Robert-Tarek Fischer: Richard I. Löwenherz #
Robert-Tarek Fischer: Richard I. Löwenherz. Ikone des Mittelalters. (2. überarb. Auflage) Böhlau Verlag Wien - Köln - Weimar 2019. 328 S., ill., € 23,99
König Richard I. Löwenherz starb vor genau 820 Jahren, doch sein Mythos ist ungebrochen. In Österreich kennt jedes Kind die Geschichte vom treuen Sänger Blondel, der seinen gefangen gesetzten Herrn quer durch Europa sucht, und ihn in der Burg Dürnstein findet. Erkennungsmerkmal soll ein Lied gewesen sein, das nur die beiden kannten. Als Blondel es anstimmte, erklang die zweite Strophe aus dem Burgverlies. Johann Gabriel Seidl, der Textdichter der Kaiserhymne, schrieb die Ballade "Blondels Lied", die Robert Schumann 1840 vertonte.
Der Legendenbildungsprozess begann schon zu Lebzeiten Richard I., der zur Schlüsselgestalt des Hochmittelalters wurde. Als Meister der Propaganda und Selbststilisierung erwies er sich großzügig gegenüber umherziehenden Sängern und Spielleuten, die seinen Ruhm verbreiteten. Auch das "goldene Zeitalter der Historiographie" in England erlebte zu seiner Zeit einen Höhepunkt. Im Lauf des Mittelalters kamen phantasievolle Verklärungen in Ritterromanen dazu. In der Barockzeit entstanden Opern, in deren Mittelpunkt Löwenherz stand. Im 19. Jahrhundert wurde der englische König zur nationalen Symbolfigur, weithin sichtbar als monumentale Reiterstatue vor dem Parlament. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg fungierte er als Vorbild der Soldaten. Andererseits wurde er von Film und Fernsehen, Pop und Rockmusik vereinnahmt. Der anlässlich der Fußball-WM 1996 veröffentlichte Rocksong "Three Lions" beherrschte mehrmals die Hitparaden. Er geht auf Richards Siegel zurück, das er 1198 einführte. Bis heute zeigt das Wappen Englands die drei schreitenden goldenen Löwen auf rotem Grund.
Die beispiellose Mythenbildung machte aus Richard Löwenherz eine historische Gestalt von immensem Bekanntheitsgrad, schreibt Robert-Tarek Fischer. Der österreichische Historiker charakterisiert den Herrscher als oftmals hintergründig vorgehenden Monarchen, der nicht zuletzt aufgrund seines individuellen politischen Handelns eine Schlüsselfigur seiner Epoche darstellte. Und auch auf anderen Ebenen erwies sich Löwenherz als komplexe Persönlichkeit, die in vielen Bereichen - nämlich Organisation, Diplomatie, Strategie, Selbststilisierung, Dichtung, Mäzenatentum, ja selbst Architektur -, ihre Wirksamkeit entfaltete und sich daher eindimensionalen Erklärungsmodellen entzieht.
Mit der Seriosität des Historikers, der Gewissenhaftigkeit des Ministerialbeamten und dem Durchblick des Kommunikationswissenschaftlers hat der Autor mehrfach zur Geschichte des Hochmittelalters, des 19. und frühen 20. Jahrhunderts publiziert. Sein Werk über Löwenherz, die "Ikone des Mittelalters", reicht weit über die allgemein bekannten Überlieferungen hinaus. Es beginnt mit der Familiengeschichte der Plantagenets. Richards Eltern, Heinrich Plantagenet und Eleonore, Herzogin von Aquitanien, gelang binnen weniger Jahre eine Machtexpansion der Superlative. Ihr Angevinisches Reich erstreckte sich von Schottland bis zu den Pyrenäen. Allerdings unterstand es der Lehnsherrschaft des französischen Königshauses der Kapetinger und damit dem Gutdünken König Ludwig VII. von Frankreich. Genau von diesem hatte sich aber Eleonore scheiden lassen, um Heinrich zu heiraten. Während ihrer ersten Ehe "nur" zwei Töchter entstammten, schenkte sie Heinrich die acht Kinder Wilhelm, Heinrich, Mathilde, Richard, Gottfried, Eleonore, Johanna und Johann. Bildung wurde in der Familie als außerordentlich hohes Gut betrachtet. Richard lernte seit seinem 5. oder 6. Lebensjahr Sprachen, Musik, höfische Umgangsformen und ritterliche Fähigkeiten. Bald erwies er sich als hoch talentierter Feldherr und Truppenführer, instinktsicher in Strategie und Taktik, trickreich und flexibel, vorangetrieben von jäher und wilder Energie.
