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unbekannter Gast

Musik ist Verwandlung#

Betrachtungen über die letzten hundert Jahre#

Von

Harald W. Vetter


Dass es nichts mehr für uns gibt als Vergnügen und Unterhaltung? Dass wir auf alles, was ein Stück weiterführen könnte, freiwillig verzichten, weil es uns ein wenig an Vergnügen und Unterhaltung kosten würde? (Herbert W. Franke, Der Orchideenkäfig, 1961)

Baden bei Wien, Kurpark (an der Hauptallee), Musikpavillon
Baden bei Wien, Kurpark (an der Hauptallee), Musikpavillon (1894),Arena (1906)
Foto: Earnest B. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

THEMA CON VARIAZIONI: Nehmen wir einmal an, wir befänden uns im Sommer 1917 in Baden bei Wien. Vor mehr als einem halben Jahr wurde das Oberkommando der österreichisch- ungarischen Streitkräfte aus dem südpolnischen Teschen aus logistischen Gründen hierher verlegt. Baden war von alters her, spätestens aber seit dem Biedermeier eine beliebte Kurstadt vor den Toren Wiens. Natürlich herrscht nun Kriegszeit und daher Mangelwirtschaft. Zivile Automobile werden daher kaum gefahren sein, dafür umso mehr rasselnde Fuhrwerke, akustische Reize halten sich also in Grenzen. Dafür gibt es vor dem Kurhaus immer noch ein sonntägliches Konzert mit beliebten Operettenmelodien und zwecks innerer Aufrüstung marschiert regelmäßig noch die Regimentsmusik durch die Gassen. Gelegentlich tönen abends noch Klavierklänge und Hausmusiken aus bürgerlichen Villen oder auch orgelbegleitete Dankchöre aus den Kirchen. Und allgegenwärtig sind die Opernarien und ein wenig Unterhaltungsmusik, die ziemlich kratzig und raunzend via Schellackplatten von den Grammophonen abgespielt werden. Sie dringen etwas penetrant aus zahlreichen Häusern und reizen plötzlich die Ohren, die Stille gewöhnt sind. Und möglichweise versucht auch ein invalider Leierkasten – Mann noch sein Glück?

Während des 1. Weltkriegs wurden diverse Funk- und sonstigen Übertragungstechniken naturgemäß immer mehr perfektioniert, darum war es vielleicht kein Zufall, dass sich just im Gebäude des ehemaligen Kriegsministeriums am Stubenring späterhin die RAVAG (Radio Verkehrs AG) inklusive schon vorhandenen Sendemasten etablierte und dort 1924 den regulären Sendebetrieb aufnahm. Der vermutlich erste Radiosender der Welt XWA (Firma Marconi) nahm bereits 1919 in Montreal ein regelmäßiges Programm für Nordamerika auf, später kamen die Schweiz und Deutschland hinzu. Es wurde überwiegend klassische Musik und dezidierte Bildungsinhalte präsentiert, Direktübertragungen folgten natürlich erst etwas später. Ab 1933 führte das NS –Regime millionenfach den sogenannten Volksempfänger ein, ein billiger und moderner Apparat, der in der Folge zum idealen Instrument der Massenbeeinflussung werden sollte.

