Notiz 055: Fragen zur Szene II#
(Zusammenfasssung mehrerer Glossen aus der Origami Ninja Association)#
von Martin KruscheIch war nicht überrascht, daß es bisher zu dieser Serie von Glossen keinerlei Debatte gab. Unter materiellem Druck wird man sich gut überlegen, ob man bewährte Begriffe und Zusammenhänge der steirischen Förderlogik diskutiert.
Es bleibt dabei unerheblich, daß ich mich seit Jahren allein schon am Begriff „Förderung“ stoße, denn diese Sprachregelung blendet aus, daß uns bei derartigen Kofinanzierungen von Projekten Politik und Verwaltung teilweise mit problematischen Eigeninteressen gegenüberstehen. Wir hätten von Kooperation und folglich – wie erwähnt – von Kofinanzierung zu sprechen…
initiativenszene VI#
ich mag die facebook-erinnerungsfunktion. die ergibt oft origininelle überraschungen. eine heutige notiz paßt hierher, weil ich grade erörtere, ob es a) die/eine „szene“ gibt und ob wir kunstvölkchen b) solidarität kennen, womöglich auch üben. es ist ein foto zur geschichtsbetrachtung. leider kann ich die „erinnerungen“, wie sie facebook täglich anbietet, hier nicht teilen, daher übertrage ich dieses memento zu fuß.
die äußerst kunst-bewegte jaqueline pölzer war selbst oft als veranstalterin aktiv, zum beispiel als kooperationspartnerin bei einigen unserer vorhaben. sie schrieb mir am 15.4.2012: „betreff turning point: da kann mein Archiv auch mithalten.“
das fügt sich gerade ins gesamtbild, weil ich in der vorigen glosse („initiativenszene V“) bezüglich schauspieler peter uray erwähnt hab: „es ist bloß eines der beispiele, wie etablierte leute gelegentlich nachschau hielten, was wir welpen so trieben, und uns dabei unterstützten.“
das gilt auch unbedingt für den turning point-exponenten jimi cogan, genau zehn jahre älter als ich, der dadurch auffiel, daß er den jungen gegenüber immer offen und hilfreich war, statt sich abzugrenzen und positionsvorteile zu lukrieren.
ich assoziiere ihn bei solchen erinnerungen zum beispiel auch mit jazzer berndt luef, der ein weiteres beispiel ist, wie man kollektive kulturarbeit auf eine weise realisiert, die von kooperation, paktfähigkeit sowie einer guten balance zwischen eigennutz und gemeinwohl geprägt ist.
niemand zwingt uns, genau das für vorranguige qualitäten zu halten. aber wenn wir schon von „szene“ und von solidarität reden, dann sollten mir auf anhieb wenigstens zehn, 15 leute einfallen, die so drauf sind. bedaure! das krieg ich im moment nicht zusammen. naja, vielleicht wird es noch. und zur TP-autogrammkarte von jaqui pölzer hänge ich noch zwei bilder aus meinem archiv.
initiativenszene VII#
zum meinen lieblings-mantras zählt: wenn wir keine begriffe haben, wissen wir nicht, worüber wir reden. ja, eh! banal! aber keineswegs selbstverständlich. dabei ging das in europa vor jahrtausenden los: als mythos vom logos abgelöst wurde. genau! philosophie.
ich vermute, wir menschen brauchen mythenbildung genauso dringend wie rationale klarheiten. das kann freilich zu einem kulturpolitischen desaster führen, wenn gemeinschaften unter druck geraten und auf krisen reagieren sollten. ich meine: genau das ist uns in der steiermark passiert. zu viel mythenbildung im eigenen metier. macht nichts! wir haben eine hinreißende krise, die uns nicht erst durch die corona-pandemie umgehängt wurde. eine prächtige aufgabe!
von 2010 zu 2015 zu 2020 lassen sich eigentlich klare markierungen finden, die einen weg ins gscher verdeutlichen. aber ja! wir haben längst sektionen eines soziokuklturellen kameradschaftsbundes eröffnet. da gibt es nun besinnliche abende, wo mit orden und schmuck geklimpert wird, wo rebellische reden geschwungen werden. auf den tischen schachteln mit taschentüchern, damit sich so manche träne trocknen läßt.
macht nichts! das muß es geben. dieser opi- und omi-modus soll für die abgekämpften, die verdienstvoll ermüdeten ebenso verfügbar sein wie für all die schwätzer und maulhelden, von denen ich inzwischen weiß. heinz conrads für die initativen-szene? warum nicht!
