Die Volkskultur#
(…hab ich auch durchnumeriert)#
Von Martin Krusche#
Sie sehen an den bisherigen Skizzen, daß wir für unsere Art einer kollektiven Wissens- und Kulturarbeit ein Koordinatensystem brauchen, um in Momenten erhöhter Komplexität nicht den Überblick zu verlieren.
Das hat auch mit praktischen Erfahrungen zu tun, wo im Alltagsdiskurs manchmal rüde verkürzt wird. Etwa durch Menschen, denen eine genaue Betrachtung der Möglichkeiten lästig ist, was mitunter in Polemik mündet. Das klingt dann beispielsweise so: „Es weiß eh niemand genau, was Kunst ist!“ Oder: „Kannst Du mir sagen, was Kultur ist?“
Wer ein derart großes Faß aufmacht, weiß natürlich: das läßt sich so im Vorbeigehen in einem Alltagsgespräch niemals klären, dafür müßte man ich etwas Zeit nehmen. Für unsere praktische Arbeit muß es in den Begriffen daher ein paar Nummern kleiner gehen. Bei Kunst Ost ist der Fokus auf dieses Ensemble gerichtet: Volkskultur, Popkultur, Gegenwartskunst.
Konzentration#
Die drei Begriffe stehen für sehr große Themenfelder. Also nehmen wir Teilbereiche heraus, die wir beschreiben können, wo wir daran arbeiten. Was nun die Volkskultur angeht, habe ich mit meinem Augenmerk auf Klein- und Flurdenkmäler ein sehr altes Motiv aufgegriffen, das definitiv noch nicht von diversen Instanzen okkupiert wurde. Weder Citymanagements noch Tourismusagenturen fanden bisher Wege, dieses Genre zu kapern und für andere Zwecke zu verwerten.Der zweite Schwerpunkt in unserer diesbezüglichen Arbeit betrifft die Schrauber und Sammler, die oststeirische Klassiker-Szene. Das sind Leute, die alte Fahrzeuge restaurieren und erhalten. In der Wissenschaft ist dieses Genre als „Volkskultur in der technischen Welt“ ausgewiesen, wie es Hermann Bausinger beschrieb. Für mich ergibt das dann auch wichtige Querverbindungen zum Projektteil „Die Ehre des Handwerks“ (Eine Erkundung im 21. Jahrhundert).
Selbstbestimmung und Kompetenz#
Beide Genres sind markanter Ausdruck einer von Selbstbestimmung geprägten Teilnahme der Menschen am kulturellen Leben. Hier zählen keine wissenschaftlichen Diskursen, hier spielen staatliche Einrichtungen an der zivilgesellschaftlichen Basis kaum eine Rolle.Es ist dieser ursprünglich volkskulturelle Aspekt, wenn er noch nicht durch andere Interessen verwässert wurde, der uns eine Chance gibt, wenigstens in Nischen bestimmte Kompetenzen und Fertigkeiten zu erhalten, die wir zu verlieren drohen. Wirtschaft und Produktion brauchen etliches davon nicht mehr, weil wir mitten in der Vierten Industriellen Revolution neue Fertigungstechniken haben, die andere Verfahrensweisen obsolet machen.
Was aber die Hände und der Geist guter Handwerkerinnen und Handwerker zu leisten vermögen, benötigen wir nicht bloß zum Herstellen und Reparieren von Dingen. Es ist für sich ein Feld menschlicher Qualitäten und wichtiger Aspekte der Conditio humana, die wir nicht aufgeben sollten, bloß weil die Wirtschaft sie hinter sich läßt. (Der Homo faber ist darin nicht bloß Hersteller. Es hat wichtige soziokulturelle Dimensionen.)
Zu den schon erwähnten spirituellen und kulturellen Bedürfnissen der Menschen kommt eben auch diese Ebene des „inspirierten Fleisches“. Ein Aspekt der mitunter virtuosen Körperlichkeit, wie sie an unseren kognitiven Prozessen fundamental mitwirkt. Die geschickten Hände modulieren auch den Geist.