Kleines Studio der Ravag
Kleines Studio der Ravag
Foto: IMAGNO/Austrian Archives

Doch kehren wir einmal zurück etwa in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der geniale Komponist, charismatische Dirigent und große Musikschriftsteller Hector Berlioz (1803 – 1869) beschreibt in seinen hinreißenden Memoiren (1848 -1854 samt div. Nachträgen) das, was schon Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann und später auch Wagner in ihren Briefen, Tagebüchern und biografischen Aufzeichnungen unisono berichtet haben. Berlioz‘ Konzertreisen führten in quer durch Europa, nach England und Russland, aber selbst im musikbegeisterten Weimar oder Wien musste er sich um die authentische Interpretation eigener und vor allem der ihm besonders am Herzen liegenden Werke Beethovens schier abmühen. Beträchtlicher Dilettantismus herrschte allenthalben, viele Kompositionen waren verfälschend (oder verkürzt) notiert, das Können der Orchestermusiker - zumeist nicht über 40 Köpfe hinausgehend – mehr als mäßig. Überdies wurden ja erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts die ersten Konservatorien eingerichtet, in denen dann wirkliche Professionalsten ausgebildet werden konnten. Doch eines berichten fast alle diese illustren Zeitzeugen: Quer durch alle Bevölkerungsschichten beherrschten viele ein oder mehrere Instrumente zum eigenen Pläsier, bildeten sich Chor-Vereinigungen und Hausmusik – Gruppierungen, fanden sich Sängerschaften und Blasmusikanten (vielfach durch die Militärmusik inspiriert) zum gemeinsamen Spiel zusammen, ob spontan oder organisiert. Joseph von Eichendorff (1788 – 1857), der Dichter der Romantik, beschreibt im Schlussteil seiner berühmten Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1822) das so, als er im Wald auf drei vazierende Studenten trifft: „Ich stand auf einem hohen Berge, wo man zum ersten Mal nach Östreich ~⦋sic⦌ hineinsehen kann, und schwenkte voller Freude noch mit dem Hute und sang die letzte Strophe, da fiel auf einmal hinter mir im Walde eine prächtige Musik von Blasinstrumenten mit ein. Ich dreh mich schnell um und erblicke drei junge Gesellen in langen blauen Mänteln, davon bläst der eine Oboe, der andere die Klarinett, und der dritte, der einen alten Dreistutzer auf dem Kopfe hatte, das Waldhorn – die akkompagnierten mich plötzlich, dass der ganze Wald erschallte. Ich, nicht zu faul, ziehe meine Geige hervor, und spiele und singe sogleich frisch mit.“ 95 Jahre später hat ein Unbekannter ein Foto von vier Soldaten in einer Karstkaverne an der Südfront aufgenommen. Man übt gerade ein Schubert – Quartett ein. Auch das ist ein Aspekt des gemeinsamen Musizierens, nämlich Trost und Ablenkung inmitten der Kriegshölle zu finden, so bizarr dies alles angesichts einer solchen Situation auch sein mag.

1909 hatte der Sachse Hans Breuer – er sollte als Sanitätsarzt 1918 bei Verdun fallen, den legendären Zupfgeigenhansl herausgebracht, der millionenfach nachgedruckt wurde und als das Liederbuch mit Gitarrenbegleitung der Jugendbewegung bzw. des „Wandervogels“ gilt. Volks- als auch Kunstlieder wurden darin thematisch zusammengefasst. Diese Liedsammlung war ein wesentlicher Bestandteil der musikalischen Kommunikation bis weit in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein, welche sogar in der DDR – freilich „gereinigt“ – wieder aufgelegt wurde. Manchmal kann man den Zupfgeigenhansl noch in den verstaubten Bücherecken von Berghütten entdecken, die längst verstimmte oder gar fast saitenlose Klampfe daneben hängend und als solche nur mehr der sentimentalen Dekoration dienend.

Der Zupfgeigenhansl
Der Zupfgeigenhansl von Hans Breuer, Liederbuch der Jugendbewegung, illustriert von Hermann Pfeiffer, hier: 19.Auflage 1920
Aus: scout-o-wiki.de

SEITENTHEMA I: Als typisches „Sommerfrischler – Kind“ bin ich auch heute noch dem Koralm-Gebiet und seinen Menschen sehr verbunden und sehe diese wunderbare Gegend gleichsam als zweite Heimat an. Daher konnte ich den soziologischen Wandel besonders in den späten 60er und 80er Jahren ziemlich gut beobachten. Vor allem war da auch eine wesentliche Veränderung in Sachen Volksmusik hin zu Popularmusik zu konstatieren. Man musste (noch) nicht einmal Ethnologe sein, um zu erkennen, dass zum einen das aktive Musizieren allmählich außer Gebrauch kam, zum anderen sich naturgemäß auch die musikalischen Stile und Sujets radikal änderten. Schlager- und Popmusik hielten Einzug, vor allem waren es zuerst einmal die Beatles und zahllose Schlagesänger aus dem zunächst noch deutschsprachigen Raum, die die Landjugend faszinierte. Festzuhalten ist dazu ferner, dass es natürlich schon nach dem 1. Weltkrieg, d. h. in der Zwischenkriegszeit eine außerordentliche musikalische Beeinflussung in Form des Jazz aus dem nordamerikanischen Kulturraum gegeben hatte, jedoch blieb diese überwiegend auf die größeren urbanen Bereiche beschränkt und wurde schließlich ideologisch stark bekämpft. Die diesbezügliche Akkulturation nach dem 2. Weltkrieg fiel, auch aus politischen Gründen, wesentlich massiver und quasi flächendecken aus, aber bewegte sozusagen diffusionistisch erst die nachwachsenden Generationen - und dies schlussendlich prägend.

