "S´Herz von an echten Weana"; urspr. im ¾-Takt. Schauplatz des Anlasses ist das Lokal von Weigl im Dreherpark in Meidling (12. Bezirk). Die Wiener Presse bejubelt die "Schrammeln" in ganz Europa! / Der Maler + Bildhauer J. M. Kupfer schafft kurz darauf ein Gemälde (96,5 x 127 cm; s. oben) über die urwienerische Stimmung "Bei den Schrammeln in Nußdorf" od. "Im Biergarten". Zu sehen ist der Heurigengarten (Kahlenberger Str. 9; 19. Bezirk) bei "Karl Wallner" od. beim Nachbarn "Greiner". Das Bild findet lange Zeit keinen Käufer; man will die "Schrammeln" hören … nicht sehen! / Am 15. 10. erlässt die Behörde auf Antrag des "Wiener Volkssänger-Vereins" im Polizeirayon Wien das Singverbot für sog. "wilde Sänger", was sich auf die singenden Fiaker (u. a. Bratfisch) auswirkt. Am 18. 11. (lt. Ex-trablatt) müssen die Gebr. Schrammel eine Buße von 25 Gulden je Musiker + 10 Gulden je Sänger = 110 Gulden (€ 970) bezahlen! Sie wenden sich klagend an Graf Kielmannsegg (Statthalter NÖ); dem ist klar, dass dieses Verbot im Publikum eine Revolte auslösen kann. So erhält Johann Schrammel die Singspielhallenkonzession mit Zusatz, dass sie Natursänger + Jodler + Kunstpfeifer beiziehen können. Daraufhin komponiert Johann Schrammel den Walzer "Die Patrioten", den er "Sr. Exzellenz Graf Kielmannsegg" widmet. / Am 18. 12. erreicht die Gebr. Schrammel die höchste musikalische Ehre durch die Einladung des Hofkapellmeisters + Dirigenten der "philharmonischen Konzerte" Hans Richter. Zum 100. Konzertjubiläum sollen die Gebr. Schrammel am 19. 12. ihren berühmten Streicherklang + Interpretation demonstrieren. Für den denkwürdigen Abend komponiert Johann Schrammel den der "Wiener Philharmonischen Gesellschaft" gewidmeten "Künstlermarsch"; zudem bedankt er sich mit seinem "Hans-Richter-Marsch".

1887 Nach den üblichen Auftritten an den Faschingsbällen treten die Gebr. Schrammel ab 10. 4. in der umgestalteten "Güldenen Waldschnepfe" in Dornbach auf (heute: erneut Gastlokal mit restaur. Gewölbe-/Weinkeller). Hier treten sie mit Fiaker Bratfisch + Kunstpfeifer "Baron Jean" (eig. Fiaker namens Hans Tranquillini) mit berauschendem Erfolgen an das begeisterte Publikum. Ab Okt. wird bekannt, dass die "Schrammeln" jeden Dienstag, Donnerstag, Freitag + Sonntag um 17 h aufspielen; der Donnerstag ist nur für Wiener Bürger reserviert. / Im Hochsommer werden die Gebr. Schrammel von Hotelier Drassl nach St. Wolfgang eingeladen, wo sie u. a. als Bordensemble auf dem Wolfgangsee musizieren. / Gegen Ende Okt. tritt das Quartett erstmals offiziell vor dem Kaiserhaus (Erzherzog Friedrich) anlässlich der Jagd auf Schloss Ivánka in Preßburg (heute: Bratislava) und hohen Gästen auf. / Anfangs Nov. eilt Johann Schrammel mit einem Brief von C. M. Ziehrer (Komponist + Kapellmeister) in die "Güldene Waldschnepfe": Kais. Hoheit Kronprinz Rudolf wünscht das Quartett zum Wienerischen Abend vom 14. - 17. d. M. auf Schloss Orth a. d. Donau. Sie sollen nach der Hirschjagd für die geladenen Gäste aufspielen. 2 Tage nach Audienz in der Hofburg bricht das Quartett mit Anhang + 3 Fuhrwerken auf nach Schloss Orth, wo sie noch am Anreisetag aufspielen und das "Extrablatt" am 18. 11. berichtet. Der letzte Abend verläuft unüblich: Der Kronprinz wählt Josef Bratfisch zu seinem Leibfiaker und Du-Freund; die Wiener haben ihre Sensation! / Das Jagdglück des Kronprinzen veranlasst Johann Schrammel zur Komposition des Marsches "Jagdabenteuer" + für die Kronprinzessin Stephanie des Walzers "Die Rose von Orth". / 2 weitere Schrammel-Abende folgen am 10. + 12. 12. auf Schloss Laxenburg + Jagdschloss Mayerling.

