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Notiz 105: Komplexitätskrise#

(Von den Vorzügen geistiger Überlastung)#

Von Martin Krusche#

Die Reise über die Dörfer. Die Gespräche. Wein von unterschiedlichem Wesen und hoher Güte. Auch Most. Die Hitze des Juli und August 2021 sowie andere Details, die uns als Rahmenbedingungen einhüllen… Ich bin oft in Komplexität verstrickt, die mir gelegentlich eine Art plötzlichen Gehirnstillstand verpaßt. Das Hin- und Herpendeln zwischen sehr verschiedenen Teilthemen bringt meine Synapsen zum kokeln und dann: zack! Komplexitätskrise.

Ein ausgemusterter Steyr Typ 180. (Foto: Martin Krusche)
Ein ausgemusterter Steyr Typ 180. (Foto: Martin Krusche)

Aber! Ich weiß seit vielen Jahren, das sind normale Betriebsgeräusche und übliche Effekte, die sich nicht vermeiden lassen. Wozu auch? Wenn meine Ratio und meine Emotionalität im Paarlauf einen Steilhang runtertoben, gibt es eben unterwegs Brösel. Und manchmal brauche ich einen Arzt. Das ist einfach so.

Bei meiner aktuellen Reise über die Dörfer geht es vor allem um die Begegnung mit Menschen, deren Kindheit noch in der alten agrarischen Welt stattgefunden hat. Was das bedeutet? Wer heute zwischen 70 und 80 Jahre alt ist, hat den fundamentalen Umbruch erlebt: die schrittweise Mechanisierung der Landwirtschaft.

Im Jahr 1947 kam der erste Steyr Traktor auf den Markt. Die Stupsnase. Der Typ 180. Erste Mechanisierungsstufe: die nackte Maschine. Zweite Mechanisierungsstufe: hydraulisches Hubwerk und andere Ansätze für eine leistungsfähige Peripherie der Maschine. Ein Fünfzehner Steyr (Typ 80) mit Heublitz war schon eine enorme Ausstattung, hatte aber sogar mit bloß einer Pflugschar kaum genug Kraft (15 PS) für den schweren oststeirischen Boden. (Siehe dazu auch: „Der Fünfzehner und Konsorten“!)

Weshalb ist das interessant? Erst einmal wurden damals die Fuhrparks der Wirtschaft und der amtlichen Bereiche „modernisiert“, denn bis zum Zweiten Weltkrieg gab es nur wenige Automobile in Privatbesitz. Die meisten Autos auf unseren Straße waren Firmen- und Behördenfahrzeuge. Ende der 1950er Jahre setze eine umfassende Volksmotorisierung Österreichs ein.

Selbstversuch: die „Saure Suppe“, von der mir unterwegs viel erzählt wurde. Sehr karg! (Foto: Martin Krusche)
Selbstversuch: die „Saure Suppe“, von der mir unterwegs viel erzählt wurde. Sehr karg! (Foto: Martin Krusche)

Alle erdenkbaren Instanzen unserer Gesellschaft trieben an, was als Steigerung von Effizienz und von Ertrag gedeutet wurde. Das brachte uns gesamt aus jener Kargheit und auch Not heraus, von der mir alte Leute heute noch erzählen. Dieses harte Leben war unlängst das Los der Mehrheit, egal, ob in Landwirtschaft oder Industrie.

Eine typische Szene in der Oststeiermark. (Strom wurde erst in den 1950ern ins Kaus eingeleitet. Heute gibt es da noch Kienspan-Halter.) Es gehörte schon eine kleine Dreschmaschine zum Hof, aber es konnte noch kein Motor gekauft werden.

Den lieh man sich aus. Im offenen Ausgleichsbehälter des Wasserkühlkreislaufes kochte die Mutter Eier hart. Nach der Arbeit wurde das heiße Kühlerwasser des Motors für ein Bad genutzt, denn die übrige Zeit habe man sich den Aufwand für warmes Badewasser nicht geleistet.

Weshalb also ist das interessant? Ich finde keinen Gefallen an Nostalgie. Das ist etwas für regionale Fremdenverkehrsverbände und Wirtshäuser. Mich interessiert, wie damals ein so massiver Umbruch bewältigt wurde, der zwar in bessere Verhältnisse führte, aber emotional und sozial enorme Kräftespiele entfachte.

Diese Kräftespiele kollidierten mit den Gewohnheiten, mit den mentalitätsgeschichtlichen Eigenheiten der alten agrarischen Welt. Damals hatten es schon die Bauersleute hier nicht besonders prächtig, aber weit weniger die Keuschler und Kleinhäusler, die ländlichen Dienstboten, Taglöhner, Hauslosen, „Ummageher“… Sie führten ein Leben, welches wir uns heute nicht vorstellen möchten.