In dieser Hinsicht sind für mich mehrere Erlebnisse in eben besagter Region ziemlich bemerkenswert gewesen. Öfters habe ich Geburtstagsfeiern Jugendlicher im Nebenzimmer eines weststeirischen Gasthauses beobachtet. Auf dem Tisch stand stets nur ein sogenannter Ghettobluster, der die Gesellschaft möglichst laut beschallte. Beinahe zur gleichen Zeit jedoch durfte ich einige sich durchaus spontan zusammengefundene Sängerrunden von Bauern und Jägern auf der Soboth oder Brendlalm beobachten, die tatsächlich einen ganzen Tag lang zusammensaßen und gemeinsam ein Lied nach dem anderen sangen, dies notenfest und ob mancher jodelnder Melancholien äußerst berührend. Und sie taten dies nur um der Freude an der Musik willen, nicht aus irgendwelchen touristisch-folkloristischen Gründen. Heute bereue ich es noch, diesen Gesang nicht aufgenommen zu haben. Die Männer waren damals, und das ist schon wieder rund 20 Jahre her, wohl durchwegs in den Sechzigern. Auch erinnere ich mich an so manchen Festakt in der Grazer Burg, an dem ich berufsbedingt teilzunehmen hatte. Öfters einmal wurde die Steirische Landeshymne mangels Textkenntnis schon nur mehr mitgesummt.

Zweifellos ist es doch so (und dies gilt u. a. natürlich auch für Spracheigenheiten, Brauchtum und Hausformen), dass vor allem die Volkskultur eine Art Dynamo ist, dessen Achse aber die Tradition ist. Freilich lässt sich nach einem mehr oder weniger radikalen Traditionsabbruch hier nicht mehr viel überragend Neues und Kulturanregendes erhoffen.

Doch kehren wir zurück zum Hauptthema. Sowohl aktives Musizieren als auch „nur“ passives rezeptives Hören sind von Talenten und Vorlieben gleichermaßen abhängig. Je höher organisiert ein Musikstück ist, desto intensiver wird die aktive wie passive Auseinandersetzung damit. Es mag in unseren Zeiten ja schon fast hochmütig und allzu elitär klingen, aber es gibt sie, die qualitativen Rangunterschiede zwischen Techno, Rap und einer Bach‘schen Fuge oder Beethovens Hammerklavier – Sonate. Ebenso wie zwischen altem tradierten Liedgut und der sogenannten volkstümlichen Musik, die – oft nur computergeneriert – nichts weiter tut, als die brav antrainierten Hörgewohnheiten ad infinitum oder nur da capo al fine zu bedienen. Das gesellschaftliche Problem, dem man sich heute mit solchen Ansichten zu stellen hat, scheint doch ziemlich evident zu sein. Der der Massenkultur geschuldeten Botschaft „Erlaubt ist, was gefällt“, und weiters der Wegfall tatsächlicher Reflexion über graduelle kompositorische Unterschiede haben derzeit ein seltsames Amalgam von Jazz, Pop, Weltmusik und Ethno entstehen lassen, dessen Substanz – in oft bewusster Gegenüberstellung zur Klassik – manchmal peinlich berührt. Wer dies aber eben auch einmal laut oder vielleicht nur leise (!) ausspricht, ist ein rückwärtsgewandter Zeitgenosse und vielleicht noch Schlimmeres. Wer da also behauptet, dass gute Musik sich durch die Verwendung origineller Themen und Motive bzw. einer entsprechend polyphonen Verarbeitung bzw. Kontrapunktik auszeichnet, wird wohl fast überall zu einer Art gesellschaftlichen Randerscheinung degradiert werden. Schlimmer noch, dem solcherart entlarven „Snob“ wird auch noch Ahnungslosigkeit und Provinzialität vorgeworfen - gleichviel!