1888 Erstmals sind die Gebr. Schrammel + Bratfisch + "Baron Jean" am 6. 1. ins Ausland eingeladen nach Budapest. Das Publikum verehrt die Feinheit der Lanner´schen Werke; nicht aber das Pfeifen! Hofinstrumentenbauer P. Pilat beschenkt die Gebr. Schrammel mit 2 Geigen; bei Josef ist das Monogramm rückseits mit Takten des "Vindobona-Lieds", bei Johann Takte von "Das Herz von an echten Weana" angebracht. Rückreisend treten sie in Hotels in Preßburg hochbejubelt auf. / Am 2. 2. gastieren die Gebr. Schrammel + "Baron Jean" + Xandl + Hirschmann in der Industriehalle in Graz. / Johann Schrammel erarbeitet 3 Hefte alter Wiener Volksmelodien ("Alte österr. Volksmelodien … gesammelt und harmonisiert"), die er Kaiser Franz Joseph widmet. Darin ist das Repertoire der Gebr. Schrammel vereint. Johann ist mit ca. 200 Werken kompositorisch produktiver wie Josef. Proben werden meist vor den Auftritten im Lokal abgehalten. In der Blütezeit verdient das Quartett 100-500 Gulden je Auftritt (€ 900-4500); abzgl. Gagen der Sänger + Kunstpfeifer. Derzeit liegen die durchschn. Ausgaben je Monat einer Arbeiterfamilie bei 50-80 Gulden (€ 440-704); ein Facharbeiter verdient monatlich ca. 25 Gulden (€ 220), Hausdiener 50 Gulden (€ 440); die kleine Vorstadtwohnung kostet 22 Gulden (€ 194) monatlich. Das "Schrammel-Quartett" tritt abends nicht nur bei einer Veranstaltung auf; teils sind es bis zu 4 Auftritte täglich! Dennoch zerrinnt das Einkommen, denn die Familienhaushalte sind groß; Altersvorsorge kaum möglich. / Am 27. 8. spielt das "Schrammel-Quartett" mit ihren Begleitern beim Kirchweihfest in Heiligenkreuz. Mittlerweilen ist Johann einer der erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit; die Wiener Volksmusik ist salonfähig geworden. / Auf Einladung des Schriftstellers Paul Lindau werden die Gebr. Schrammel + Begleiter auf die 1. Große Reise eingeladen; nach Berlin. Auf allen Rei-seetappen werden erfolgreiche Konzerte gegeben: Brünn - Frankfurt am. M. - Mannheim - Stuttgart - Breslau - München - Salzburg … am 20. 12. zurück in Wien.

1889 Reiseantritt am 3. 1. mit "Baron Jean" durch die österr. Kronländer + Deutschland. Diese Konzerttournée führt sie am 4. 1. in den "Augartensaal" nach Brünn (Brnò), am 8. 1. ins "Grand-Hotel" in Prag, ins "Residenz-Theater" nach Dresden, Leipzig; Johann Schrammels Hämorrhoiden-Leiden wird zusehends unerträglicher; er isst kaum, nimmt täglich mehrere Sitzbäder. Vom 31. 1. - 3. 2. gastieren sie in Halle a. d. Saale ("Viktoria-Theater"); Todesnachricht von Kronprinz Rudolf im Jagdschloss Mayerling erreicht das Ensemble; Selbstmord! Rückkehr nach Wien; Johann muss gleich zum Arzt; seine Schmerzen sind besorgniserregend. / Jagdschloss Mayerling; was ist geschehen!? Josef Bratfisch, der Leibfiaker von Kronprinz Rudolf + Sänger bei den Gebr. Schrammel, fährt diesen am 28. 1. auf sein Jagdschloss; etwas später holt er Mary Vetsera; schwärmerisch in Rudolf verliebt. Nachts, 29./30. 1., während Wiener-Melodien, erschreckt Bratfisch ein Schuss!! Im Schlafgemach die Tragödie: Kronprinz Rudolf hat sich erschossen; daneben, - tot -, liegt Mary Vetsera! Die Szenarien sind noch heute ein Rätsel; jedenfalls weisen die Gebeine der Vetsera keine Schussverletzung auf?! Hat sie sich nach fehlgeschlagener Curettage vergiftet? Daraufhin der depressiv veranlagte Kronprinz erschossen (lt. Gutachten 31. 1. Dr. Hofmann). Bratfisch wird von "allerhöchster Stelle" zur Unperson erklärt, was sich vorerst auch auf die "Schrammeln" auswirkt. Der Kronprinz vermacht ihm eine Geldsumme; er baut damit das Fiaker-Unternehmen im schon geschenkten Haus Lackergasse 8 in Hernals aus. Bratfisch wird von Geheimpolizisten dauernd überwacht; vom Kaiser sogar zur Übersiedlung nach Venedig gedrängt. Er bleibt in Wien; die Fahrt mit den Fiakern durch die Hofburg wird ihm verboten! / Im Feb. gastiert das "Schrammel-Quartett" erneut in der Industriehalle in Graz. Darauf auf Einladung in Meran; weiter geht die Reise: Marburg a. d. Drau (Maribor), Cilli (Celje), Laibach (Ljubljana), Triest, Venedig, Abaccia, Fiume, Görz, Bozen, Innsbruck, Klagenfurt, München, Salzburg, Linz; zurück nach Wien (22. 3.). / Sogleich erfolgt die Einladung von Graf Kinsky in sein Palais + nach London für die Traumgage von 1000 Gulden (€ 8800); was bereits im "Extrablatt" angekündigt wird. Die Reise wird wegen Johanns Gesundheitszustand nicht angetreten; auch nicht an die Weltausstellung nach Paris. / So nimmt das "Schrammel-Quartett" am 21. 4. in Nussdorf wieder ihre umjubelten Konzerte auf. Erneut tauchen in der Presse (u. a. 22. 6.) böse Gerüchte über Zusammenhänge mit dem Tod des Kronprinzen auf; "… die Wiener haben die Schrammeln ad acta gelegt, das Pfauen-Quartett ist abgetan!" Die Auftritte gehen aber erfolgreich weiter; u. a. beim "Greiner". / Das Quartett fasst Entschluss, trotz bedenklichen Gesundheitszustands von Johann Schrammel, zur (letzten) Konzertreise aufzubrechen (26. 9.). Wieder über Brünn, Olmütz (Olomouc), Troppau (Opava), Ostrau (Ostrava), Breslau (Wroclaw). Die Einnahmen sind jedoch gering; Johann schreibt seiner Frau, dass sie Notenblätter verkaufen soll. Weiter führt die Reise nach Prag, Liegnitz (Legnica), nach Reichenberg (Liberec, am 18. 10.); erneut nach Prag, Dresden (Bratfischs Auftritt polizeilich untersagt!), Magdeburg (13. 11.); Johann bittet brieflich seine Frau auch Sammelstücke zu verkaufen. Für Johann wird die Reise körperlich zur Tortur! Dennoch treffen sie anfangs Dez. in Hamburg ein; letzte Auftritte von "Baron Jean". Er eröffnet 1891 in New York "Café Habsburg"; verstirbt 1895 im Armenkrankenhaus. Das "Schrammel-Quartett" mit neuem Kunstpfeifer Lang kehrt am 19. 12. entkräftet, aber zufrieden zurück.

