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Marcus Kaiser: feindtönung - opernfraktal (2014)
Marcus Kaiser: feindtönung - opernfraktal (2014)

Tempo und Menschenmaß#

(Zum Jahresende 2022)#

Von Martin Krusche#

Wenn Architekt Winfried Lechner auf das Thema Forschung und Entwicklung kommt, sagt er zwischendurch: „Es gibt viel mehr technische Möglichkeiten als Nutzungen. Deshalb ist Usability ein so großes Thema. Fachleute werden sehr gut bezahlt, um den Menschen beizubringen, wie man Dinge benutzen kann.“ Lechner meint auch: „Bei uns wird sehr viel produziert, das niemand braucht.“ Es werde auch zu viel gebaut, das gehe an so manchem Bedarf vorbei.

Muß ich annehmen, daß wir Innovation wie einen Fetisch deuten? Ähnlich, wie es in Industrienationen mit dem Thema Wachstum läuft? Was Lechner kritisiert hat, korrespondiert mit meiner Ansicht, daß wir als Gesellschaften eben jener Industrienationen der Adaptionsphasen beraubt wurden, die Menschen brauchen, um sich mit neuen Modi vertraut zu machen. Das hat über die letzten rund 200 Jahre der permanenten technischen Revolution ein Tempo in unser aller Leben gebracht hat, welches im Rahmen der Conditio humana nicht bewältigbar ist.

Kleiner Einschub#

Ich hab nebenan im Netzwerk dieser Projekttexte inzwischen eine Leiste des kulturpolitischen Diskurses aufgemacht. Ausgangspunkt dafür war die „Fürstenfelder Session“, bei der unter anderem zur Sprache kam, daß auch künstlerische Vorhaben immer mehr Zeitdruck erfahren, was ich für absurd halte.

Vor allem staatliche Kofinanzierungen haben mehr und mehr die Konsequenz, daß man im Tempo zulegen muß, was Projektentwicklungen und -umsetzungen betrifft. Sonst schafft man die Zyklen und Fristen nicht. Außerdem gibt es bei Politik und Verwaltung wenig Neigung, größere Komplexität zu unterstützen. Dann müßten nämlich in diesem der drei Sektoren andere Entscheidungen getroffen werden, die für Funktionstragende höheres Risiko bedeuten. (Ich meine hier die drei Sektoren Staat, Markt und Zivilgesellschaft.)

Mir fehlt in meinem Metier eine klare Kritik solchen Unfugs die Kofinanzierungen unter derart enge Bedingungen zu stellen und die Primärkräfte laufend unter Druck zu halten. Ich hab in jener Leiste unter anderem vermerkt: „Deshalb möchte ich mindestens in diesem kleinen kulturpolitischen Diskurs auf dem Menschenmaß beharren und Langsamkeit einfordern, daran festhalten, wo es keine Abkürzungen gibt und wo uns Tempo keine brauchbaren Erkenntnisse liefert.“ (Quelle: „Kontraste der Zuversicht. Eine kulturpolitische Debatte I")

Es sollte klar sein, daß für solche Verlangsamung Risken erhöht werden. Das würde eine Bereitschaft verlangen, diese Risken nicht vor allem auf Kunstschaffende abzuwälzen, sondern innerhalb der Sektoren besser zu verteilen; in einem gemeinsamen, tätigen Bekenntnis zur Bedeutung von Wissens- und Kulturarbeit.

Menschen-Tunig?#

Wir müssen immer größere Informationsmengen bewältigen, immer effizienter arbeiten, immer mehr ursprünglich menschliche Fertigkeiten an Maschinensysteme abgeben. Dabei wird erwartet, daß wir uns den Werkzeugen und Systemen anpassen.

Die „Maschinisierung der Menschen“ ist längst ein Stück Sozial- und Kulturgeschichte. Vermutlich nicht erst seit dem Waffendrill im Dreißigjährigen Krieg, sondern mutmaßlich schon seit dem Bau der Tempelanlage von Göbekli Tepe, mindestens aber seit der Errichtung der Pyramiden von Gizeh. (Formierte Menschen als „Megamaschinen“ etc.)

Richard Mayr (links) und Winfried Lechner
Richard Mayr (links) und Winfried Lechner

Da tun sich heute viele Anwendungsbereiche für EDV-gestützte Assistenzsysteme auf, die allgemein als „Artificial Intelligence“ (AI) bezeichnet werden. Ich mag mich dieser Sprachregelung bis heute nicht anschließen, obwohl sie ich längst durchgesetzt hat. Was ich „Maschinenintelligenz“ nenne, hat mit menschlicher Intelligenz annähernd nichts gemeinsam. Außerdem kenne ich seit meinen Teenager-Tagen Debatten, die unklar lassen, was genau eigentlich mit dem Wort Intelligenz bezeichnet wird.

Vielleicht sind wir deshalb mit unserem Vorhaben ganz gut auf dem Feld der Kunst aufgehoben. Da regiert immer noch Menschenmaß, wenn wir Fragen und Themen mit Mitteln der Kunst bearbeitet. Freilich ist es mir sehr willkommen, wenn dabei auch Inputs aus anderen Metiers zur Wirkung kommen.