Was hier zusammenfassend festzuhalten ist, wäre wohl, dass aktives Musikmachen, welches von starker Emotionalität, Kunstfertigkeit, Rhythmusgefühl, haptischem wie intellektuellem Können, vor allem aber doch von empathischem Zusammenspiel gekennzeichnet ist, durchaus ebenso mit einem bewusst teilnehmenden Zuhören und Verstehen eines Musikstückes vergleichbar ist. Beispielsweise die schwierige Fünfte Anton Bruckners analysieren und die Partitur mitlesen zu können, um mit dieser Musik wahrhaft mitzugehen, die verschiedenen Interpretationen zu kennen und zu bewerten, das steht einem eigenen Spiel kaum weniger nach. Man muss es nur wollen, das Hören, das Hineinhören und sich Versenken in ein wundersames Notengeflecht, welches sich zu einem wahrhaftigen Kunstwerk entfaltet, für das das Wort „Verständnis“ niemals die ganz exakte Bezeichnung sein wird.

Wir erleben nun tagtäglich die sprichwörtliche Musikberieselung in Supermärkten, Restaurants, in der U-Bahn und via Smartphone – Benutzer und den Auto-Lautsprechanlagen von nebenan. Diese akustischen Phänomene wirken oft obsessiv und zwingen uns geradezu in eine Passivität hinein, die unheimlicher und gnadenloser nicht sein könnte. Vor allem beeinflussen diese Hintergrundgeräusche unsere Psyche, das Unterbewusstsein und damit unsere gesamte Apperzeptionsfähigkeit. Die reale „Waldeinsamkeit“ (siehe und höre nach bei Johannes Brahms!) beunruhigt nicht nur junge Menschen, die Stille gilt es mit sich stets wiederholenden Rhythmen und nervösem Sprechgesang vollkommen zu überwinden. Warum? Es geht sehr wahrscheinlich die Angst um, sich über seine eigene Existenz Gedanken machen zu müssen, mit ihr eins zu werden. Eine solche Austreibung der Identität scheint gegenwärtig fast überall im Gange zu sein.

Der totale Konsumismus heißt auch, Musik (welchen Stils auch immer) überall und zu jeder Zeit hören zu sollen. Doch hier geht es allerdings nicht nur um ein Plädoyer für die sogenannte ernste Musik, sondern vielmehr um das wirkliche Zuhören, das sich Zeit lassen, ja eben auch um das Erlebnis von Stille und Gelassenheit, das Verweilen im Melos, der Melodie und der Vielstimmigkeit, in die wir letztlich alle existentiell geworfen sind. Der Mensch ist der Platzhalter des Seins und sollte hier zumindest einmal seinem Geist und seinem Unterbewusstsein träumerisch und nicht immer nur schlaflos nachgeben.

Welte-Mignon „Kabinett“
Welte-Mignon „Kabinett“, ein früher Typ des Reproduktionsklaviers ohne Klaviatur, gebaut ca. 1905 bis ca. 1908.
Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

In diesem Zusammenhang erscheint es als ziemlich bemerkenswert, dass das Menschentum spätestens seit der griechischen Antike „Musikmaschinen“ in Form der Äolsharfe kennt. Später kamen im Barock selbstspielende Orgelwerke und Spieldosen dazu. Im 19. Jahrhundert war der Regensburger Erfinder des Metronoms und Mechaniker Johann N. Mälzel (1772- 1838) führend in der Präsentation von diversen automatischen Musikinstrumenten. Dann wurden die riesigen Orchestrions modern, von Walzen und Lochkarten gelenkt, mit Gebläsen, Pfeifen und Schlagzeugen ausgestattet, die sich in den Wirtshäusern und Salons besonders dominant breitmachten. Es waren dies die Musikboxen des 19. Jahrhunderts. Und 1905 gesellte sich noch das berühmte Welte - Mignon - Klavier hinzu, welches uns immer noch schlecht und recht vorgaukeln möchte, dass berühmte Pianisten so oder so gespielt hätten. Allerdings waren dies nur eben rein mechanische und vollkommen unkreative Gerätschaften, die den Menschen der damaligen Zeit reproduzierend allerhand Kompositionen (wenn auch oft völlig verkürzt) zu Gehör brachten. Die Komponisten des 19. Jahrhunderts wussten über die Werke ihrer Kollegen erstaunlich wenig, indessen der penetrante Ohrwurm „Gebet einer Jungfrau“ oder „Für Elise“ seinerzeit aus allen nur erdenklichen Fenstern erklang. Der französische Arzt und Aufklärer Julien Offray de La Mettrie (1709 – 1751) war ein fanatischer Aufklärer der ersten Stunde. Seine Bücher waren sogar in den liberalen Niederlanden verboten. Immerhin wurde er dann ein gern gesehener, sich stets unterhaltsam gebender Tischgenosse Friedrich des Großen. Seine Publikation Der Mensch als Maschine (1748) war sicherlich eine absolute Gegenthese für das spätere Genie Beethovens. Einmal nur vom 18. Jahrhundert ausgehend, arbeiteten Bach, Haydn und Mozart ihre genialischen Vorstellungen in einem kompositorischen Rahmen ab, der mehr oder weniger von ihren Zeitgenossen akzeptiert werden konnte, aber erst Beethoven durchbrach den vorherrschenden Zeitgeist und musikalischen Geschmack dann auch radikal und nachhaltig, was Melodik, Form und vor allem die innere Idee und Logik des Werks betrifft. Ist der musikalische Genius lediglich nur eine Matrize oder Lochkarte, die alles wie ein besseres Uhrwerk abschnurren lässt, oder geht Kreativität und schöpferische Kraft doch weit darüber hinaus?