Aber zurück zum eigentliche Thema dieses Kapitels. Ich hab vorhin schon begründet, weshalb wir in unseren Projekten den Begriff „Dorf 4.0“ verwenden. Das bildet eine Vorstellung sozialgeschichtlicher Prozesse ab. Genau so kann ich das auch auf den Bereich Volkskultur anwenden. Hier eine kleine Übersicht.
Volkskultur 1.0#
Es fiel den Herrschenden nicht einmal im Traum ein, sich für die kulturellen Bedürfnisse ihrer Untertanen zu interessieren. Die subalternen Schichten waren darin weitgehend sich selbst überlassen und praktizierten naturgemäß ein kulturelles Leben mit den ihnen verfügbaren Mitteln. Ihre Talente mußten mit dem auskommen, was ihr sozialer Status an Ausstattung bot. (Der Umstieg in andere soziale Kategorien kam vereinzelt vor, blieb die Ausnahme.)Volkskultur 2.0#
Gegenüber den alten Eliten und einem aufstrebenden Besitzbürgertum reüssierte im Staatswesen auch ein vergleichsweise ärmliches Bildungsbürgertum mit bescheidenen Gehältern und mäßigem Sozialprestige. Es trennte sie in einer ständischen Gesellschaft große soziale Distanz von bessergestellten Kreisen.Da wurde die Befassung mit „Volkskultur“ ein tröstlicher Ausweg, um über die Belehrung und Erziehung der „ungebildeten Leute“ an Selbstbewußtsein zu gewinnen. (Ich denke, das Kontrastpaar „Volkskultur/Hochkultur“ wurzelt in diesen Zusammenhängen.)
Volkskultur 3.0 #
Wir sind in einer weltweit wirksamen Massenkultur aufgewachsen, die sich in ihrer Verbreitung auf Massenmedien stützt und so in unser aller Leben eindringen konnte. Wir werden von einer Kulturindustrie bewirtschaftet, die astronomische Profite einfährt.Grob sortiert: wie kurios, daß sich weite Teile subalterner Schichten heute von der Unterhaltungsindustrie mit sogenanntem „Kommerz“ bespaßen lassen, während ein Segment von „gebildeten Leuten“ und „Traditionsbewahrern“ sich um „Das Echte“ an der Volkskultur annimmt. Eine Unterhaltungsindustrie dominiert die Alltagskultur des Volkes, ein Bildungsbürgertum kümmert sich um „echte Volkskultur“.
Volkskultur 4.0#
Die alte Dichotomie „Volkskultur/Hochkultur“ ist vom Tisch, wurde zur historischen Kategorie. Was blieb nun außerhalb wissenschaftlicher Diskurse an gelebten Formen? Was blieb von der „Schönheit des Vulgären“ (Umberto Eco)? Liegt nicht auch die Unterscheidung „Volkskultur“ kontra „volkstümliche Kultur“ schon hinter uns? Was ist in Händen der „Traditionsbewahrer“ gesichert und worüber verfügen die subalternen Kreise heute, ganz unbehelligt von Belehrung und Erziehung?Produktionsweisen, Lebenswelten, Mediensituationen und kulturelle Nischen haben sich in sehr kurzer Zeit radikal verändert. Ich denke, wir sind noch gar nicht dazugekommen, untereinander zu klären, ob wir zeitgemäße Formen einer Volkskultur sehen, die es nahelegen, von anderen Feldern und Genres unterschieden zu werden.
In der Schwebe #
Für mich ist daher Volkskultur 4.0 etwas, das sich in der Schwebe befindet und mir nach vielen Seiten hin offen erscheint. Entsprechend entwickle ich meine Projekte und setzen sie in Gemengelagen verschiedener Genres um. Das ist schließlich auch, was ich mit „Art Under Net Conditions“ meine, mit einer Kunst unter Bedingungen der Vernetzung. Das meint nicht: Internet! Das meint eine Vernetzung der Genres.Und hier trennen sich einige Wege. Denn das mediengestützte Kommunikationsverhalten unserer Kinder wie auch weite Bereichen in deren Freizeitverhalten entziehen sich meiner Kenntnis. Da bin ich einfach nicht sachkundig. Es scheint mir naheliegend, daß sich draus auch nächste volkskulturelle Phänomene entwickeln, zu deren Untersuchung ich nichts beitragen kann.
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