1890 Die Zeitungen berichten von der Rückkehr der "Schrammeln"; am 8. 1. spielen sie im "Eldorado" in der Inneren Stadt Wien auf; im türkischen Saal. Wie zuvor musizieren sie an allen namhaften Ballveranstaltungen; am 8. 2. am "Lumpenball" zugunsten der "Herberge für beschäftigungslose Natursänger". Die von der Presse nun "echten" Schammeln genannten, produzieren sich ab Mai 4x pro Woche beim "Muth" in Nussdorf (Kahlenbergstrstr.; heute: Muthgasse) + im "Dritten Kaffeehaus" im Wiener Prater; Einladungen in Palais des Uradels (Esterházy, Kinksy u. a.) folgen noch + noch. / Haben die Gebr. Schrammel aber beim Kaiser aufgespielt? Hinweise deuten darauf, dass sie bei der "Gnädigen Frau" (Katharina Schratt) hinter einem Paravent musiziert haben sollen. / Vom 15. 5.-30. 10. fin-det in der "Rotunde" im Prater die "Land- + Forstwirtschaftliche Ausstellung" statt; die bekannten Volksmusikensembles sind eingeladen. Das Hauptinteresse gilt den "Schrammeln", die im Park ihre Auftritte geben; die gereichten Zylinder sind mit über 300 Gulden (€ 2640) gefüllt. / Am 24. 6. berichtet die Presse, dass die Natursänger endlich frei auftreten dürfen. / Ab Nov. musizieren die "Schrammeln" wieder in Nussdorf; sie ändern den Programmnamen von "Die alte Tanz" auf "Novitäten", verbunden mit der neuen Komposition von Johann. / Am 27. 11. treten sie in "Hopfners Casino" (vorm. "Dommayer´s Casino" in Hietzing (13. Bezirk; heute: "Parkhotel Schönbrunn") auf.

1891 Bis in den April spielen die "Schrammeln" öfters beim "Stalehner" (Ranftlgasse 11; 17. Bezirk) auf (jeweils Di, Fr, So, Feiertage). / Die Schrammel-Familien übersiedeln ins Haus Ecke Kalvarienbergstr. 36 / Rötzgergasse 13 in Hernals (17. Bezirk). In den Stockwerksgängen gibt es Wasserleitungen + kunstvolle Gitter schmücken Wohnungstüren. Josef bezieht eine 4-Zimmer-Wohnung im 2. OG + Johann im 1. OG die etwas größere Wohnung. / Auftritte beim "Stalehner" bringen neue Kompositionen ("Ah, da schau her", "Mei lustrig´s Testament", "Was Österreich ist" u. a.) mit vielen Einfällen der Sänger Xandl + Exner + Kunstpfeifer Lang. / Verleger verlangen vermehrt nach den Noten; zum Schutz der Urheberrechte lässt Johann Schrammel diese stechen (meist beim Verlag August Cranz, Wien + Leipzig); sie sind längst "Gassenhauer". Große Beachtung finden in der Presse die 3 Hefte "Alte österreichische Volksmelodien" beim Verlag F. Rörich (vorm. F. Wessely) mit musikhist. interessantem Vorwort zur Wiener Musik von Johann Schrammel.