SEITENTHEMA II: Was die Enkulturation in Sachen Musik betrifft, so wird ein Erfolg wahrscheinlich auch von genetischen wie frühkindlichen Dispositionen abhängen, natürlich ebenso von Zufällen, den richtigen Lehren und Vorbildern. Mein Glück war, dass Großvater, wie wohl eigentlich Techniker, ein wahrer Musikfanatiker war, der das „Wohltemperierte Klavier“ auswendig spielen und analysieren konnte und schon auch einmal die Orgel schlug. Ich musste in der Hietzinger Villa, kaum mehr als 10 Jahre alt, still sitzen und stundenlang Beethoven und Schubert in Schallplattenaufnahmen hören. Das Klavierspiel war ihm wegen der Gicht nicht mehr möglich, und so schenkte er mir schließlich auch seinen Bösendorfer – Flügel. Aber erst einige Jahre später (sicher erst nach einer Beatles – Phase) sprang der Funke auf mich wirklich über. Seitdem habe ich mich stets intensiv mit klassischer Musik beschäftigt und mit ihr überlebt, auch insofern, dass sie mir viele literarische Impulse geschenkt hat. Die Popular- bzw. Unterhaltungsmusik (ersterer Begriff stammt übrigens aus Johann Gottfried Herders 1773 erschienenen Besprechung über schottische und englische Volksballaden. Man kann daher mit Fug und Recht behaupten, dass die „Pop-Musik“ damit etwas zu tun hat!) empfinde ich offen gesagt immer noch als lästige Geräuschkulisse. Manche Jazz-Stile gefallen mir, und vor etwa 20 Jahren entdeckte ich für mich so großartige Musikerinnen und Musiker bzw. Sänger wie Waits, Cash (den späten allerdings), Cave, Billy, Anderson, Dillon und einige andere. Die Meisten von ihnen haben sich nicht ohne Grund dem Kommerz vollkommen entzogen. Dass mein „Hör-Repertoire“ von Gesualdo bis Alfred Schnittke reicht, ist dem fortgesetztem Glücksgefühl geschuldet, Musik verstehen zu dürfen, kontemplativ und hoffentlich auch in Maßen intellektuell.

Herbert von Karajan
Herbert von Karajan probt im Wiener Musikverein mit den Wiener Philharmonikern, Goldener Saal. Photographie. 1966.
IMAGNO/Franz Hubmann

Gelnn Gould
Skulptur nahe einer Parkbank beim Canadian Braodcasting Center in Toronto. Foto: Stephan Powell, Flickr/Wikicommmons

