
Flossen hoch!#
(Nein, kein Überfall. Naja, vielleicht doch.)#
von Martin KruscheIndustriedesign ist nie bloß der reinen Nützlichkeit von Gegenständen gewidmet. Es ist ein visueller Code für komplexe Kommunikationsakte. Auch wenn wir so ein Zeichensystem im Einzelfall nicht rational lesen und entschlüsseln können, verstehen wir es doch meistens.
Ich kenne ganze Litaneien von Einwänden, die uns auf die bloß praktischen Funktionen der Gebrauchsgegenstände verpflichten möchten. Aber so sind wir Menschen nicht. Gebrauch ist nur eine der Funktionen. Wir verzehren uns auch nach immateriellen Qualitäten, nach Wahrnehmungserfahrungen, nach Wow-Effekten.
Ja, danke, ich weiß. Das macht uns verführbar. Eigenverantwortung ist eben eine anspruchsvolle Disziplin. Ein Beispiel. Mitte der 1930er Jahre bearbeitete Raymond Loewy, der später zur Design-Legende wurde, einen Kühlschrank, den er für das Handelshaus Sears neu gestaltete. Der Verkauf des Coldspot Super Six stieg daraufhin um einen zweistelligen Prozentbereich.
Das kam nicht durch den praktischen Nutzen des Geräts zustande, das war ein ästhetischer Effekt. Es wäre töricht, unsere Wahrnehmungserfahrungen für Mumpitz und Nebensachen zu halten. Sie sind ein Hauptereignis menschlichen Daseins.
Silhouette vergrößern#
Imponiergehabe zeigt sich bei vielen Spezies, so auch bei uns Menschen, durch ein rituelles Vergrößern der Silhouette. Ray Charles und The Blues Brothers empfahlen 1980 in einem Song: “Bend over, let me see you shake your tail feather!” Sprichwörtlich etwa: das Spreizen der Pfauenfedern. Oder das Aufblähen des Brustkorbs per Atemholen. Schulterpolster in einem Sakko dienen solchen Zwecken ebenso. Eine Duftwolke kann dazu beitragen. Oder das Klimpern von Schmuck.Man kann seine automobile Erscheinung heute durch Sound vergrößern. Der Klang eines V8 Big Block in einem Yank Tank nimmt deutlich mehr Raum ein als der Vierzylinder Boxer eines Käfers. Was hilft, wenn das Geld für eine mächtiger Karre nicht reicht? Aktuell kann man sich in einen niedlichen Bürgerkäfig das passendes Auspuff-Soundsystem einbauen lassen und zack! Der Wagen klingt nach Sportgerät.
Die enormen Flossen werden hauptsächlich mit US-Autos assoziiert, waren aber schon in allerhand nationalen Varianten auf den Straßen präsent. Von Flügeln bis zu Stummeln. Tail Fins gab es in den Staaten natürlich nicht bloß bei Cadillac. Dort wurde das Thema allerdings gründlich durchdekliniert.
Designer Harley Earl dominierte diese Geschichte. Er war damals Boss jener Abteilung bei General Motors, in der Industriedesigner Frank Hershey einer seiner Ideen nachgehen durfte. Es gilt heute als unbestritten, daß Earl Skizzen von Hershey als Ausgangspunkt für weiterführende Studien nahm. Das fing knubbelig an und wurde heftig.
Die Legende besagt, ein Mehrzweck-Flugzeug, ein amerikanischer War Bird aus dem Zweiten Weltkrieg, soll die wichtigste Insipirationsquelle für das zeitweilig enorme Aufragen von Heckflossen an amerikanischen Automobilen gewesen sein.
Durch ihren Doppelrumpf hatte die Lockheed P-38 Lightning hinter der Pilotenkanzel zwei Leitwerke. Earl und Hershey haben sich, so heißt es, die Lightning damals auf der Selfridge Air Base sehr genau angesehen.
Design matters!#
Von Harley Earl kam schließlich das Okay für Frank Hershey's Entwürfe des 1948er Cadillac. In jenem Jahr begann dort eine neue Design-Ära. Der Cadillac Series 62 mit ersten Anflügen von Heckflossen wirkt noch eher bullig und kompakt. Zehn Jahre später waren dann enorme Zacken zu sehen.In Europa gingen so heftige Flossen nie in Serie, auch wenn etwa Scaglione und Bertone heftig beflügelte Concept Cars entworfen hatten; die Alfa Romeo Berlinetta Aerodinamica Tecnica. Was dem Mercedes-Benz W 111 zum Spitznamen „Große Flosse“ verhalf, war dagegen sehr moderat und mußte ganz sachlich „Peilsteg“ heißen. (Kaum mehr als eine Bügelfalte.)
Heute scheint es mir aufgrund von Sicherheitsbestimmungen und dem derzeitigen Publikumsgeschmack ziemlich ausgeschlossen, daß auf unseren Straßen neue Flossen auftauchen könnten. Wir sind in der Ära der Blockhütte angelangt. (Die Autos auf dieser Page sind ausnahmslos Cadillacs.)
- Mythos Puch #11 (Endorphin-Maschine)