Das hoch gelegene Extrazimmer#
(Der Project Space des SPLITTERWERK)#
von Martin KruscheEine meiner Notizen aus dem Jahr 2005 lautet: „Was wir benennen, verändert sich dadurch. Beschreiben heißt gestalten. Definition drückt Macht aus. Das Codieren, als grundlegender kultureller Prozess, erschafft die Welt, in der wir jeweils leben. Code generiert Räume.“ Das war keine Mitteilung bahnbrechender Erkenntnisse, dank derer sich die Welt anders drehen würde und jemand ins Grübeln käme, ob ich denn nun für einen Nobelpreis in Betracht käme. Es war bloß angewandte Reflexion.
Es ist die Hauptfunktion, die das Scheiben für mich hat. Reflexion. Als praktizierender Schriftsteller bin ich daher in einem permanenten Reflexionsprozess, allerdings ohne jeden Anspruch auf Einfluss bezüglich des Laufes der Welt. Und wo nicht einmal das Große Verdienstkreuz der Republik für mich reserviert wurde, wird wohl auch aus dem Nobelpreis nichts werden. Man könnte sagen, ich sei ein Mann von erheblichem Fleiß, aber ohne nennenswerte Meriten.
Wäre noch zu präzisieren, dass es ein großes Verdienstkreuz der Republik gar nicht gibt. Was dem aber nahe kommt, ist eine Brustdekoration (korrekte amtliche Bezeichnung), das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, welches als Ritterkreuz I. Klasse gilt. (Ich müsste so was als Republikaner vermutlich ablehnen, würde aber die gratis Drinks bei der Verleihung nehmen.)
Die eingangs erwähnte Notiz bezog sich auf ein Exponat beim "NCC03". Das war der Netart Community Congress des Jahres 2003 im Grazer Dom im Berg. (Netart, Net Art, Netzkunst.)
Damals war vom Kollektiv SPLITTERWERK der "Interspace T#7" installiert worden, eine Raumsituation, die durch Telekommunikationstechnik einen betretbaren Raum in zwei Teile gesplittet hat, welche sich physisch an verschiedenen Orten befanden, aber kognitiv eins sein konnten. Das darf man vermutlich als eine Analogie zu Hypertext deuten. Es ist egal, wo die Daten physisch liegen, denn logisch kann man sie nach Bedarf vor sich montieren, bearbeiten. So habe ich in meiner Reminiszenz von 2005, die sich auf ein Ereignis von 2003 bezog, ohne jede Rücksicht auf das eigentliche SPLITTERWERK-Konzept weiter gedacht und dazu notiert:
„Architektur gestaltet Räume. Räume haben Oberflächen. Diese werden mit Texturen belegt. Man ahnt, ‚der Text’ und ‚das Textil’, davon handelt ja ‚Textur’ gewissermaßen, sind beides Geflechte, Sinn- und Stoffgeflechte zur Beschreibung und Beschriftung von Oberflächen. Neben dem Schreiben, das Botschaften aufträgt, stützt sich ‚In-Formation’ gelegentlich auch auf das Ritzen, Eingravieren, das durch die Oberfläche und in den Raum dringt. Die Außenhaut einer Stadt ist sozusagen mit einem Ensemble von Statements belegt. So gesehen ‚sprechen’ Räume und ihre Oberflächen zu uns. Sie richten uns allerhand aus. Sie sind Medien für Botschaften. Sie tragen Codes.“
Darin liegt ein Hinweis, wie das Interdisziplinäre im Gegensatz zum Multidisziplinären angelegt sei, was mich übrigens seit 2015 wieder verstärkt beschäftigt hat, als wir auf dem Weg zum damaligen Kunstsymposion von Kultur.at und Kunst Ost waren. Um es am SPLITTERWERK festzumachen: Sie ertragen, dass ich mich als branchenfremde Kraft auf ihrem Terrain ihrer Mittel bediene, um für mich etwas herauszufinden. Das hat ganz konkret mit den beiden SPLITTERWERK-Hauptverantwortlichen Edith Hemmrich und Mark Blaschitz eine langjährige Vorgeschichte. Soweil das „Inter-“, das „Multi-„ wär dagegen bestenfalls ein nettes Treffen inspirierter Leute, ohne dieses ineinander Übergehen der Möglichkeiten.
Der erwähnte „Interspace T#7“ vom „NCC03“ war die erste SPLITTERWERK-Arbeit, mit der ich mich näher befasst hab. Dem folgte über die Jahre eine ganze Reihe weiterer Schritte der Begegnung und Auseinandersetzung, in denen es gelegentlich vorkam, dass ihre Arbeit mein Denken befördert hat, um zu Momenten zu führen, die von ihren Überlegungen eigentlich nichts mehr an sich hatten. Es war also anregend, von ihrer Arbeit auszugehen. Man braucht dazu Menschen, die so was aushalten, damit sich derlei Prozesse entfalten dürfen. Die findet man keineswegs an jeder Ecke.
Ich hab übrigens damals, 2003, gemeinsam mit Maler Josef Schützenhöfer meine „Verschwundene Galerie“ realisiert, die einen mobilen Raum mitten im „Realraum“ mit dem „Virtuellen Raum“ verknüpfte. (Zwiebelschichten von Ereugnis- und Erzählebenen.) Ich kann diese beiden Termini, mit denen wir seinerzeit ganz bedenkenlos Schlitten fuhren, heute nur noch unter Anführungszeichen setzen. Mir scheint, die Philosophie und die Kognitionswissenchaften würden es uns sonst Hand in Hand um die Ohren hauen, wollten wir dem analogen Raum (als Raum der greifbaren Dinge) a priori den Rang eines Referenzpunktes für Realität zuschreiben, an dem sich andere Realitäten messen müssten, wobei dann mutmaßlich mindestens die Radikalen Konstruktivisten in schallendes Gelächter ausbrechen würden.