Besonders signifikant sind in punkto Klassik und deren Vermittlung drei große Interpreten, die im 20. Jahrhunderts zumindest drei Jahrzehnte lang durch die Massenmedien Rundfunk und Fernsehen nachdrücklich auf sich aufmerksam machten und damit weite Bevölkerungskreise erreichten und faszinierten. Der sächsische Organist, Cembalist und Dirigent Karl Richter (1926 – 1981) war ein genialer Bach-Interpret, der durch seine Introvertiertheit und dem unbedingtem Willen zur Werktreue in ungezählten TV-Filmen auftrat. Seine Aufführungen bleiben überzeugend und unübertroffen. Herbert von Karajan (1908 – 1989) war als österreichischer Dirigent, Regisseur und Medienfachmann maßgeblich daran beteiligt, die klassische Musik noch einmal breiten Publikumsschichten zu präsentieren. Vor allem seine audiovisuellen Einspielungen von Konzertmitschnitten und von ihm inszenierten Opernaufführungen in Zusammenarbeit mit der Firma Sony stellen Höhepunkte weltweiter medialer Präsenz dar. Doch der herausragendste Künstler mit allergrößtem Einfluss auf die musikbegeisterte Öffentlichkeit war vielleicht der früh verstorbene Kanadier Glenn Gould (1932 – 1982). Als gefeierter, exzentrischer Pianist entzog er sich bereits in den 60er Jahren dem öffentlichen Konzertleben, um nachher in den Aufnahmestudios seine perfekten, aufregenden Interpretationen von Bach bis Schönberg technisch ausgesprochen innovativ einzuspielen. Ja mehr noch, er wirkte in vielen spannenden Musikfilmen (Firma CBS) mit, in denen er die Klaviermusik ungemein mitreißend analysierte. Sein Intellekt, Witz und sein umfassendes Wissen faszinieren auch heute noch. Als Essayist, Komponist und Hörspielautor, der das Radio sozusagen fugenhaft und also vielstimmig zum Einsatz brachte, war und bleibt er ein schier unfassliches Talent, Musik zu erklären und als „Lebensmittel“ gleichsam zu transportieren. Nebenbei: Ich habe öfters Freunden und Bekannten versuchsweise Gould- Interpretationen zu Gehör gebracht. Der überwiegende Teil von ihnen war ganz plötzlich davon völlig eingenommen. Glenn Gould lebte einfach nur für die Musik, das war und ist für die allermeisten eben zu hören und zu spüren. Seine vollkommene Hingebung an die Kunst ist einzigartig, weil er schließlich keinerlei Kompromisse mit dem internationalen Konzertbetrieb mehr eingehen wollte.

Aber auch Gould konnte letztlich nicht gegen die Brandung reden und anspielen. Die gewaltige Flut massenmedialer Überreizungen besonders auf der musikalische Ebene scheint seit einigen Jahrzehnten unsere kognitiven Fähigkeiten ordentlich herauszufordern, ja möglichweise auch ins Schwanken zu bringen. Jugendkulturen und oft nur angebliche Subkulturen sind immer schneller induzierten und kurz ausgelebten Moden unterworfen, wobei die elektronische Klangerzeugung die wichtigste Rolle spielt. Großereignisse, für gewöhnlich „Festivals“ genannt, finden an allen möglichen und unmöglichen Orten statt, die Alpen nicht ausgenommen. Mittlerweile gibt es längst Internet - Dienste, die beinahe alle Musik der Welt, angefangen vom nostalgischen Schlager bis zu Pop- Alben und Klassik zwecks Herunterladens zur Verfügung stellen, was via Handy oder PC dann auch problemlos konsumiert werden kann. Die totale Verfügbarkeit von allem und jedem und jederzeit macht das musikalische Erlebnis zu einem mehr oder weniger banalen Ereignis, das kein Glücksgefühl mehr aufkommen lässt.

Nebenbei und ganz aktuell: Eine recht anschauliche oder besser gesagt hörbare Rolle spielt in dem Zusammenhang beispielsweise der deutsche „Wundergeiger“ David Garrett (David C. Bongartz), der 1980 in Aachen geboren, sich als ausgesprochener Crossover – Musiker gibt. Von der Kritik ironisch als „David Hasselhoff der Klassik“ bezeichnet, scheute er zum Beispiel nicht davor zurück, 2013 den Niccolò Paganini im Film „Der Teufelsgeiger“ zu geben. Seine Konzerte sind stets ausverkauft und die Fangemeinde gewaltig. Garrett hat obige Häme stets als „Musik-Snobismus“ zurück gewiesen und möchte mit seinen Auftritten und Einspielungen ausdrücklich Menschen erreichen, die ansonsten der klassischen Musik fern bleiben würden, offenbar mit Erfolg. Auch das ist vielleicht ein Weg hin zu einer neuen Klassik- Rezeption.

