Gedenken: Vom Vorurteil zum Urteilsvermögen#
(Zum Abend im Kino)#
von Martin KruscheIch habe meinen Part an jenem Abend mit folgendem Statement eröffnet: „Ich hoffe, Sie können mir zustimmen, daß Information und Wissen zwei völlig verschiedene Kategorien sind.“ Von der Information kommen wir über Wissenserwerb zu einem nächsten Status. Das ist Arbeit.
Es geht dabei unter anderem um diese „Aha-Effekte“. Erkenntnis. Aus der Antike ist die Anregung überliefert, daß Erkenntnis sich nicht bezahlt machen, sondern erweisen solle. Das ähnelt dem Unterschied, den wir zwischen Grundlagenforschung und angewandten Formen machen. (Das spielt auch in der Kunst eine wesentliche Rolle.)
Ich meine, wer sich gegen die Tyrannei stellen möchte, könnte auf rohe Gewalt setzen. Eine eher kurzlebige Taktik. Um die Menschenwürde zu verteidigen, brauchen wir vor allem Strategie. Die hat taugliche Befunde zur Voraussetzung, ist also auf Wissenserwerb und Erkenntnis angewiesen.
Unter anderem deshalb, weil die Tyrannei uns mit Ideologie und Propaganda konfrontiert, deren Boden über Ressentiments bereitet wird. Dafür steht heute vor allem eine vollkommen neue Mediensituation zur Verfügung, was einen bedeutenden Unterschied zum historischen Faschismus ausmacht. Da wirkt nun nicht mehr das Broadcasting a la „Volksempfänger“ = ein Sender, viele Empfänger. Masse und Macht (Canetti) haben aktuell weit radikalere und komplexere Mittel zur Verfügung.
Genau damit hat sich eine Neue Rechte quer durch Europa seit den 1980er Jahren äußerst konsequent befaßt und dabei enorme politische Erfolge generiert. Diese Kräftespiele konnten sich mit den Vorhaben ähnlicher Lobbies in den USA und in Rußland vernetzen.
So sehen wir nun, rund vierzig Jahre nach dem Aufwallen derlei politischen Bewegungen, daß nicht nur der Faschismus wieder da ist, sondern auch der Krieg. Ich möchte notiert wissen, daß der Untergang Jugoslawiens rückblickend als Ouvertüre dieses Zustandes gedeutet werden kann. In jenen südslawischen Kriegen der 1990er ist so gut wie alles Wesentliche, was wir schon vom Nazi-Terror kannten, prinzipiell noch einmal geübt worden. Und das in unserer nächsten Nachbarschaft.
Ich verstehe zwar, daß sich derzeit etliche meiner Mitmenschen emotional bewogen fühlen, ein „Die Waffen nieder!“ oder „Nie wieder!“ hinauszurufen, vor allem via Social Media zu verbreiten. Doch ich glaube nicht, daß derlei Äußerungen gegenüber den Verfahrensweisen und Medienkompetenzen des neuen Faschismus einen darstellbaren Effekt haben.
Wer nun für die Menschenwürde eintreten möchte, sollte inhaltlich kompetent werden und strategisch avanciert. Das verlangt vor allem einmal, die aktuelle Mediensituation zu begreifen, die eben genau nicht mehr von Broadcasting handelt: Ich rufe etwas, das wird schon wer (er-)hören.
Was dazu gebraucht wird, sind übrigens auch Agenda einer zeitgemäßen Wissens- und Kulturarbeit, was naheliegt, denn das Überwinden von Ressentiments gehört sehr wesentlich zum Kulturbereich. Urteilsvermögen statt Vorurteil brauche ich als Kunstschaffender. Erfahrungen aus solcher Klärung kann im Gemeinwesen nützlich werden. Da liegt viel Arbeit vor uns.
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