1892 Auch der Austritt Dänzers vom "Schrammel-Quartett" wird vom Publikum kaum wahrgenommen. Eine Konzertanzeige kündigt das neue Mitglied, Vetter der Gebr. Schrammel, Anton Ernst mit der "Knöpferlhamronika" an; somit Gebr. Schrammel, Anton Ernst + Strohmayer. Auch ab Jan. singen mit ihnen "Edi" + "Schmitter" + "Biedermann"; + Lang (Kunstpfeifer). / Zum "Fiakerball" komponiert Johann Schrammel die erfolgreiche "Wiener Fiakerpolka". Gegen Ende April wird das Quartett unter "Gebr. Schrammel, Ernst + Daroka" angekündigt; wo ist Strohmayer? Er spielt noch mit bis Mai; dann werden sie nur noch als "Gebrüder Schrammel" oder "Schrammeln" genannt. / Am 7. 5. findet im Prater ("Rotunde") die "Wiener Intern. Musik- + Theaterausstellung" zum 100. Todestag von Mozart (1891) statt. Auch die Gebr. Schrammel bewerben sich um Auftritte in der "Tonhalle"; abgelehnt! Da treten große renommierte Orchester + Dirigenten auf (Verdi, Mascagni). Die "Schrammeln" sind dennoch täglich als Publikumsmagnet im Freien zu hören; im Garten des "Regensburgerhof". Begeistert sind Besucher von der Sonderausstellung "Alt-Wien"; dem Kaiser überreicht Geigenbauer Carl Zach die Jubiläumsgeige ("Kaisergeige") mit geschnitztem Kopf anstelle der Schnecke (heute: Technisches Museum). Draußen sind höchste Herrschaften die Zuhörer bei den "Schrammeln": Bürgermeister Dr. Prix, Prinzregent Luitpold von Bayern, Erzherzog Ludwig Victor, Prinz von Coburg, Fürst Bismarck; und Komponisten wie Brahms, der öfters fasziniert den "Schrammeln" zuhört. Die Ausstellung schließt jedoch mit Defizit (Schlechtwetter + Cholera in Deutschland) von über 50000 Gulden (€ 440000)! Auch die Glückseligkeit des alten Wiens verblasst zusehends; die Arbeitslosigkeit nimmt zu. / Strohmayer hat das "Schrammel-Quartett" verlassen; er schließt sich ab 11. 10. dem Quartett "Dänzer + Strohmayer" an; die Stelle übernimmt Karl Daroka. Weiterer Grund ist Johann Schrammels Zukunft, denn sein Gesundheitszustand verschlechtert sich beängstigend (Herzleiden); zudem über 10 Sitzbäder pro Tag (Hämorrhoiden-Leiden). So ist eine Amerika-Reise zur Weltausstellung in Chicago unmöglich. Sie musizieren fortan unter dem Namen "D´Schrammeln" in ihren Gastlokalen. / Am 16. 12. verstirbt der 1847 geb. Fiaker + Sänger Josef Bratfisch (genannt "Nockerl") nach Bronchialkatharr/Blutsturz.

1893 Am Jahresanfang werden die Sänger "Edi" + "Biedermann" durch "Merta" + "Prilisauer" ersetzt. Johann Schrammel muss krankheitsbedingt vermehrt das Musizieren einschränken, dennoch treten sie in "Pertls 3. Kaffeehaus" + im "Indischen Salon" im Prater auf; werden aber bald aus dem Programm genommen. Am 19. 5. veröffentlicht die Presse das "Herzleiden" Johann Schrammels. Die Genesungshoffnungen erfüllen sich nicht: Am 17. 6. verstirbt er, nach zus. Asthma- + Augenleiden, an Herzanfall in der Wohnung in Hernals. Er hinterlässt Ehefrau Rosalia + 5 Kinder (von 9 Geborenen); Josef übernimmt mit der Kindesmutter die Vormundschaft. Ganz Wien beklagt seinen Tod; für seine 274 Kompositionen wird er hoch gewürdigt. Am lauen Sommerabend spielt das Quartett mit Josef; Geflüster kursiert durch die Tische bis zu Geiger Knoll. Er erhebt sich: "Weihen wir den Augenblick des Gedenkens dem Schöpfer unserer Lieder, der heute um 11 Uhr vormittags verstorben ist." Leise spielen sie Johanns schönstes Lied; sein "Schubertlied": "In hoher Luft, die Schwalbe ruft: sei mir gegrüßt …". Am 19. 6. wird Johann Schrammel am Hernalser Friedhof (Gruppe K, Nr. 205) beigesetzt. Tausende wohnen der Bestattung bei, auch der 84-jährige Vater. Rücklagen sind keine mehr vorhanden; zusammen mit Bratfischs Nachlass werden (Kunst-)Gegenstände am 22. 1. 1894 versteigert. / Der Bruder Josef übernimmt die Quartett-Leitung mit Geiger Knoll; neu als "Quartett Schrammel". Nach Übernahme der Spielhallenkonzession des Bruders gehen die Produktionen im Prater weiter; dazu gesellt sich Kunstpfeifer Jauner. / Es folgen Auftritte in (Buda-)Pest + umliegenden Orten; ab Okt. klingt es wieder in Wien beinahe wie anno dazumal. / Mitte Okt. kehren die Musiker von der Weltausstellung in Chicago nach Wien zurück; allerdings ohne Dänzer! Er verstirbt an Lungenkatharr bzw. Kehlkopfkrebs am 27. 9. während der Seerückreise und wird am Ottakringer Friedhof bestattet. Anton Strohmayer führt das Quartett weiter (spielt teils selbst das "picksüße Hölzl") und lebt bis ins hohe Alter von 83 Jahren (20. 12. 1937) bei der Tochter (Ludowika Posselt) in Dornbach.