SEITENTHEMA III: Ich erinnere mich noch gut, wie ich mir Zug um Zug zuerst einmal alle Beethoven- Klaviersonaten auf Langspielplatten kaufte. Damals gab es noch spezielle Läden dafür, aber manches musste erst mühsam bestellt werden. Dann kam Brahms, Bruckner und Wagner dran, die innovative CD war schließlich insofern ärgerlich, weil ich gewisse, sehr geliebte Interpretationen (zunächst einmal) nicht bekam, während die Platten längst reichlich zerkratzt waren. In Mathematik war ich eine ausgesprochene Niete, so dass ich – dies auch neigungshalber – ins „Musisch –pädagogische Realgymnasium“ überzuwechseln hatte. Aber die Enttäuschung war ob der mangelnden musikalischen Ausbildung doch beträchtlich. Hatte ich zuvor als engagierten Musiklehrer (leider eben auch aus Mathematik!) einen bekannten steirischen Komponisten und Chorleiter, nämlich Prof. Emil Seidl als Lehrer, der uns auch wirklich viel beibrachte und vermittelte, war nun der Musikunterricht eine langweilige Pflichtangelegenheit geworden. Die dortige Lehrerin spielte uns lediglich meistens Schallplatten vor, insbesondere Beethovens Kracherstück „Wellingtons Sieg“ (Mälzel lässt grüßen!), Tschaikowskis Ouvertüre „1812“ und Debussys drei sinfonische Skizzen „ La Mer“. Meine Mitschüler langweilten sich, und ich mich leider noch viel mehr. In unserem Klassenzimmer stand pflichtschuldig ein alter, braun furnierter Stutzflügel mit scheppernder Wiener Mechanik. Die lieben Schulkameraden hämmerten auf dem längst völlig verstimmten Instrument die neuesten Stücke aus den Hitparaden herunter, schütteten schließlich Colas auf den Resonanzboden, trampelten auf dem Klavier herum und zerstörten es damit endgültig. Sicher, es waren dies wohl auch die unmittelbaren Auswirkungen der 68er- Ära mit dem unsinnigen Slogan „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“ Mich erbitterte dies freilich alles sehr, denn das Phantasieren daheim am Flügel war mir angesichts des scheußlichen Schulalltags immer ein Trost gewesen, leider wurde ich jetzt offenbar auch noch dafür ausgelacht.

Dmitri Shostakovich
Dmitri Shostakovich`s portrait, in the audience at the Bach Celebration of July 28, 1950.
Foto: Photo by Roger & Renate Rössing. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 3.0

In punkto Klassik führt die geräuschgeprägte elektronische Musik derzeit eher ein bescheidenes Nischendasein, so wie es auch die Avantgarde der 50er und 60er Jahre schlussendlich nicht zum vollen Durchbruch gebracht hat (siehe u. a. die „Donaueschinger Kulturtage“), auch wenn die div. Konzertprogramme damit öfters amalgamiert wurden. Tatsächlich kamen wieder einmal aus dem Osten das Licht und der Melos. Polystilistische Kompositionen vor allem aus dem Baltikum und aus Russland prägten die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts, wohl auch beeinflusst durch den großen Dimitri Schostakowitsch. Schnittke, Pärt, Silvestro, Gubaidulina oder Kancheli brachten wieder romantische Passagen und damit auch den Dreiklang zurück in den musikalischen Kosmos, gerade weil er des Menschen Recht und Sehnsucht ist. Auch verschiedene deutsche und amerikanische Komponisten scheuen heute längst nicht mehr davor zurück, tonale Elemente gleichberichtigt neben atonalen und seriellen zu stellen. Die strikten, beinahe glaubensmäßigen Kompositionsgebote wurden im Sinne einer offenen, polystilistischen Postmoderne endlich gesprengt. Gleiches gilt für die bildende Kunst und die Literatur, in Sonderheit für die lyrische Dichtung.

Zweifellos ist die Digitalisierung in unserem Zeitalter auch für die Musik eine riesige Chance, ihren Bestand zu halten und auszubauen. Man denke nur zurück ins 19. Jahrhundert, wo man einfach noch zu lernen hatte, Partituren richtig zu lesen, um Unaufgeführtes eben zureichend hören und interpretieren zu können oder zu transkribieren. Überschattet wird das alles immerhin davon, dass wir nicht einmal wissen können, ob diese ganzen digitalen Dokumentationen bzw. Datenmengen die nächsten Jahrzehnte rein technisch – physikalisch bzw. chemisch überdauern werden. Sogar die uns seinerzeit als quasi unzerstörbar angepriesenen CDs zeigen längst schon Ermüdungserscheinungen und man weicht nun auf andere Speichermöglichkeiten aus.

