Atlantis: Positionsbestimmung I#
(Was das Normative sei)#
von Martin KruscheIch erinnere mich an einen Denkanstoß, den mir mein Hausarzt einmal verpaßt hatte, als er grinsend sagte: „Gesund? Das heißt nur: nicht genug untersucht.“ Damit wäre schon angedeutet, daß es in diesen Dingen keine Norm geben kann, einem Rollmaß vergleichbar, mit dem sich sehr verläßlich klären läßt, wie lang etwa eine Tischplatte ist.
Es gibt freilich eine Definition von Gesundheit. Die skizziert einen „Zustand des umfassenden körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“. Ich lese das nicht als eine Zustandsbeschreibung, sondern als Darstellung einer Relation, eines Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Bedingungen, die uns ausmachen.
Das ist auch der Grund, warum ich es passend finde, daß heute von „Menschen im Autismus-Spektrum“ die Rede ist, weshalb ich nicht „die Autistin“ sage. Ich mag die Formulierung „Frau im Spektrum“. Das legt nahe, achtsam zu sein und Stereotypen zu meiden. Damit bin ich aber in einer ganz alltäglichen Situation.
Genau das verlangt schließlich ausnahmslos jede Begegnung, in der mir mein Gegenüber nicht einerlei ist. Nie wissen wir auf Anhieb, mit wem wir es zu tun haben. Erst in dieser Achtsamkeit finde ich heraus, wer mir gegenübersteht. Ich ziehe daraus einen Umkehrschluß. Begegne ich einer Frau im Spektrum, ist das in den sozialen Anforderungen zuallererst eine Alltagssituation.
Mögliche Eigenheiten unterscheiden sich garantiert von jenen unzähliger anderer Menschen im Spektrum. Ich werde an ihr bestenfalls einige Verhaltensweisen feststellen, die mir aus meinem Alltag nicht vertraut sind; falls sie ihr „Masking“ nicht perfektioniert hat, ihre Anpassung an unsere sozialen Konventionen.
Aber genauso geht es mir mit neurotypischen Leuten. Das träfe auf jede Frau zu, die beispielsweise einer völlig anderen Ethnie angehört. Ich erinnere mich an eine Sizilianerin, die ich näher kannte. Wäre sie eine Maori, müßte ich auch erst darauf achten, worin sie andres tickt als die Locals, die mir vertraut sind. Ach was! Wie gründlich habe ich schon Frauen und Männer in nächster Nachbarschaft falsch eingeschätzt?
Sie sehen mich im Lager jener Menschen, die überzeugt sind, daß Sprache Realität konstruiert. Zwischen unseren Begriffen und unserer Realitätsauffassung besteht ein brisantes Wechselspiel. Daher bin ich mit Zuschreibungen vorsichtig.
Mich beschäftigt im Blick nach Atlantis der Umstand, daß manche Menschen in ihrer gesamten Natur nicht an unsere, sondern eine ganz andere soziale Umwelt angepaßt sind. Das bedeutet, Atlantis ist für mich eine Metapher, die ein anderes soziales Gefüge meint, über das ich nur wenig weiß.
Atlantiden kollidieren hier leicht mit anderen Menschen, weil wir nicht hinreichend gerüstet und/oder bereit sind, auf ihre andere Kondition einzugehen. Die Mittel und Möglichkeiten dazu hätten wir ohne weiteres. Es ist eben auch eine Frage des Wissenserwerbs und der praktischen Erfahrung.
Ich bin nicht geneigt, hier ausführlicher zu behandeln, was die Gründe dafür sein mögen, daß auffallend viele von meinen (neurotypischen) Leuten zu einem Verhalten tendieren, das einer Art der homogene Untertanenmasse nahekommt. Mich beschäftigt der kulturelle und soziale Gewinn, den mir Menschen bieten, die völlig anders sind als ich, die auf solche Art nicht funktionieren. Es muß in menschlicher Gemeinschaft ja stets neu verhandelt und geklärt werden, was das Normative sei.
Wo ein wechselseitiges Interesse Platz hat, eröffnet das nach meinen Erfahrungen enorme Möglichkeiten. Ich verfolge solche Möglichkeiten gemäß meinen Vorstellungen von einer kollektiven Wissens- und Kulturarbeit.
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