Als Thronfolger auf schwankendem Boden hatte er zahlreiche Machtkonflikte mit seinem Vater und den jüngeren Brüdern zu bestehen. Seine Mutter Eleonore, die zwischenzeitlich eine 15-jährige Haft verbüßen musste, erhob sich wie ein Phönix aus der Asche und unterstützte ihn bis an sein Ende. Nach dem Tod ihres Gatten Heinrich II. erwies sie sich in England als kluge Regentin. Sie verstand es, ihrem Sohn Richard, als zukünftigem König, die nötige Popularität zu verschaffen. Seine Krönung in Westminster 1189 stellte in ihrem Zeremonienreichtum sowie ihrer Prachtentfaltung alle bisherigen englischen Krönungsakte in den Schatten. Mutter und Sohn erwiesen sich als Meister für die Inszenierung symbolträchtiger Handlungen. Die Inthronisation blieb Jahrhunderte lang Vorbild solcher Zeremonien.
Das Bild von Richard Löwenherz ist untrennbar mit den Kreuzrittern verbunden. Nach deren Misserfolg beim Zweiten Kreuzzug (1147-1149) rief Papst Gregor VII. 1187 zu einem Dritten auf. Richard erklärte sich spontan zur Teilnahme bereit und verfolgte das Ziel konsequent. Nach einem perfekten Finanzierungsplan und mit einer professionellen Armee (ohne nicht kämpfende Teilnehmer) erschien es ihm erreichbar. 1190 brach er mit 15.000 Mann über das Mittelmeer in den Orient auf. Die Reise dauerte fast ein Jahr. In der Zwischenzeit war der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa gestorben, sodass nur Richard und sein Widerpart, Philipp II. von Frankreich, als Heerführer agierten. Zusammenfassend schreibt Robert-Tarek Fischer: Während des Dritten Kreuzzugs erreichte Richard I., was sich unter schwierigen Umständen erreichen ließ. Das ursprüngliche Hauptziel, die Rückgewinnung Jerusalems, wurde allerdings verfehlt. Löwenherz stoppte Saladins Siegeslauf, eroberte die Küstenlinie Palästinas, sorgte für die Wiedererrichtung des Königreichs Jerusalem und eroberte Zypern, wo ein neuer Kreuzfahrerstaat entstand. Dort heiratete er auch 1191 - nicht seine Verlobte, sondern Berengaria, die älteste Tochter von König Sancho VI. „dem Weisen“ von Navarra - wovon er sich politische Vorteile versprach. Die Braut musste in den Orient reisen, wurde zur Königin von England gekrönt und erlebte den Sieg von Akko mit. Getrennt von ihrem Mann trat sie 1192 die Heimreise an. Dem Kreuzfahrerkönig selbst war die Rückreiseroute versperrt. König Philipp II. drohte, ihn gefangen zu nehmen, sollte er sein Gebiet betreten. Gleiches schlug der Franzose Kaiser Heinrich VI. vor, der gerne einwilligte. So blieb nichts anderes übrig, als den Umweg über die Adria zu nehmen und Mitteleuropa auf dem Landweg zu verlassen. Hier kam Richard jedoch in das Einflussgebiet des kaisertreuen Babenberger-Herzogs Leopold V. von Österreich, mit dem er sich in Akko überworfen hatte. Er wurde ergriffen und ergab sich Leopold V. Diesem war vor allem die fünfzigprozentige Beteiligung an dem Lösegeld wichtig, das der Kaiser forderte, und das sich letztlich auf 150.000 Mark in Silber belief. Der Babenberger finanzierte damit die Erweiterung seiner Residenzstadt sowie die Gründungen von Wiener Neustadt und Friedberg.
Der Autor nennt die Gefangennahme "die größte Erpressungsaffäre des Mittelalters". Er lässt sein Buch nicht damit enden, sondern behandelt noch die - nicht minder konfliktreichen -Kapitel der Rückkehr, den Kampf um Frankreich (1194-1196) und den Zenith der Macht. Richard Löwenherz starb 1199 auf einem Erkundungsritt. Zu spät hatte er in der Dämmerung einen einsamen Pfeilschützen im Turm der Burg Chalus Chabrol erkannt. In Anbetracht seines bewegten Lebens mag es schlüssig erscheinen, dass er sein Leben mit frischem Siegeslorbeer und an der Schwelle des Triumphes beendete.