Die Begrifflichkeit „Virtuelle Realität“, solchem Kontext ausgesetzt, wackelt erheblich, was ganz flott Risse in die Wände des „Virtuellen Raumes“ fabriziert. Hatte nicht Aristoteles Virtualität und Aktualität in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt? Das Virtuelle (als das Werdende) erscheint mir da als eine Vorbedingung für das Aktuelle (als das Seiende). Aristoteles meinte, das Telos (Ziel, anzustrebender Zustand) des Entstehens sei mit dem Virtuellen im Beginn des Entstehens vorweggenommen, liege also virtuell in der Zweckursache. (Ja, solche Sätze muss ich selbst meist zwei mal lesen, um die Kurve zu kriegen.)
Virtualität und Aktualität sind da auf einem Zeitpfeil gewissermaßen als eine Wenn-Dann-Angelegenheit angeordnet. Aktualität hat dabei die Virtualität zur Voraussetzung. Virtual Reality scheint mir dagegen keine vergleichbare Funktion zu besitzen, sondern ist eher eine für sich stehende Variante unter mehreren Möglichkeiten der Realitätskonstruktion, wobei man es bei entsprechender Laune belassen kann. Ich meine, aus der Virtual Reality muss man keine andere „Realität“, etwa eine analoge, machen. Sie kann für sich bestehen. (Das wäre dann nicht all zu aristotelisch.)
Ich hatte immer wieder Gelegenheit, mich mit der SPLITTERWERK-Crew über verschiedene Fragen auseinanderzusetzen. Im Jahr 2005 waren wir übrigens auch mit einem „Das Ineinaderschieben von Annahmen und Arbeiten“ beschäftigt. Aus diesem Abschnitt habe ich gerade drei Blätter wiedergefunden, die zeigen, wie derlei Verzahnungen gelegentlich stattfanden. Darin entdecke ich so beunruhigenden Behauptungen wie: „Die ‚Zähmung des Blickes’ ist ein kultureller Akt der Zurichtung.“
Genug der Retrospektive. Wir sind vergangenes Jahr wieder für Momente in einer gemeinsamen Gegenwart angekommen. Das intensive Licht einer tief stehenden Sonne über dem Espresso, der so schwarz wie die Nacht vor mir hockte, im dreizehnten Stockwerk jenes Hauses, das mich sehr an die Türme von Zemun (Belgrad) erinnert. Hochhäuser aus vergangenen Tagen mit all ihren Gebrauchsspuren, mit ihren engen Aufzügen und dieser eigenartigen Stimmung, weil man im Treppenhaus irgendwie spürt, dass in dieser Kubatur so viele Lebensgeschichten verdichtet sind. Das verzweigte sich jüngst auch an meinen Tisch, um neue Aufgaben greifbar zu machen.
Ich habe eben erst, am nämlichen Tisch, mit einem anderen Dauergast im jüngeren Teil meiner Biographie aktuelle Fragen erörtert, wohin es uns gebracht hat, dass wir vor Jahren darangingen, ein Wechselspiel zwischen Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft zu forcieren. Damit war seinerzeit Horst Fickel befasst, Ingenieur wie auch Mirjana-Peitler-Selakov, die damals Teil dieses Trios gewesen ist. Fickel hat mir eben ein Blatt aus dem Archiv zugeworfen, auf dem folgender Satz vorkommt: „Das bringt uns zu so amüsanten Vorstellungen wie es könnte eine ‚Kunst des Funktionierens’ und eine ‚Technik der schönen Lösungen’ geben.“
Sie sehen, ich habe einiges zu berücksichtigen, wenn ich demnächst als Mann mit Vergangenheit den Project Space betreten werden, um dort ein Kapitel aufzuschlagen, dessen Umfang noch nicht klar ist. Damit verweise ich auf das hoch gelegene Extrazimmer in jenem etwas zerschrammten Turm im südöstlichen Teil von Graz.
Dazu heißt es: “Edith Hemmrich and Mark Blaschitz will give their current and very personal insight into their world with a selection of both new and established positions of their local and international environment.” Das ist ein Satz, mit dem die beiden auf den Project Space zeigen. Um es kurz zu machen:
SPLITTERWERK and Friends present:
Martin Krusche spricht
Icarus on Asphalt. The Rage. A Text.
Reading and Exhibition
Thursday 22. March 2018
Das bedeutet, hier greifen wieder einmal Kompetenzen aus ganz verschiedenen Genres ineinander und niemand weiß, wohin das führen wird. Publikum ist übrigens zugelassen. Ich hoffe, das lässt erkennen, wie sich darin ein Prozess abzuzeichnen begonnen hat, der von den verschiedenen Beteiligten in unterschiedliche Richtungen weitergetragen wird.
Die anschließenden Maßnahmen seitens SPLITTERWERK sind schon in Arbeit. Ich trage etwas davon in "Die Quest" hinein, worüber man in "Pathos und Ethos" etwas erfährt. Über Optionen in der Zusammenarbeit mit Horst Fickel wird demnächst mehr erfahren zu sein. Wäre vielleicht noch ein Satz zu zitieren, den William Gibson und Bruce Sterling in ihren Roman „Die Differenzmaschine“ gestanzt haben: „Man kann regelrecht verrückt werden, wenn man immer diese kleinen Löcher anstarrt.“