1894 Anfang des Jahres erneut eine Umbesetzung: Bruder von Gitarrist Daroka übernimmt Stelle von Geiger Knoll; nun Quartett "Schrammel, Ernst und Brüder Daroka". Wieder Aufspielen in (Buda-) Pest mit großen Erfolgen, doch bei Rückreise erkrankt Josef Schrammel ernsthaft an Lungenentzündung; die geplante Reise nach Berlin fällt aus. / Am 31. 3. wird ein großes "Schrammel-Fest" unter Patronat von C. M. Ziehrer zum Gedenken an Johann Schrammel beim "Stalehner" abgehalten. / Vielfach vergessen wird, dass Johann Schrammel auch Werke für größere Instrumentalbesetzungen komponiert hat, wie "Divertissements", "Erlebnisse" u. a.; dabei erinnert seine Notenschrift an jene von Joseph Lanner oder Hugo Wolf; sie weist kaum Korrekturen auf.

1895 Josef Schrammels Krankheit schreitet unaufhaltbar voran; die Auftritte stehen zunehmend im Einfluss der Ensemblemitglieder. Im Sommer sucht er Erholung in Maria-Schutz am Semmering. Noch einmal gehen sie auf Tournée: Graz, Marburg, Cilli, Abbazia, Bruck a. d. Mur, Aussee, Linz, München; am 18. 10. Rückkehr nach Wien. / Im "Stalehner" geben sie wieder die unvergesslichen "Schrammel-Abende". Ab Herbst kann Josef kaum mehr sein Zimmer verlassen; liebevoll von seiner Tochter Betty umsorgt. Im Sterbebett diktiert er in Sorge um seine Familie einen (Bitt-)Brief an Fürst Auersperg; er bietet ihm seine Geige zum Kauf an. Der Brief wird noch von ihm unterzeichnet, aber nie versandt. In letzten Atemzügen hört er vom Gasthaus herauf die letzten Klänge; seine letzten Worte: "Das ist ein schöner Walzer … vom Lanner?" Am 24. 11. verstirbt Josef Schrammel, kaum 1 Monat vor Vater Kaspar, an Nierenentzündung. Er wird ebenfalls am Hernalser Friedhof bestattet (Gruppe 1, Nr. 31); ein Martyrium für den Vater, der beide Söhne begraben muss!! Nach dem Kutschenunfall mehrfach von Ärzten aufgegeben … Totgesagte leben länger! Er verstirbt am 20. 12. und wird am Friedhof in Langenzersdorf bestattet. In seinem Grab finden auch Gattin Magdalena Fogatsch (1925), Tochter Anna Pagac (1949) + Enkelin Margaretha Pagac (1981) ihre letzte Ruhestätte.

1905 Am 29. 11. verstirbt Konrad Schrammel, Kaspars 1. Sohn aus 1. Ehe, mit 72 Jahren in Atzgersdorf (Wiener Gasse 19) an sog. "Herzfleischentartung". Erstaunlich bleibt bis heute, dass keine Hinweise auf Verbindungen zu Vater Kaspar oder seinen Halbbrüdern Johann + Josef aktenkundig sind?! Nichts erinnert mehr an seine Zugehörigkeit zu einer der bekanntesten Musikerfamilien Wiens. … "Zwa Fiedeln, a Klampf´n, a Maurerklavier … Wien bleibt Wien" …

Weiterführendes#

Bilderbogen (Quelle: Guido P. Saner)#

Geburtshaus Vater Kaspar Schrammel in Hörmanns/Kainraths bei Litschau NÖ
Geburtshaus Vater Kaspar Schrammel in Hörmanns/Kainraths bei Litschau NÖ
Geburtshaus Gebr. Schrammel in Wien-Neulerchenfeld
Geburtshaus Gebrüder Schrammel Neulerchenfeld
Vater Kaspar Schrammel
Vater Kaspar Schrammel
Mutter Schrammel
Mutter Schrammel
Gebr. Schrammel Quartett mit Dänzer und Strohmayer
Gebr. Schrammel Quartett mit Dänzer und Strohmayer
Josef Bratfisch Fiaker-Sänger
Josef Bratfisch Fiaker-Sänger
Dommayers Casino Hietzinger Haupstr. anno 1889
Dommayers Casino Hietzinger Haupstr. anno 1889
Güldene Waldschnepfe Restauration Dornbacher Str. 88 um 1900
Güldene Waldschnepfe Restauration Dornbacher Str. 88 um 1900


Essay#

Wie klingt Wien?#

Was wirklich gute Schrammel-Musik original gewesen ist, lässt sich nur vermuten. Wie gut wirklich gute Schrammel-Musik sein kann, dürfen wir seit ein paar Jahren wieder erleben. Wienmusik: zwei Wiener Veduten.#


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Presse (Freitag, 29. Juni 2012)


Von

Otto Brusatti


Die Backstreet Boys des Vormärz. Alles begann wahrscheinlich im baffen Staunen während einer der wenigen, aber bedeutenden äußerlichen Umwälzungen für die europäische mehrstimmige Musik. Wiener Kongress, 1814/1815. Europa wurde neu geordnet und nach Aufklärung und Kriegszeiten ziemlich harsch in frische/alte Grenzen und Schranken gepresst. Aber erstmals kam es zu einem vergleichsweise kurzfristig angesetzten Austausch der Völker, ihrer Eigenheiten (vor allem anhand von Herrschsystemen und Gesinde), ihrer Musik. Denn viele Delegationen und deren Begleitmusiker brachten Stücke mit nach Wien oder wenigstens eine Kenntnis dieser, ihrer Spieltechniken und nationalen Eigenheiten. Es muss für die aufmerksame Junggeneration Wiens wie eine Überrumpelung, jedenfalls aber der gern zitierte, bis ins Geniale geleitende Tritt gewesen sein.