ich werde hier noch etwas zeit darauf verwenden, einige blicke auf diese steirische entwicklung zu werfen, wie sich ab der zweiten hälfte der 1970er jahre tatsächlich eine soziokulturelle innovation entwickelt und etabliert hat; freilich mit allen schattenseiten einer institutionalisierung.
auch daran finde ich nichts, was mich erschüttern würde. ich denke, es liegt in unserer natur, solche konjunkturen zu durchlaufen. aber ich bin dafür, daß sich die legenden-anbieter eine art kulturpolitisches pensionistenheim organisieren und dort ihre gedenkveranstaltungen abfeiern.
hier, in freier wildbahn, würde ich mich gerne mit inspirierten leuten über diese interessante krise verständigen und darüber, was wir tun werden. um mißverständnisse zu vermeiden: die KRISE ist nicht das problem, sondern bloß ausdruck des UMBRUCHS. ab da haben WIR zu klären, also dieser bunte berufsstand, ob es nun aus der krise a) richtung KATHARSIS oder b) richtung KATASTROPHE gehen wird. darum geht es in krisen hauptsächlich. klar? klar!
initiativenszene VIII#
eine FRAGE:was wäre denn die heutige entsprechung jener steirischen mediensituation, wie sie sich in den 1980er jahren entfaltet hat? anders gefragt: woran kann ich – medienbezogen - heute ablesen, wie sich nächste generationen im kulturbereich entfaltet und etabliert haben? damit meine ich leute, die bestenfalls halb so alt sind wie ich (65). wie hat sich das medial manifestiert? auf welche arten trägt sich das ins steirische kulturgeschehen ein?
in den 1980er jahren gab es vor allem auf dem print-sektor markante sprünge. etwa durch neue stadt-, kultur- und literaturzeitschriften, mit denen wir publikum gewinnen konnten. kleinverlage. autonom angelegte schallplatten- und cassettenproduktionen kamen auf. teilweise auch kleine labels oder komplexere produktionen, die zum beispiel beim netzwerk/vertrieb „extraplatte“ eingeklinkt wurden.
obwohl damals die schmalfilme längst vom video abgelöst waren (VHS hatt sich als dominanter standard durchgesetzt), kann ich mich nicht erinnern, daß film in der steiermark eine stärkere rolle gespielt hätte; allerdings elektronische musik.
in den läden von „hannibal“ wurde allerhand aus den genres „subkultur“ oder „underground“ angeboten; was wir eben darunter verstanden. unsere wesentlichen vetriebsmöglichkeiten blieben freilich die laufenden auftritte, für die es in den 1990ern auch in der provinz – also abseits des landeszentrums – ein wachsenden netz an veranstaltungsorten gab; plus allerhand festivals.
ABER! die medienwelt hat sich seither radikal verändert. ab anfang der 1990er jahre wurden online-dienste breiter erprobt und gewannen sprunghaft an bedeutung. ich hatte noch mit „fanzines“ zu tun, die auf disketten vervielfältigt und verschickt wurden. das ist alles geschichte.
sind nun zu diesen uns so vrtrauten medialen möglichkeiten neue oder andere dazugekommen, durch die sich in der steiermark so etwas wie eine „szene“ auf dem kunstfeld ausdrückt? gibt es zum beispiel aktuelle entsprechungen zu „tonto“ mit den comics und musiken?
initiativenszene IX#
weshalb diese überprüfung der begriffe? wozu dieses infragestellen vertrauter verhältnisse? warum denken und zweifeln? oder umgekehrt betrachtet, eine gängige ansicht, wo denn philosophie beginne, lautet: beim staunen und fragen.
aber wozu philosophie betreiben, wenn uns der alltag durch die pandemie so hart und fordernd geworden ist? ich kann mich mit diesen fragen derzeit nicht befassen, will es auch nicht. der umbruch, von dem unser metier gerührt und geschüttelt wird, ist fundamental und vor allem schon weit länger in gang als die pandemie.
ich bin überzeugt, daß wir gerade das ende einer ära ums haar verschlafen hätten. aber ich hab kein bedürfnis, anderen leuten mit weckrufen auf die nerven zu gehen. verhältnise ändern sich sowieso laufend, gesellschaft ist immer in bewegung. du reitest die lawine oder sie reißt dich weg. so dürfte es sich auch mit dem lauf der dinge ganz generell verhalten.
