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Bertha Wegmann, fotografiert von Georg Emil Hansen, Ende 19. Jahrhundert.
Bertha Wegmann, fotografiert von Georg Emil Hansen, Ende 19. Jahrhundert.

Atlantis: Auf einen Tee in Tokyo#

(Sich auf Kontraste einstellen)#

von Martin Krusche

Ich hab die Frau von Atlantis vor unserer ersten realen Begegnung angerufen und sie gefragt: „Wie gehst Du denn gerne in so eine Situation rein? Worauf kann ich achten?“ Naheliegend. Aber ich weiß, genau das sollte ich auch bei manchen Begegnungen mit neurotypischen Leuten fragen. So ein Zugang könnte Konfusionen vermeiden helfen.

Doch wir Neurotypischen haben meist ein Repertoire an Strategien, mit denen man allfällige Differenzen überspielt. Das wird dann auch als „gutes Benehmen“ gedeutet und honoriert. Ich hab eben erst erlebt, wie ein Normalo, mit dem ich ein paar Verständigungsprobleme hab, reagierte, als es darum ging, daß ich ihm einige Versäumnisse klar machen wollte. Da er sich aber offenbar in einem hierarchischen Konzept über mir sieht, fielen Sachfragen weitgehend unter den Tisch und es blieb ein Konflikt zu Fragen des Benehmens.

Das ist übrigens ein altes Muster, wie es bezüglich hitziger Debatten schon in der Antike präzisiert wurde. Da geht es um den Unterschied zwischen Argumenten zur Sache und Argumenten zur Person. Damit will ich sagen, daß unsere sozialen Konventionen praktisch sind und meist zu einer halbwegs flüssigen Alltagsbewältigung beitragen. Aber im Fall einer Differenz sehen wir schnell, was wir besser schon vorab hätten beachten, klären sollen.

Kontraste, hier und weltweit#

Ein anderes Beispiel. Ich habe mir von eine Unternehmer erzählen lassen, daß man in Japan zwar gute Geschäfte machen könne, dafür aber angemessen vorbereitet sein müsse. Wer sich bei einem Meeting falsch verhält und damit etwa sorgt, daß sein Gastgeber das Gesicht verliert, wird dort unternehmerisch nicht weit kommen.

Es geht um Details, manchmal um Nuancen. Wer in Tokyo zu einem Geschäftsessen ausgeführt wird, sollte die Etikette sehr genau kennen und zum Beispiel auf keinen Fall mißdeuten, was die Gesellschaftsdame angeht, die an seiner Seite Platz nimmt. Dar erwähnte Unternehmer macht übrigens auch Geschäfte im chinesischen Shenzhen. Dafür schien es ihm unvermeidlich, einen Han-Chinesen, der mit den Gepflogenheiten vor Ort vertraut ist, als Geschäftspartner zu haben.

Ob nun auf einen Tee in Tokyo oder gar in Ulan Bator, nur ein Agent der Blödheit würde so eine Einladung annehmen, ohne sich mit einigen Grundzügen der jeweils anderen Kultur vertraut zu machen, ohne davon auszugehen, daß ethnische Unterschiede Kommunikation erschweren können, auch zu Missverständnissen führen mögen, die Konflikte auslösen.

Man sollte sich ergo für ein paar der „Do's and Don'ts“ einer anderen Ethnie interessieren. Um beim Beispiel Japan zu bleiben. Es würde Ihnen als rüde ausgelegt werden, falls Sie bei Tisch rülpsen. Bei uns ebenso. Anders ist es mit dem Schneuzen der Nase. Bei uns gar kein Thema. In Japan machen Sie das besser nicht vor anderen Menschen. Seien Sie in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht laut. Ziehen Sie vor dem Eintreten in Privaträumen Ihre Schuhe aus. Und so weiter und so fort…

Atlantis#

Menschen im autistischen Spektrum verkörpern eine Kultur, die sich von unserem Alltag stellenweise fundmental unterscheidet. Aufgrund meiner Nachfrage wußte ich, daß die Frau erst einmal ankommen und kurz bei ihrem Auto verweilen möchte. Offenbar eine kleine Adaptionsphase. Dann wäre es hilfreich, wenn sie mich anrufen dürfe und ich sie abholen würde, um sie ins Haus zu begleiten. Körperkontakt geht gar nicht, das Händeschütteln entfällt also, Umarmen ist undenkbar.

Im Haus werde sie sich erst mit der Situation und den anwesenden Menschen vertraut machen. Es könne sein, daß sie dafür losgelöst herumstreife. Es könne aber auch sein, daß sie eine Weile nah an mir dranbleibe, mich quasi als Paravent nutzend. „Kein Problem“, sagte ich, „so wie ich gebaut bin, kannst Du Dich hinter mir umziehen, ohne daß wer was sieht.“

Das sind alles keine auch nur irgendwie schwierige Anforderungen. Es kann freilich passieren, daß ein unerwartetes Vorkommnis bei der Frau, wie wohl bei allen Atlantiden, einen Streß-Schub auslöst. Der kann dazu führen, daß sie kurz die Orientierung verliert, nicht weiß, worum es grade geht.

Im härtesten Fall fährt ihr ganzes System für eine Weile runter. Kein Problem für einen „Begleitschutz“, wenn man das weiß. Ist ja nicht wie ein Schlaganfall, der von mir drastische Maßnahmen verlangen würde. Falls akut was zu erledigen ist, übernimmt man das. Ansonsten braucht man bloß dafür zu sorgen, daß die Frau unbehelligt bleibt, bis sie wieder auf dem Damm ist. Das wär’s. (Autismus hat sehr viele Erscheingsformen. Das ist eine davon.)

Es gab übrigens einen Moment, da die Frau von Atlantis mit ihrer Stirn ganz kurz meine Schulter angestupst hat. Ich vermute, für die Kultur der Atlantiden eine eher heftige Äußerung.

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