Kora und die Folgen#
(Ein Gedicht und seine weite Strecke)#
von Martin KruscheAls wäre es ein Familientreffen. Naja, ist es im Grunde auch. Ich bin der Gast mittendrin. Das Foto von Tobi Scheuer zeigt drei Generationen seiner Leute. Im Zentrum dieses Anlasses der kanadische Autor Michael Penny, von dem derzeit ein Gedicht im Lyrik-Slot des „Zeit.Raum“ angebracht ist.
Es hatte sich günstig ergeben, daß Michael und seine Frau Virginia gerade Europa besucht haben. So kam es zu diesem Treffen. Das Gedicht „Lammergeyer“ erzählt von einem Moment während der Kora. Dieses Wort bezeichnet die rituelle Umrundung des Berg Kailash in Tibet.
Ich kam bei jener Session darauf, in der Graphic Novelist Chris Scheuer jüngst seinen „Tribute to Jimi Hendrix“ (Episode 58) umgesetzt hatte. Nicht nur mit einer Grafik, auch mit seiner Stratocaster. Den Gesangs-Teil setzte er im Duett mit seiner Schwiegertochter Emily Scheuer-Penny um. (Sie ahnen nun den Zusammenhang?)
Bei der Gelegenheit brachte Emily einen Song, nach dessen Text ich sie fragte. Es war eben das erwähnte Gedicht „Lammergeyer“. Wir haben dann zu zweit für eine deutsche Fassung gesorgt, zumal ich fand, der Text würde auch sehr gut in mein Projekt „Übergänge“ (Das Altern: Wie ein Leben sich erzählt) passen. Solche Verknüpfungen entsprechen meiner Auffassung von „Art Under Net Conditions“. Ein Prozeß kollektiver Wissens- und Kulturarbeit mit lebhaften Verzweigungen.
Dazu nun auch diese Begegnung im Realraum als wichtiger Kontrast zur Telepräsenz. Michael und Virginia hatten eben erst Venedig besucht, weilten für eine kurze Plauderei in Gleisdorf. Dabei dämmerte mir, wie komplex dieser Moment war. Wie schon erwähnt, drei Generationen auf einem Set in diesem Augenblick einer Erzählung, die einerseits Rückschau ist, andrerseits das, was Kunst leisten kann.
Kunstwerke bieten uns an, daß wir nicht alle Erfahrungen selbst machen müssen. Wir können auch an dem teilhaben, was im Leben andrer Menschen wirksam war. Ich erinnerte mich an faszinierende Berichte in meinen Kindertagen, die mir ein rätselhaftes Tibet gezeigt haben, wobei auch solche „Himmelsbestattungen“ gezeigt wurden.
Zeremonien, in denen die Toten den Vögeln zum Verzehr überlassen werden. Es gibt ähnliche Bräuche auch bei anderen Ethnien, um den menschlichen Bund mit der Natur abzuschließen. Michael erzählte, er habe erst gemeint, Lammergeyer sei das tibetische Wort für diese Vögel. Ein Irrtum. („Wir haben hier keine Vögel, die groß genug sind, um jemanden wie mich wegschaffen könnten“, erwiderte ich.)
Nun also dieser Moment und die Vorstellung, wie einige Gedanken quer durch die Zeit und rund um die Welt ziehen: Kanada, Tibet, Italien (Venedig), Österreich (Gleisdorf)... Was für ein Raum, den ein symbolisches Gut, das Gedicht, da durchmißt! Auch in diesem thematischen Spannungsfeld „Zivilisation und Wildnis“. Davon hat Kanada ja reichlich.
Dabei dachte ich an Fotograf Richard Mayr, mit dem ich seit Jahren zusammenarbeite. Während ich bloß gelegentlich in unseren Wäldern herumsteige, hat er sich wiederholt der Wildnis ausgeliefert, in der man mehr als achtsam unterwegs sein muß. Mayr: „Die Natur will dir nichts Böses. Wenn dir was passiert, hast du einen Fehler gemacht.“
Bei Kanada und Wildnis dachte ich natürlich gleich an seine Begegnungen mit Bären. Mayr: „Die weichen eh aus, wenn sie dich kommen hören. Außer du geratest versehentlich zwischen eine Bärenmutter und ihr Junges. Dann bist du sicher nicht mehr schnell genug.“ All das ging mir durch den Kopf und so ist das eben mit der Kunst. Sie kann in uns Welten öffnen, zwischen meinen und den Welten Anderer Verbindungen herstellen.
- Michael Penny (Poet)
Ergänzend#
- Michael Penny: Lammergeyer
- Episode 58: Tribute to Jimi Hendrix (Chris Scheuer)
- Übergänge (Das Altern: Wie ein Leben sich erzählt)