Wir haben nur einige (dann immer mehr) auskomponierte Quellen, seltsamerweise hingegen kaum Berichte, Erzählungen, nicht einmal Anekdoten darüber. Aber wir dürfen annehmen, dass sich die bestehenden Stadtensembles, geschult an Beethoven, Haydn oder Mozart sowie am höfischen Operngeschmack (also alleweil noch am italienischen, ehedem vor allem am französischen) und im Bedürfnis nach Tanz- und schematischer Unterhaltungsmusik sowohl praktisch als auch innovativ des fremden Angebotes bedienten, es bald auch an sich rafften. Die ersten Bandas, Tanzmusikgruppen und professionelle Kleinorchester stillten, wachsend und immer mehr Geld damit machend, das von den Kongressfeierlichkeiten und dem zunächst noch geduldeten Nachkriegsrummel geweckte, rasant steigende Bedürfnis nach verfügbarer U-Musik. Wer wollte da nicht Vergleiche ziehen zu knapp 100 Jahren später einem Fin de siècle oder zur Massenverfügbarkeit von Musik wieder kaum ein Jahrhundert danach im explodierenden Digitalen?

Namen kennt man noch immer kaum. Wir sollten aber die kleinen Maestros und deren erste, ja doch, Discos in Wiener Vorstädten, Michael Pamer (im „Sperl“), Joseph Wilde („Weißer Schwan“), Johann und Joseph Faistenberger („Zum Schaf“) oder Mathias Schwarz („Schwarzer Bock“) für die Entwicklung von Musikeinsatz, -vermarktung, Bedürfnisweckung und Befreiung nicht gering ansetzen. Ganz im Gegenteil!

Sie trieben, erstmals öffentlich, professionell und für alle Schichten auf dieselbe Weise, das Aufschaukeln des Publikums mittels neuer Musik, mittels erwarteter Klänge, mittels sich verfeinernder Spielweisen und in Massendistribution voran. Sie lebten vor, was bis heute Fluch und Gnade für diesbezügliche Persönlichkeiten darstellt: Raubbau am Körper, Raubbau an der Seele, Antibürgerlichkeit jenseits damals noch starker gesellschaftlicher Schranken. Wer wollte nicht auch da Vergleiche ziehen zu später? Zu Film und Pop und volkstümlicher Massenmusik vor allem in den Medien? Standen damals vielleicht am Rand des Kongresses, als die fremden Kapellen musizierten, die Wiener miteiferten und all die vielen neuen Klänge und Rhythmen sprudelten, ein junger Schubert, ein 14-jähriger Lanner und ein noch jüngerer Strauss verblüfft neben den Ensembles, auf den Straßen vor den offenen Fenstern der Palais wie der Tanzschuppen, offenen Mundes, jedenfalls aber offenen Herzens?

Wir haben kein Biografiedetail davon, kein einziges. Dennoch, ihre Kompositionen der folgenden Jahrzehnte verraten sowieso beinahe alles. Jedenfalls, Wien befand sich (wieder einmal, wie schon so oft und wie später abermals oft) im Stadium eines Grundschubes. Die Metapher ist bewusst gesetzt. Eine ungeheure Kraft, ein Energiereservoire der neuen Art wurde gezündet; bald würden wie auf mehreren Raketenteilen die Menschen mit neuer Musik und vor allem mit neuer Musikkörperlichkeit in frische Un- und Endlichkeiten geschleudert werden.

Lanner – von seiner Person wissen wir noch immer sozusagen kaum etwas –, er trat den Tanzformationen bei. Es waren zumeist und zuerst rund zehn Musiker, Streicher und Bläser. 1822 arbeitete er mit/in den Kapellen der Musiker Pechatschek oder Drahanek, später mit den Innovatoren Scholl oder der Familie Fahrbach (alle bisher Genannten sind wesentliche, heute noch immer viel zu wenig gewürdigte Künstler Österreichs und Wiens gewesen). Bald machte er sich selbstständig. Bloße, einfache Kammermusik offerierte er zunächst, dieser Lanner, der bald selbst zu komponieren begann (wo hatte er, der spätere Virtuose und ein innovatives Genie, das gelernt?). Dann! Er holte um 1824 einen Neuen in seine Formation, einen drei Jahre Jüngeren, auch der ein angehender Virtuose, kompositionsbegabt, gern ein wenig im Hexenmeisteroutfit (was er zeit seines kurzen Lebens ausbauen würde), Johann Baptist Strauss, später, nach seiner Installierung der neben den Bachs berühmtesten Dynastie, „Vater“ genannt. Sein Erstgeborener, Johann, der Sohn, begann Mitte der 1840er dasselbe in Vaterkopiatur und als Lanner-Nachfolger. Eine Mischung: Ödipuskomplex, Geschäftsabsprachen und Generationenkonflikt mit allerhöchsten künstlerischen Ergebnissen.