wie sehr sich durch innovationen das tempo abbildet, in das wir geraten sind, wo wir seit mehr als 200 jahren in einer permanenten technischen revolution leben. das ging mir durch den kopf, weil oliver mally nicht nur als singer-songwriter lebt, sondern auch als ein-personen-unternehmen, in dem er für alle aspekte seines geschäftes selbst verantwortlich zeichnet.
derzeit hagelt es bestellungen, denn sein neues album „tryin to get by“ hat umgehend für eine menge resonanz gesorgt. das heißt, es werden nun a) vinyl-alben und b) CD-varianten ausgeliefert. es ist nicht lange her, da handelte eine vergleichbare situation von a) vinyl-alben und b) musikkassetten.
aber die „digitale revolution“ hat nicht bloß produktionsmethoden verändert, sondern auch die marktsituation und den gesamten kulturbetrieb. davon wird menschliches konsumverhalten massiv beeinflußt.
welche rolle spielen also heute konzerne, netzwerke, kollektive und EPU = ein-personen-unternehmen im verhältnis zueinander? welche zugehörigkeit soll man für sich bevorzugen? wie prägt das aktuell den kulturbetrieb? welche kulturpolitischen schlüsse sind daraus zu ziehen?
weil ich ökonomisch nicht untergehen möchte und mich auf den feldern meines metiers gerne ab und zu sorglos bewegen würde, muß ich mein terrain und mein geschäft kennen. sollte ich aber dafür begriffe haben, die von ihren inhalten längst verlassen wurden, dann klappt das nicht. wenn mein denken nicht mehr erfassen kann, was mich umgibt, weil ich glaubensgegenstände nutze, wo fakten nötig sind, dann… deshalb diese überprüfung der begriffe und dieses infragestellen vertrauter verhältnisse.
initiativenszene X#
es wird ihnen nicht verborgen geblieben sein: ich bin so frei, nach über 40 jahren berufspraxis in diesem metier der wissens- und kulturarbeit, der kunstpraxis in vielen facetten, daran zu zweifeln, daß es eine „szene“, wahlweise eine „initiativenszene“, überhaupt gibt. eine szene, die in größerer breite quer durchs land belegbar wäre.
ich nehme gerne an, daß in einer zuschreibung von außen dieser eindruck dennoch besteht und daß es nützliche begriffe sind, wenn man auf der metaebene zu tun hat, respektive in der verwaltung sein brot verdient.
aber als primäre kraft des metiers findet man bestenfall lager und projekte, initiativen mit regionalen und zeitlichen grenzen. diese oder jene ausnahme ändert nichts am gesamtbild. ich habe schon lange den verdacht, da werden einfach alte denkmuster und konzepte reproduziert, fortgeschrieben, wenn in manchen momenten nach SOLIDARITÄT gerufen wird.
es ist so sehr 19. jahrhundert, wenn eine SZENE beschworen wird, eine FRONTSTELLUNG zu einem wie auch immer definierten establishment. aber was genau ist denn das „freie“ im kontrast zum „establishment“? was sind die kriterien?
zu den bliebten phantasmen gehört dann auch der angebliche schulterschluß zwischen leuten aus unterschiedlichen kultur-formationen, die praktisch nie an einen gemeinsamen tisch finden. aber wo eine einzelperson unter druck gerät, erschallt vorhersehbar ein solidaritätsruf an alle. (können wir daran nur denken, wenn wir in schwierigkeiten stecken?)
mir würde es gefallen, wenn wir aktuell erst einmal klären wollten, was genau uns VERBINDET. da hätte ich gerne etwas präzision und ein wenig mehr intellektuelle selbstachtung. ich meine, wir sollten folgende hypothese auf ihre stichhaltigkeit überprüfen und sie - wenn es geht - falsifizieren: am lautesten rufen jene nach „solidarität“, die am meisten zu verlieren haben.
ich werde mit dieser glosse die kleine serie zum stichwort „initiativenszene“ erst einmal abschließen und mich dem thema AUTONOMIE zuwenden. da will ich dann mit einer kleinen skizze beginnen, die einen ausgangspunkt ergeben soll, der auch das thema initiativenszene erhellt.
- Feuilleton (Kulturpolitische Annahmen und Behauptungen)
- Vorlauf: Fragen zur Szene I (Glossen)
- Origami Ninja Association