Notiz 070: Polanyi#
(Der Kampf zwischen Markt und Gesellschaft)#
Von Günther Gettinger#
Karl Polanyi hat die immanenten Gefahren einer radikalen Marktwirtschaft präzise analysiert: Marktwirtschaft funktioniert nur gut im Rahmen politischer und gesellschaftlicher Einbettung. Andernfalls zerstört die radikale Marktlogik den gesellschaftlichen und ökologischen Zusammenhalt der von ihr um- und erfassten Menschen und deren Umwelt. Denn Menschen, Umwelt und Geld sind mehr und anderes als nur Waren.
Und dieses 'mehr und anderes' lässt sich nicht ohne schwerste soziale und politische (psychosoziale und ökologische) Folgen auf die 'Warendimension' reduzieren. Daher, so Polanyi, bauten die Nationalstaaten ihre Interventionssysteme und -mächte parallel zum Erstarken der Marktwirtschaft aus (er nennt das 'Doppelbewegung'). Andernfalls zerbricht die Marktwirtschaft an ihren immanenten Widersprüchen. Aber auch diese 'Doppelbewegung' ist historisch gescheitert: im Faschismus und Stalinismus.
Auch das sozialstaatliche Modell der 'sozialen Marktwirtschaft' nach Ende des Zweiten Weltkriegs (es verfolgte in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts den Anspruch, Staat und Markt in Balance zu halten) ist gescheitert.
Karl Polanyi erzählt uns die Geschichte des Kampfes zwischen Markt und Gesellschaft. Für Polanyi stellt der Liberalismus ein „neues Glaubensbekenntnis“ dar, das „alle menschlichen Probleme (…) durch das Vorhandensein einer unbeschränkten Menge materieller Güter“ lösen wollte. Dies bedeutete zwangsläufig, dass menschliche Arbeit, die natürlichen Gegebenheiten des Bodens und das Symbol Geld güterförmig gemacht und in Waren transformiert werden mussten. Die Durchsetzung dieser Warenfiktion führte für Polanyi zu einer „katastrophalen Erschütterung des Lebens der einfachen Menschen“, in der ihre sozialen Beziehungen zersetzt und neu am Markt ausgerichtet wurden.
Neben Anfangs- und Schlusspunkt fängt der Prozessbegriff „Transformation“ also die permanente Umwälzung ein, die der Liberalismus der Gesellschaft in seinem Willen zur Intensivierung und Ausbreitung ‚antut‘. In traditionellen Ökonomien sei der Tausch von Waren stets durch soziale Fragen um Prestige, Werte und Selbsterhalt motiviert gewesen. Die Idee der Marktwirtschaft habe mit dieser gesellschaftlichen Einbettung der Ökonomie gebrochen und die Menschen aus dem Schutz ihrer soziokulturellen Verwurzelung gelöst.
Diese Rodung sei aber nicht folgenlos geblieben. Weil sich die Ökonomie gegen die Grundlagen der Gesellschaft wandte, brachte diese laut Polanyi immer neue Schutzmechanismen hervor. Gegen den liberalen Arbeitsmarkt wehrte sich die Gesellschaft mit umfangreichen Sozialgesetzgebungen, gegen den Freihandel wurden Schutzzölle für bestimmte Wirtschaftszweige erlassen und gegen den Goldstandard, der regelmäßig zur Abwertung der nationalen Währungen führte, entstanden Zentralbanken, die die nationale Wirtschaft protegierten.
Diese charakteristische Doppelbewegung der Marktgesellschaft führte laut Polanyi in eine „Sackgasse“: Zum einen reagierte der Staat auf die Marktutopie mit immer neuen Protektionen, die im Widerspruch zum liberalen Außenhandel standen. Ein „abgekapselter Typus der Nation“ geriet in Spannung zum internationalen System. Zum anderen wurde dies durch die Polarisierung der sozialen Akteure unterfüttert: Die Arbeiter verteidigten die nationale Politik, die Großunternehmer die internationale Ökonomie. Die marktliberale Trennung von Ökonomie und Politik führte letztlich dazu, dass beide aufeinander losgingen. Hierfür habe der Faschismus einen Ausweg geboten, indem er die gesellschaftliche Einheit zum Programm erhob.
Polanyi wollte die These beweisen, »dass die Ursprünge der Katastrophe (von Weltkriegen, Großer Krise und Faschismus) in dem utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus zur Errichtung eines selbstregulierenden Marktsystems lagen.
Er zeigt auf, wie die »Grundlagen der Zivilisation des 19. Jahrhunderts, das Kräftegleichgewicht (der europäischen Mächte), der Goldstandard und der liberale Staat« nach und nach zusammenbrachen, wie die Doppelbewegung an ihr Ende kam – erst im Ersten Weltkrieg und dann Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre. Alle diese Grundlagen von Zivilisation seien »letzten Endes von einer gemeinsamen Matrix, dem selbstregulierenden Markt, bestimmt gewesen«.
Die Doppelbewegung ging, so Polanyi, von dieser Matrix einer Marktgesellschaft aus; und so waren es am Ende beide Seiten der Doppelbewegung, die des Ausbaus der Marktregulierung wie die des sozialen Schutzes, die diese Zivilisation zugrunde richteten.
Das spontane Zusammenspiel der sozialen Interessen der unterschiedlichen Klassen, das er so brillant für England im 19. Jahrhundert dargestellt hatte, sah er mit dem Ersten Weltkrieg und den Krisen der 1920er Jahre als gescheitert an.
Pragmatisch rasch umsetzbare Alternativen und Lösungen hatte er keine zu bieten. Er zeigte aber die katastrophalen Auswirkungen der Verdinglichung von Mensch, Natur und Geld (als Kredit) auf. Daher finde ich ihn so hochaktuell! (Ein Statement in Korrespondenz mit „Der Kapitalismus, sein Wachstum und seine Krisen“ von Richard Hubmann.)
- Günther Gettinger, Supervisor, im Web: Holomovement
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