So ist etwa Franz Wolfmayr ein versierter Pädagoge, für den das interdisziplinäre Arbeiten ganz selbstverständlich bleibt. Und zwar, wie es mir scheint, im genaueren Sinn dieses Wortes, welches hier und da gerne etwas schlampig auf multidisziplinäre Settings angewandt wird. Wenn ich verschiedene Disziplinen in einem Projektteam zusammenführen kann, fein! Das ist anregend. Aber so wäre es erst einmal multidisziplinär. Das Interdisziplinäre hieße, ich wäre zunehmend fähig, auch in eine andere Disziplin einzusteigen, auf daß ein so aufgestelltes Team inhaltlich in eine kraftvolle Wechselwirkungen käme.

Vielleicht schaffen wir das ja. Gegen Jahresende waren wir bei Fotograf Richard Mayr zu Gast, der nicht nur ein Virtuose im Umgang mit visuellen Codes ist. Mayr hat außerdem eine sehr gründliche Kompetenzlage als Unternehmer und ist mit Kräftespielen der Wirtschaft im KMU-Bereich vorzüglich vertraut. Was Winfried Lechner angeht, den ich inzwischen schon Jahrzehnte kenne, überblicke ich noch gar nicht, wohin seine Kompetenzlage aktuell reicht. Aber von allen läßt sich sagen, daß sie mit hoher Komplexität umzugehen gewohnt sind.

Erhöhte Komplexität, neue Ära#

Wir sind also ein sehr kontrastreiches Quartett und damit nur der Teil jenes größeren Teams, das sich auf einem gemeinsamen Weg befindet, einen besonderen Ort zu bespielen; wenn alles gut geht. Das Anwesen der vormaligen Textilfabrik Borckenstein in Neudau, nahe an der Grenze zum Burgenland, bloß wenige Schritte vom Fluß Lafnitz entfernt. (Mit der „regionalen Matrix der Gewässer“ befasse ich mich in einem eigenen Bereich.)

Diese alte Industrieanlage weist eine Besonderheit auf. Ihre Geschichte begann 1789, also schon 20 Jahre, nachdem der Schotte James Watt sein Patent für die optimierte Dampfmaschine erhalten hat. Im Februar 2019 war dann endgültig Schluß. Das bedeutet, an jenem Standort wurde die gesamte Dampfmaschinenmoderne durchlebt, noch dazu im Bereich der Textilindustrie, die als „Mutter der Industrie“ gilt.

Unser Nachdenken darüber und unsere Verständigungsschritte bezüglich eines speziellen Akzents an diesem Ort setzen also dort an, wo wir vermutlich von einer neuen Ära sprechen können, die überhaupt erst einmal begriffen und definiert sein will. Das heißt, wie eingangs angedeutet: die technische Entwicklung rennt vor uns her, falls wir es schaffen, nicht von ihr getrieben zu werden, wie sie uns im Nacken sitzt. Doch auf beide Versionen – Schub und Zug durch die neuen Systeme - sollten wir strategisch, sozial und kulturell reagieren können.

Franz Wolfmayr (links) und Winfried Lechner
Franz Wolfmayr (links) und Winfried Lechner

Das scheint unter anderem durch die Tatsache erschwert, daß ein beunruhigend großer Anteil unserer Bevölkerung zunehmend Probleme hat, Standardtexte zu lesen und zu verstehen. Es soll die Mehrheit sein. Wolfmayr betonte, das sei zum Beispiel im Sozialbereich ein großes Problem.

Ich mag diese Vorstellung, daß wir hier in einem so heterogenen Kreis einige Zeit in Anspruch nehmen, um prozeßhaft herauszuarbeiten, was genau dieses größere Vorhaben nun sein kann, das derart unterschiedliche Kompetenzen bündelt. Klar scheint im Augenblick vor allem zu sein, daß eine Arbeit von Marcus Kaiser zum Angelpunkt des Geschehens werden soll. Kaiser ist ein Künstler mit obsessiven Seiten im Entwickeln seines Werkes. Das hat Aspekte, in die er physisch eingeht.

Damit will ich sagen, Kaiser entwickelt unter anderem Objekte, in denen er einige Zeit lebt. Dieses radikale Heraustreten aus Gewohntem halte ich für extrem anregend. Rund um diesen Angelpunkt entwickeln sich gerade verschiedene Optionen, die unterschiedliche künstlerische Genres repräsentieren.

Apropos Heraustreten. Damit waren wir dann auch beim Thema der oft erdrückenden Funktionsvielfalt von Urbanität angelangt. Das rührte zugleich erneut an der Usability-Thematik, die Lechner angesprochen hatte. Wolfmayr merkte an einer Stelle unseres Gesprächs an, daß die Identitätsfrage eine besondere Herausforderung darstelle, sobald jemand aus dem Gewohnten heraustrete.

Wolfmayr: „Dieses Aussteigen und dann immer noch wissen, wer man ist, das macht manchen Menschen große Schwierigkeiten. Wer das nicht schafft, hat ein großes Problem.“ „Kann ich mir vorstellen“, meinte ich, „ist mir aber noch nie passiert“. Wolfmayr grinste. „Bist noch nie aus dem Gewohnten ausgestiegen, hm?“