Was sich sodann in den folgenden zwei Jahrzehnten und bis ins Revolutionsjahr 1848 entwickelte, darüber ließen sich feine Romane schreiben. Es war die Grundlegung dessen, was heute weltweit die Massenmusik vor allem ist: Unterhaltung, Divertissement, Ideologie der Selbstbefreiung, Eigen- und Gegenwelt. In Rasanz trieben Lanner/Strauss ihre Musikausschüttung über die Massen und für alle Stände voran – vom Proletariat bis zum Kaiserhaus. Es war Bedürfnisweckung und Bedürfnisbefriedigung mit stets frisch nachgelieferter und virtuos dargebrachter Musik (in den parallelen Virtuosenzeiten von Rossini, Paganini oder Liszt, im Biedermeier mit den außerhalb von Musikkonsum und Tanz strengen Alltagsregeln, mit der hereinbrechenden Volksmusik als Katalysator). Es war und blieb: Aufforderung zur Bewegung. Musik als Refugium.

Strauss/Lanner, die anderen: Sie machten erstmals mit so einer Musik viel Geld, live präsent oft täglich und mit immer besser werdenden Ensembles. Man unternahm von der Presse bejubelte Europatourneen, tätigte Geschäfte (Spezialauftritte, Notenverkäufe). Es war vergleichbar der Popmusik nach 1960. Strauss/Lanner: Sie erreichten beide nicht einmal ihre Fünfziger. Alkohol, Backstage-Leben, Groupies – auch das „erfand“ man mit neuer U-Musik.

Apropos Strenge der Zeit, ja überhaupt gesellschaftliche Zwänge und deren Überwindung mit Musik: Das Angebot im Tanzhaus (in der Biedermeier-Disco) war neu, spannend. Um als Frau/Mann den Rhythmen entsprechen zu können, um Walzer und Polkas mitzumachen, musste man sich aneinander festhalten. Frau/Mann konnten sich – in der Öffentlichkeit! – so nahe kommen, so aneinander sein, wie höchstens daheim im versperrten Schlafzimmer erlaubt. Voll geplant und mitbewegt durfte man sogar, wenn sich die neue Tanzmusik in rasante Bereiche hinaufzuschrauben anschickte, im Galopp durch die Räume rasen, aneinander geklammert.

Und dann, wenn schon nicht übereinander her-, so doch mindestens hinfallen.

Die Mikulas. Wirklich gute Schrammel-Musik? Tja, die kam erst um 2000 wieder. Was wirklich gute Schrammel-Musik original gewesen ist, lässt sich sowieso nur vermuten (Wien-Klang/Lebensgefühl zwischen Nostalgie und Bewältigung von Fortschrittsängsten). Was Schrammel-Musik dazwischen war? Massenware, schäbiger Tourismuskommerz, spieltechnische Mängel, sauschlechte Wien-Klischees mit Alkoholismus und Proletenbewusstsein. Noch immer wird in Deutschland mit „Schrammeln“ vordergründiges, mies-aufputschendes, ein die Bürgerschaften verwirrendes Musizieren bezeichnet.

Schrammel-Musik ist um und nach 2000 wieder Basis für Innovatives geworden, für gekonnte Neukompositionen, für Quartette, welche die Konkurrenz mit dem klassischen Fach nicht scheuen, ja sogar suchen. Schrammel-Musik einst? Fakten werden liebevoll tradiert, die von den legendären Brüdern, ihren Musikgenossen, von Instrumenten und Stimmen. Abstammung: hohes Waldviertel, gemixt mit Böhmen und Wienerischem in fast 100-jähriger Tradition, veredelt vor allem durch Joseph Lanner (seine Stücke waren am Beginn der Schrammeln das zentrale Repertoire), die Dynastien Fahrbach oder Strauss und Adepten. Die Musikfamilie: Johann, geboren 1850, und Josef, geboren 1852, studierten am Wiener Konservatorium unter anderem bei Hellmesberger (eine Spitzenausbildung für Geiger); 1878 ging es mit Anton Strohmayer (1848 bis 1937, Kontragitarre) ins Terzett, mit Georg Dänzer (1848 bis 1893, Klarinette, picksüßes Hölzl) ins Quartett, 1891 noch durch die Knopfharmonika im Klang wesentlich erweitert; rasanter Aufstieg sukzessive mit Eigenkompositionen (vor allem von Johann, Josef war der Primgeiger); Parallelensembles; künstlerisches Hochlizitieren mit Volkssängern, Dudlern, Fiakersängern et cetera; bald Akzeptanz in politischen (Kronprinz Rudolf, Bismarck), philharmonischen oder Komponistenkreisen (Brahms, Strauss, Schönberg); ab 1888 Tourneen (Deutschland, Monarchieländer), die Nachfolgeensembles bald in die USA.

Die Geschichte der beiden Schrammeln ist erst zum Teil geschrieben. Es wäre ein Tatsachenroman, der vieles in den Schatten stellte. Er handelte neben oft überraschendem Biografischen (Johann, Pessimist, Zweifler, witziger Schriftsteller, Schrammelmusiker im körperlichen Raubbau, beide Brüder starben 43-jährig), Zeitbezogenem (Ringstraßenära, Gastspiele, Josef nahm zum Beispiel als 17-Jähriger an einer Mittelosttournee mit Wiener Musik teil, in skurrilen Erinnerungen an Serails oder Ägypten) und über den Aufbau einer Wiener Musikszene zwischen Vorstadtetablissements und hohen Adelskreisen; vor allem von der Musik mit drogenhafter Wirkung.