Der 15er Steyr: Ein Bauer sagte mir, den könne man mit ein bißl Hausverstand selbst warten und reparieren. (Foto: Martin Krusche)
Der 15er Steyr: Ein Bauer sagte mir, den könne man mit ein bißl Hausverstand selbst warten und reparieren. (Foto: Martin Krusche)

Der Weg über die Dörfer#

Also: Krise bewältigen? Nein! Krise absolvieren. Die Krise ist bloß der Umbruch. Ohne eine Kette solcher Momente wären wir noch nicht einmal im Neandertal angekommen. Dann aber: Katharsis oder Katastrophe? Wir haben die Wahl, in welche Richtung wir aus der Krise, aus dem Umbruch, herausgehen. Etwas hemdsärmeliger formuliert: Du surfst die Lawine oder sie reißt Dich weg und begräbt Dich. Das interessiert mich; auch und vor allem im Zusammenhang mit regionaler Wissens- und Kulturarbeit.

Beim Weg über die Dörfer begegne ich derzeit vor allem den vormaligen Kindern von Dienstboten (Knechten und Mägden), Keuschlern und Bauern. In meine Gesprächssituationen kommen dann auch ganz andere Menschen herein; wie jüngst IT-Experte Heimo Müller oder Kommunikationsexperte Heimo Lerch, der übrigens vor Jahrzehnten in der gleichen Redaktion wie ich erste Journalismus-Lektionen erhalten hat. (Die Neue Zeit in der Grazer Stempfergasse.)

Auch Hackler sind meine Gegenüber, alte und junge Industriearbeiter. Technologiesprünge, neue Fertigungsmethoden: „Alle Maschinen, die neu ins Haus kommen, sind höher automatisiert als die Vorläufer“, sagt mir der Schichtleiter einer nahen Papierfabrik.

Kommunikationsexperte Heimo Lercher. (Foto: Martin Krusche)
Kommunikationsexperte Heimo Lercher. (Foto: Martin Krusche)

Da außerdem jeder Mensch, ausnahmslos jeder Mensch, spiritueller und kulturelle Bedürfnisse hat, die nach den jeweiligen Lebenssituationen entsprechend ausgedrückt werden, sehe ich mir auch schon ein Weile die vorhandenen Klein- und Flurdenkmäler an, alte wie neue. Wie eingangs erwähnt, das wirft zwischendurch Komplexitätskrisen auf, in denen mir der Verstand steckenbleibt. Aber sowas hält nie lang an.

Die Dinge sortieren#

Mir fiel auf, daß uns in der alten agrarischen Welt die Transportmodi eine klare Orientierungsmöglichkeit bieten. Wer genug Ertrag erwirtschaften konnte, hielt sich Pferde, um das Ackern und diverse Fuhrdienste zu erledigen.

Pferde stehen in direkter Nahrungskonkurrenz zum Menschen, weil sie neben dem Rauffutter (Heu etc.) auch Kraftfutter brauchen, etwa Hafer. Sie finden einen Hinweis darauf in einem populären Lied, dem mindestens bis zu meiner Genration sicher niemand entkommen konnte: „Stellt's meine Ross' in Stall / Bald kriagn's zum letzten Mal / A Sackerl Hafer und a Heu.“ (Karl Savara und Franz Ichmann)

Zwar sind Stiere die stärksten Landtiere unseres Lebensraums, deren Wesen durch die Kastration gezügelt wird, was Ochsen ergibt, aber sie sind im Vergleich zu Pferden sehr, sehr langsam. Ochsengespanne waren in der Oststeiermark sicher das, was später die populären Steyr Diesel LKW wurden; das hauptsächliche Rückgrat des lokalen und regionalen Transportwesens.

Doch viele Leute konnten sich nicht einmal Ochsen halten und mußten daher für das Umbauen und die Fuhrdienste Kühe verwenden. Kühe waren ja in erster Linie als Milchquelle und gaben manchmal das Kälbchen, das man verkaufen konnte. Damit brachte der Keuschler ein wenig Geld ins Haus, um Zucker und Salz zu kaufen, Steuern zu bezahlen etc. Wer nur Kühe zur Arbeit hatte, war in der sozialen Hierarchie der Region sehr bescheiden aufgestellt. Oft waren es dann die Bauern mit Pferden, die dann auch als erste Traktoren kauften.

