Meine Trotzdem-Tour in rotzigen Zeiten#
Archiv externer Beiträge, Blatt #33#
von Martin KruscheManchmal würde ich das Schweigen der Lämmer dem Blöken der Schafe vorziehen. Aber das ist eine Demokratie. Man darf sich auch zum Deppen machen. Ich mache mich nicht so gerne zum Deppen. Was läuft? Heute muß ich schon aus Trotz ein paar vertraute Stationen anlaufen, um dieses Geplärre und Getöse abzuschütteln. Ich wasche mir ohnehin, seit ich denken kann, anlaßbezogen die Hände und bin überhaupt ein regelmäßiger Besucher meines Badzimmers.
Ich huste anderen Leuten nicht ins Gesicht, denn das gilt als schlechtes Benehmen. Ich hab nicht den Drang, jedem Menschen, der mir begegnet, die Hand zu schütteln. Ich küsse nur wenige Leute. Ich bin noch nicht achtzig Jahre alt. Ergo darf ich mich ziemlich sicher fühlen, bin passabel gerüstet und werde auch mein soziales Leben nicht einschränken, sondern bestenfalls ein wenig adaptieren.
Mein eigenes Verhalten entscheidet hauptsächlich über meine Gesundheit. Heute ging ich los, um eine Mischung aus Fact Finding Mission und Trotzdem-Tour zu absolvieren. In meinem über sechzigjährigen Leben habe ich noch nie so viele leere Regale gesehen.
Das läßt auf ein verstörendes Verhalten vieler Mitmenschen schließen, deren Kriterien offenbar aus einem abgeratzten Kaugummiautomaten kommen. Zur Pizza beim Vali hörte ich, das Geschäft würde schon die ganze Woche einbröseln. Bei Kerstin Feirer im Wosnei x herrscht Alarm-Modus, denn die Summe an Gerüchten und Absagen beschädigen ihr Geschäft, ihre Existenz.
Beim Spar sind die Lücken in den Regalen erheblich und das werte Publikum bewegt sich merklich anders als sonst. Einzig das Regal mit den Matchbox-Autos ist so schlecht sortiert wie eh. Aber ich konnte den eher seltenen 1961er Ford Ranchero entdecken.
In Gleisdorf was heute Vorwahltermin, den ich genutzt habe. Schon im Erdgeschoß des Rathauses werden blaue Latexhandschuhe, Desinfektionsmittel und Reinigungstücher angeboten. (Mich wundert, daß diese Dinge bei derzeitiger Stimmung noch nicht geklaut wurden.)
An der Urne Bürgermeister Christoph Stark, behandschuht, der diesmal wirkt wie der Chefermittler von CSI Miami. Die Parteien haben Beisitzer gestellt, es werden ihnen Brötchen gereicht, ich wünschen ihnen reichlich kühle Drinks zum Abschluß des Tagwerks.
In der Konditorei Wurm bekomme ich nicht, was ich möchte. Die Regale sind leer. Ich frage, ob ich Fotos machen darf. Die Verkäuferin meint unaufgeregt: „Das Foto hätten sie heute auch um 12:00 Uhr mittags machen können.“
Kommentar überflüssig. Im Red Baron ordere ich eine Trotz-Ration Starobrno. Ich bin der einzige Gast. Der Barkeeper nimmt es gelassen. Wir haben Freitagabend. Ein unmöglicher Zustand. Wie sagt der Volksmund? Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben.
Ein letzter Gang duch die Stadt, als klar wurde, daß wir in einen Lockdown fahren. Erstmals publiziert in der KW 52/2020 bei „WOCHE“- Stoff aus Jahrzehnten (Die Archiv-Übersicht)