Wienmusik ab 1880 wurde – auch durch das Komponieren und Auftreten derSchrammeln mit virtuosen Nachfolgeensembles – weltweit vergleichslos als: Tradition aus Klassik/Vorklassik, besonderer Tanzmusik seit 1810, mit Operetten/Wiener Liedern als befruchtenden Bereichen und Neuem, vergleichbar den Spitzenwerken der Kammermusik. Es wuchsen Biotope, heute kaum mehr bekannt, Tausende Lieder, Ensembles, Chansons, Dudler; Leute wie Wiesberg, Lorens, Pick, später Katscher, Gruber, Sieczynski waren melodiöser als halbe andere Kontinente; von den Parallelgestirnen zu goldenen und silbernen Wiener Ären nicht zu reden, nämlich von Fall oder Eysler, Komzák oder Jurek oder den Militärmusikkapellmeistern. Den Schrammel-Originalen ging es wie Wiener Liedern oder Wiener Operetten zwischen Bühne und frühem Musikfilm, wie der breiten U-Musik an sich. Man reduzierte das Repertoire radikal. Der immer enger, oft schäbiger werdende Publikumsgeschmack behauptete sich. So geschah es beinahe das ganze 20. Jahrhundert hindurch, dass ein Bruchteil in den Programmen blieb, egal ob in Medien, Etablissements.

Man beklagt, dass die Musikpraxis auf kaum 100 Titel zusammenschmolz. Bibliotheken und Sammlungen verwahren noch immer Tausende an Arrangements und Kompositionen, die zeitbezogen, aber musikalisch/textlich solitär der Wiederentdeckung harren. Es sind virtuose Gesangssoli mit vielen Möglichkeiten an Accompagnements, Schrammel-Kammermusik, hervorragend gestylte Bühnenhits und oft höchste Spielkunst voraussetzende Arrangements aus Opernoder Symphonischem (reichend von den Zugoperetten bis zu „Parsifal“, „Tristan“, „Rosenkavalier“).

Zweit- und Drittgenerationen nach den Original-Schrammeln und deren Umkreis haben viel zur Verwässerung desStils beigetragen (wie das in jedem neuen Genre passiert). Aber es reihten sich auch Gleichwertige hinzu. Zum Exempel der Einschub: die Brüder Mikulas.

Auch hier sei – in voller Ansehung der Größe dieser Leute – im Telegrammstil erzählt. Josef Friedrich (1886 bis 1976) und Karl (gestorben 1948), Instrumentalisten aus Wien, in Militärmusikverbänden, auf Europatourneen, vor allem der Ältere ein fabulöser Komponist, in Schrammel-Quartetten und -Trios, Stars der Zwischenkriegszeit (geschätzt von Richard Strauss, Backhaus, Kubelik), auch in den Jazz sich erweiternd, im Film, im Rundfunk. Dichte Leben waren das in vielen Verbindungen. Allein, Ähnliches gab/gibt es in Österreich/Wien im überreichen Ausmaß. Doch vor allem Josef war mehr. Als Komponist von mehr als 100 Werken ist jemand noch immer zu entdecken; es geschieht erst sukzessive; eine Musik, die zum Teil nur mehr mit den Kammermusik-Spitzen nach Brahms verglichen werden kann.

Vielseitig, verblüffend, Astronom,Stempelschneider, Kräutersammler, Astrologe, Katzenheim-Einrichter. Aber mehr – man lese in seiner Musik nach! Er komponierte Akkorde mit acht Tönen – wie in Mahlers Zehnter; man nannte ihn den „Beethoven der Volksmusik“. Kein sonst kluges Lexikon nennt ihn heute. Wann kommt die Mikulas-Renaissance? Von denmehr als 200 Werken der Schrammeln existiert kein Katalog (ein Schrammel-Köchel) oder eine gute Noten-Ausgaben. Um 1980 wurde das zwar als Privatinitiative in Angriff genommen, nach ersten Publikationen scheiterte alles. Ohne öffentliche Subventionen war es trotz Engagements nicht leistbar. Kulturabteilungen und zuständige Ministerien reagierten schon auf Minimalansuchen indigniert.

Man stelle sich vor, andere (Stadt/Land) hätten Schrammeln und Nachfolger als kaum gehobenen Kulturschatz. Doch die Schrammeln sind in ausgezeichneter Gesellschaft. Österreich/Wien ermöglicht auch keine Gesamtausgabe für Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Berg, Webern und andere mehr. Die Edition der Noten/Verzeichnisse Lanners und der Sträusse geschieht nur nach geschäftsbefördernden Richtlinien.

Wien/Österreich suhlt sich im größten Musikschatz der Welt.

(Es entwickelte sich aber eine erfreulich neue Szene. Sie reicht von Live-Musik bis zu Neukompositionen, von – nur um einige Ausgewählte zu nennen – den „Neuen Wiener Concert Schrammeln“ über „Mischwerk“ bis zu „Trio Lepschi“.)

Dass man etwa in den Mahler-Jahren 2010/2011 selbst die geringen Zuschüsse für einen Notendruck seitens des sogenannten Ministeriums für Unterricht/Kultur/Kunst/et cetera gestrichen, dass man zugleich die Teilsubventionierung für die Herausgabe der Schriften Schönbergs eingestellt hat, das macht es noch pikanter, absurder, aber tatsächliche Musikmenschen Österreichs irgendwie verzweifelt-stolz.


Die Presse (29. Juni 2012)



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