Musik, welchen Stils auch immer, ist Verwandlung unseres Selbst. Allerdings nur dann, wenn wir sie bewusst reflektierend in uns aufnehmen und nicht bloß als „Pausenfüller“ für Langeweile oder gar für die uns manchmal so beunruhigende Stille wahrnehmen. Fraglich ist, wie weiter oben schon angedeutet, insbesondere die Haltbarkeit aller audiovisuellen Bildträger. Vielleicht muss Menschheit Acht geben, dass sie nicht im Herbert W. Frankes sprichwörtlichen Orchideenkäfig landet, wo von Robotern den von Menschen nur mehr vorhandenen Gehirnen Träume und Gedanken eingegeben werden. „Ein armer Hirnhund“ dichtete schon der notorisch ungehorsame Berliner Pastorensohn Gottfried Benn 1913 in seinem expressionistischen Gedicht Untergrundbahn.

FINALE: Auch wenn die Konzert- und Kammermusik - Säle immer mehr Endsechziger frequentieren, ist es wohl so, dass eher erst in späteren Jahren ganz verstanden wird, dass genial organisierte Werke uns viel mehr schenken können, als ehedem gefühlt und gedacht. Viele junge Menschen streben auch gegenwärtig noch nach einer umfassenden musikalischen Ausbildung, weil dies für sie ein regelrechtes Abenteuer ist, eine Reise ins eigene Innere. Musik wirklich zu verstehen, bedarf allerdings einer kreativen Heranführung in frühester Jugend. Dass hier ein realer Traditionsabbruch besteht, ist nur allzu evident. Umso mehr hätte man sich wieder um die Forcierung der musischen Fächer zu bemühen, damit nicht die Rede von der „Musiknation Österreich“ immer mehr zur Schönfärberei und Phrase verkommt. Unlängst erst bekannte eine Musikpädagogin in Ö1 ein, dass auf ihre Frage, wer denn Anton Bruckner gewesen sei, nur ganz Wenige in der Mittelschulklasse darüber Bescheid gewusst hätten. Eine Abfrage über die derzeitigen Charts wäre wahrscheinlich erfolgreicher verlaufen. Das stimmt natürlich einigermaßen nachdenklich. Die Förderung musischer Begabungen ist für Geist und Körper, vor allem aber auch für die Sozialisation im Gesellschaftsganzen von enormer Bedeutung. Harmonik, Melodik und Rhythmus sind gleichsam Seelenbrücken, die existentielle Abgründe überwinden helfen. Eine möglichst spannende und emotionale Heranführung an Musik und Musikalität ist genauso essentiell wie Ausdruckstanz, Turnen oder eben die Beibehaltung und Pflege der je eigenen Handschrift.

Bundeskapelle Schattwald
Blasmusik: Bundeskapelle Schattwald, Ti. Foto, um 1978
© Ch. Brandstätter Verlag, Wien, für AEIOU

Beruflich war ich zuletzt mehr als 10 Jahre lang von Amts wegen für die volkskulturellen und musealen Angelegenheiten der Steiermark verantwortlich, unter anderem auch für die Förderung der Chormusik und des Blasmusikwesens. Hunderte dieser Gemeinschaften sind in ausgesprochen aktiven Dachverbänden organisiert. Insbesondere auf dem Land führen Chorgruppen und Kapellen unzählige junge Leute an die Musik heran und nicht selten geht diese Ausbildung an Konservatorien und Musikhochschulen weiter und mündet dann in so manche Karriere ein. In diesem Zusammenhang sollte man übrigens niemals übersehen, dass solche oft lebenslangen Gemeinschaftsbindungen von beträchtlicher sozialer Relevanz sind. Sie stützen und halten die Gesellschaft.

Das gilt für jegliche Art und Stilrichtung der Klang- und Gesangskunst: Es gibt nur gute und schlechte Musik, und es sind selbstverständlich entsprechende, bereits weiter oben angedeutete Kriterien dafür vorhanden, wenn man sich diese nur einmal „er-hören“ möchte. Musik ist Verwandlung der Realität in die Transzendenz, wenn sie gelingt. Und darüber werden auch die sprichwörtlichen Hörgewohnheiten so vieler Zeitgenossen niemals hinwegtäuschen können. Diese Betrachtungen sind naturgemäß rein subjektive und lediglich auf entsprechende Lebenserfahrungen begründet.

Der begnadete Glenn Gould schrieb einmal über Kunst und Musik: „Der Zweck der Kunst ist nicht die Auslösung einer kurzzeitigen Adrenalinausschüttung, sondern vielmehr die allmähliche, ein Leben lang dauernde Schaffung eines Zustandes des Staunens und der Heiterkeit.“ Wollen wir also weiter darauf hoffen? Nein, wir müssen es.

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