Atlantis: Drill und Ethnos#
(Da stellen sich einige brisante soziokulturelle Fragen.)#
von Martin KruscheDa ich dieses „Atlantis“ als Teil eines kulturellen Vorhabens sehe, stellen sich ein paar Fragen zum Verhältnis verschiedener Milieus zueinander, wenn sich das – wie hier – in einem gemeinsamen Projekt verdichtet. Es ist banal, die „Begegnung in Augenhöhe“ zu fordern oder zu behaupten. Dazu muß man mindestens wissen, mit wem man es zu tun hat. Aber der Reihe nach…
In einem Gespräch mit der Frau aus Atlantis hab ich sie nach ihrem Alter gefragt. Mit 59 Jahren gehört sie zwar nicht direkt zu meiner Alterskohorte, aber wir teilen vermutlich etliche altersbedingte Erfahrungen. Deshalb erwähnte ich mein Interesse an den Bedingungen und Inhalten eines letzten Lebensabschnittes.
Lassen wir beiseite, daß jedes unserer Leben morgen verlöschen könnte. Ich kenne diese Gewißheit durch einen Motorradunfall, bei dem mich ein Lastwagenfahrer übersehen hatte. Nur dank einer hervorragenden Ausrüstung, eines verfügbaren Hubschraubers und eines ausgeschlafenen Chirurgen-Teams bin ich noch am Leben.
Selbst wenn man solche radikalen Momente als möglich akzeptieren muß, widerfahren sie a) nicht jedem Menschen und muß man sich das b) nicht ständig vor Augen halten, dabei seine Vorstellungen vom eigenen Leben auf wiederkehrende 24 Stunden limitieren.
Also frage ich mich mit meinen 69 Jahren gelegentlich: wie viele Sommer bekomme ich noch und was möchte ich damit anfangen? Ich halte zehn für sehr realistisch und 20 für möglich, rechne eher nicht mit 30. Das sind überschaubare Zeitfenster, die mein Nachdenken über Inhalte und Prioritäten durchaus strukturieren. (Mein Vorteil: Ich muß nichts mehr werden, was ich nicht schon bin, soll also kommen, was will.)
Einschränkungen#
Von der Frau aus Atlantis erfuhr ich dann, daß ein Leben im Autismus-Spektrum mit einem hohen Maß an wiederkehrenden Stress-Situationen verbunden ist, weit höher, als das neurotypische Menschen gewöhnlich erfahren. Die Konsequenz daraus ist unter anderem eine (statistisch gesehen) um rund 16 Jahre geringere Lebenserwartung als beim Durchschnitt der neurotypischen Leuten.Es gilt als geklärt, daß autistische Menschen eine „angeborene Reizfilterschwäche“ haben. Das Besondere liegt in diesem Aspekt: angeboren. Das heißt: im Sosein eines Menschen verankert. Ich weiß von keinerlei Verfahren, mit dem es möglich wäre, in dieses komplexe und empfindliche System vorteilhaft einzugreifen, um es zu verändern. Wer so ist, muß so leben.
Haben Sie je Drogenerfahrungen gemacht? (Wenigstens mit Alkohol?) Waren Sie wegen einer Operation je unter Narkose? Gab es je Anlässe, für eine Weile Psychopharmaka einzunehmen? Dann wissen Sie, was pharmakologische Eingriffe an unserer Wahrnehmung bewirken können. Als temporärer Zustand. (Auf Dauer würde man den Verstand verlieren.)
Es gibt Krankheiten, mit denen man längerfristig leben kann, wenn man sich durch Medikamente stabilisiert. Ich kenne aber keinen Hinweis, daß diese oder jene Form des Autismus eine „Erkrankung“ sei. Ich verstehe es – wie erwähnt - als ein Sosein, in dem sich neurodivergente Menschen auf beschreibbare Arten von den meisten neurotypischen Menschen unterscheiden.
Daraus schließe ich, daß wir ihnen als unseren Mitmenschen entgegenkommen können, indem wir uns Wissen aneignen und in sozialen Zusammenhängen etliches von dem ausgleichen, was ihnen aufgrund ihres Soseins nicht möglich ist. Wo sie sich in ihrem Verhalten nicht ändern können, können wir es in unserem.
Drill und Ethnos#
Als ich ein Kind gewesen bin, was über 60 Jahre her ist, war es noch üblich, linkshändige Menschen auf Rechtshändigkeit zu drillen. Eine schädigende Maßnahme, die längst aufgegeben wurde. Um wie viel mehr mag es einen autistischen Menschen schädigen, wenn man vergleichbaren Drill umfassend Richtung „Mehrheitsnormverhalten“ ansetzt?Dazu müßten wir außerdem erörtern, ob in solchen Ideen vom „Umtrainieren“ nicht ein Äquivalent zur Bemühung um „ethnische Säuberungen“ besteht. Ich war ziemlich überrascht zu erfahren, wie hoch der Anteil neurodivergenter Menschen in unserer Gesellschaft ist. Einem Dokument des österreichischen Parlamentes konnte ich entnehmen, daß unter 36 Menschen einer dem Autismus-Spektrum angehört. Ich begegne also laufend autistischen Menschen, meist ohne es zu bemerken.
Da haben wir eigentlich – wie auch bezüglich anderer Belastungen, die manche Menschen nicht abwerfen können - von Bedingungen der Koexistenz zu reden; ähnlich wie das anerkannten ethnischen Gruppierungen zusteht. Vor allem wie es in unserer Verfassung festgeschrieben wurde.
Zitat aus dem Artikel 7 Bundes-Verfassungsgesetz: „Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.“
Das ist wohl mehr als bloß eine rechtliche Vorschrift. Es muß in seinem sozialen und kulturellen Aspekten eingelöst werden. In dem erwähnten Parlamentsdokument fand ich übrigens auch diese Details: „Die Suizidalität ist in der autistischen Bevölkerung höher als in der Allgemeinbevölkerung: 66 Prozent der Autist*innen haben Suizidgedanken, verglichen mit 17 Prozent in der Allgemeinbevölkerung. Bei autistischen Kindern, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Selbstmordgedanken haben, doppelt so hoch wie bei neurotypischen Kindern.“ (15400/J vom 21.06.2023, XXVII. GP)
Das wird nicht nur, aber doch sehr wesentlich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun haben. Ich konzentriere mich bei all dem augenblicklich auf jene Aspekte, in denen ich sachkundig bin, auf die kulturellen Implikationen. Wenn ich beachte, womit ich es dabei zu tun hab, möchte ich bei autistischen Menschen im kulturellen Sinn durchaus von einer Ethnie sprechen.
Übrigens#
In einem unserer Gespräche erwähnte die Frau aus Atlantis, daß es inzwischen pränatale Screenings geben soll, durch die sich frühe Anzeichen einer Autismus-Spektrum-Störung erkennen lassen. Daran wird weiter intensiv gearbeitet. Die Atlantikerin fragte mich: „Was denkst du, wie es sich anfühlt, wenn man weiß, daß es Menschen wie mich nicht mehr geben wird?“ (Antworten Sie jetzt nicht vorschnell!)- Home: Atlantis (Die Praxis des Kontrastes)
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