Official Bootleg: Atlantis#
(Das Andere im Vorliegenden)#
von Martin KruscheWer sich dem Meer emotional verbunden fühlt, pflegt damit eine alte Verwandtschaft. Es heißt, als Lebewesen die Meere verließen, um auf festem Boden zu existieren, hätten sie die Ozeane in sich mitgenommen.
Der menschliche Körper besteht hauptsächlich aus Wasser. Wir kommen als Erwachsene auf rund 50 bis 70 Prozent Anteil. Die Erdoberfläche ist zu etwa 70 Prozent mit Wasser bedeckt. Der gesamte Wasservorrat dieses Planeten wird auf etwa 1,4 Milliarden Kubikkilometer geschätzt, wovon Salzwasser fast 98 Prozent ausmacht.
Ich bin ein Bewohner des Festlandes. Ich darf mich darauf verlassen, daß mich meine Welt atmen und gedeihen läßt. Mein Leib ist für die Ansässigkeit auf der Erde gemacht. Auch emotional. Ich fühle mich zu den Menschen, die mich umgeben, kompatibel. Meistens. Sogar in der Differenz.
Allerdings habe ich manchmal mit Menschen zu tun, die können hier zwar atmen, doch sie scheinen in vielerlei Hinsicht von anderen Lebensbedingungen geprägt worden zu sein. Sie sind in ihrem Inneren allein schon physisch markant anders gemacht als ich, daher auch in ihrer psychischen Ausstattung.
Natürlich sind auch bei ihnen alle Organe am vorgesehen Platz. Das Andere konstituiert sich in feineren Anordnungen, man könnte sagen: in den Wirkstoffen. Wäre die Welt im Bereich menschlicher Kultur ihrem Sosein gemäß, würden sie sich ohne jede Auffälligkeit in vertrauten Umständen bewegen und was immer ihre Zustände ausmacht, könnte als „das Normale“ gelten.
Doch sie sind ja unter uns, unter einer Mehrheit der Neurotypischen, denen das Sosein der Neurodivergenten in der Regel unbekannt ist. Also wird das Verhalten derer, die als abweichend gelten, entsprechend als abweichendes Verhalten gedeutet und gegebenenfalls hart sanktioniert.
Menschen im Autismus-Spektrum verstehe ich nun als jene, die anderen Lebensbedingungen angepaßt sind, so wie ich meinen Lebensbedingungen mehr oder weniger gut angepaßt bin. Sie verstehen den Punkt?
Überlagerung#
Ich bin nicht bereit, einen autistischen Menschen als „nichtnormalen Menschen“ zu sehen. Da es aber nur diese unsere Lebensbedingungen gibt, keinen anderen Planeten, von dem jemand gekommen sein kann, brauche ich eine Metapher für das Referenzsystem jener anderen Lebensbedingungen, an die Neurodivergente angepaßt sind.Gewissermaßen eine Idee, welcher Art die Überlagerung der Lebenswelten sein mag. Eine Überlagerung, in der mir (dem Neurotypischen) die neurodivergente Frau im Kontrast gegenübersteht, wo allein schon von Belang ist, daß ein Frauenleben in unserer Kultur vielfach ganz andere Bedingungen hat als ein Männerleben.
Ich bin mit einer autistischen Frau in tieferem Einvernehmen, um aus erster Hand etwas über dieses Sosein zu erfahren. Ein menschliches Dasein, das diese neurodivergenten Menschen mitunter auf sehr grobe Art, auf unerbittliche Art, mit den Normen der Mehrheit kollidieren läßt.
Die geeignete Metapher für das erwähnte Referenzsystem hab ich im Wort Atlantis gefunden. Es steht für einen abendländischen Mythos, den Platon erstmal formuliert hat, welcher in unserer Kultur wiederkehrend Interesse fand. Ob in der Antike, in der Renaissance, oder heute in unserer Popularkultur…
Zwei Sphären#
Atlantis ist in dem Fall - gemäß meinem Gedanken - die imaginäre Sphäre mit genau jenen Lebensbedingungen, an welche diese neurodivergente Frau optimal angepaßt ist wie ich den meinen, während sie in unserer Sphäre der Kultur Neurotypischer geradezu täglich mit Kollisionen umgehen muß.Sie ist eine Frau mit einem sehr scharfen Verstand und einem Denkvermögen, von dem ich ahne, daß es meines nennenswert übersteigt. Deshalb kann sie mir sehr detailliert Auskunft geben, wo immer ich Fragen habe. Und das in einer Eigenschaft, die es vermutlich per Definition gar nicht gibt. Mir scheint oft, sie könne zu sich selbst auf eine Metaebene steigen, um ihre Situation zu untersuchen.
Ich nenne sie die Frau von Atlantis, um sie in Schritten wie diesem, die nach außen führen, als Person nicht preiszugeben, vor einen Vorhang zu zerren. Diese Kommunikationssituation über die Grauzone zwischen zwei derart unterschiedlichen Existenzen hinweg ist außerdem eine zwischen zwei ganz unterschiedlichen Konzepten sozialer Rollen.
Erstens bin ich der Repräsentant einer vorherrschenden Männerkultur gegenüber einer Frau. Zweitens ist sie im Sinne herkömmlicher Devianztheorien stigmatisiert; nicht durch ihr Verhalten, sondern dadurch, wie die Mehrheit der Neurotypischen auf ihr Verhalten reagiert.
Gebote der Achtsamkeit#
Unser Dialog über all diese Belange hat also auch diese Seite, an der ich einiges davon mit verschiedenen Mitteln nach außen trage. Deshalb hier die Anonymisierung dieser realen Frau, die Ende 50 ist, eine Tochter hat, und laufend sehr viel an verfügbarer Energie darauf verwenden muß, sich in der Kultur der Neurotypischen bewegen zu können.Das legt unter anderem dir künstlerische Praxis nahe, weil ich mit Aspekten in Berührung komme, für die ich selbst keine Begriffe habe, vor allem keine Erfahrungen, die ein Begreifen erleichtern würden. Ich habe selbst keine Anschauung von vielem, das sie mir erzählt.
Daher bin ich in meinem Umgang mit der Frau aus Atlantis auf einige andere Kognitonsmöglichkeiten angewiesen, denn dieses Atlantis, von dem sie geprägt wurde, ist für mich nicht zugänglich; selbst wenn ich wüßte, wo es liegt. Da scheinen mir die Poesie und Mittel der Kunst sehr gut geeignet, weil meine rationalen Mittel dort enden müssen, wo meine Erfahrungen enden.
Dem Mythos folgend und die Metapher präzisierend: Eine versunkener Archipel, in dem Menschen auf eine Art gedeihen, mit der sie unter uns hier permanent in Konflikte geraten. Aber es sind die selben Ozeane, aus denen wir stammen. Wir sind die gleiche Art. Daraus ergibt sich eine poetische Aufgabenstellung, zu der ich momentan erst so weit gekommen bin: Ich versuche zu begreifen, was nun eine gute Frage sei.
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