Vielleicht sind das Muster, die mentalitätsgeschichtliche Wirkung zeigen, wenn wir heute bestaunen, wie einerseits Automobile als Kommunikationsmittel herhalten müssen und für soziale Statements genutzt werden, andrerseits dienen auch Traktoren dazu. (Die stolze Karre soll zeigen, wer der Herr ist.) Die hausgroßen Monster, wie sie mir heute um die Ohren fahren, oft auch so teuer wie eine Wohnung oder ein Häuschen, bleiben irritierend.

Schichtleiter. Das heißt vor allem: Probleme lösen, wenn was vorfällt, und die Partie beinanderhalten. (Foto: Martin Krusche)
Schichtleiter. Das heißt vor allem: Probleme lösen, wenn was vorfällt, und die Partie beinanderhalten. (Foto: Martin Krusche)

Zugkraft? Bodendruck! Für die Oststeiermark gilt der fünfscharige Pflug als absolutes Limit. Meist ist schon bei drei Scharen Schluß. Dafür brauchte man keine solchen Riesentraktoren, die man außerdem wegen der enormen Bodenverdichtung durch so schweres Gerät ohnehin auf kein oststeirisches Feld lassen dürfte. Zwei Gründe ragen für derlei Fahrzeuge heraus: Prestige und Arbeitstempo. (Übrigens, wo die LKW im Wochenendfahrverbot stehenbleiben, fährt der große Traktor mit entsprechenden Lasten unbehelligt durch den Sonntag.)

Schichtleiter#

Diesen Industrieteil muß ich hier als Thema noch vertiefen. Der Schichtleiter sorgt nicht nur im Alltag für laufenden Planungsdetails, damit sein Bereich brummt. Er muß vor allem dann beweisen, was er kann, wenn es ein Problem gibt, wenn die Anlage durch eine Panne stehenbleibt, der Betrieb stockt. Ruhe bewahren. Probleme lösen. Ein Kundenauftrag ist normalerweise - je nach seiner Art - in ein bis zwei Stunden erledigt. Es gibt Termine und Verpflichtungen.

Zwei Stunden Stehzeit hieße also nicht bloß, etliche hausinterne Abläufe umzuorganisieren, man muß dann auch mit den Konsequenzen bei den Kunden klarkommen. Zuverlässigkeit und Termintreue ist heute in allen Industriebetrieben ein zentrales Kriterium, um bei Kunden Aufträge abzuholen.

Dann ist jüngst auf der Autobahn zwischen Graz und Gleisdorf ein LKW abgebrannt und alle Lastzüge steckten im Stau bei der Unfallstelle. Das benötige Rohmaterial konnte nicht plangemäß angeliefert werden und… Ahnen Sie, welche Kausalketten sich da laufend quer durch die Region auffächern?

Wegmarken#

Ich hab diese alten Zeichensysteme schon erwähnt, Klein- und Flurdenkmäler, hauptsächlich in privater Initiative entstanden, manche seit Jahrhunderten an ihrem Platz. Ein markanter Ausdruck der Volksfrömmigkeit und überdies ein taugliches Leitsystem. Ich hab an andere Stelle ein Beispiel erwähnt. Ein Sammler alter Traktoren plant Ausfahrten mit Gleichgesinnten so: „Und da richte ich mich hauptsächlich nach den Marterln. Daran kann man sich gut orientieren.“ Siehe: „Ich mag mein Leben“ (Der Handwerker Mathias Sauseng)
Bild 'notiz105c'
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Heimo Lercher brachte mir eine erstaunliche Publikation mit. Die kleine „Bartholomäer Wander Bibel“ ist nicht nur regionale Orientierungshilfe, sie bietet auch eine sehr anschaulicher, daher nützliche Einführung in das Thema. Es ist derzeit immer noch schwierig, anschauliche Druckwerke zu diesem Thema zu bekommen. Diese Veröffentlichung aus dem Jahr 2013 bietet eine vorzügliche Übersicht der wesentlichen Typen, zeigt die Zusammenhänge. Sie können diese Publikation hier online durchsehen und als PDF-Dokument (7,3 MB) gratis downloaden: (Link)

Wenn ich hier als Subtitel „Von den Vorzügen geistiger Überlastung“ schrieb, dann war das einerseits selbstironisch gemeint, denn ich mag es nicht, wenn mir das Hirn steht. Zugleich ist dieses Stocken Ausdruck sehr vitaler Prozesse und der Hinweis, daß die Dinge im Fluß sind. Ich denke, es war der geistreiche Roger Willemsen, von dem man öfter hören konnte: „Kultur ist Übeforderung!“