Episode XVI: Der Strich#
(Im Dialog mit Chris Scheuer)#
Von Martin Krusche#
Graphic Novelist Chris Scheuer sagt: „Es gibt keine Linie an sich.“ Jedes Material, das in seinen Arbeiten vorkommt, jede Oberfläche braucht eine andere Linie. Holz, Stahl, Glas, Haut und Haare ergeben verschiedene Striche. Die Reduktion der Bildinformationen fordert Nuancen, um den Unterschied mitteilen zu können.
Ich schaue ihm gerne auf die Finger, wenn er zeichnet. Wir sind darüber hinaus noch damit beschäftigt auf Joseph Beuys zu reagieren. In diesem Zusammenhang fällt mir auf, daß wir während der aktuellen Betrachtungen und Gespräche etwas gemeinsam hatten. Ich halte immer ein Notizheft griffbereit, meide lose Blätter, Zettelwerk. Laufend will etwas aufgeschrieben werden.
Dazu gibt es genau eine Art von Stiften, die ich bevorzuge, Tinte über eine Rohrfeder. Ich erwarte, daß sofort Tinte fließt, wenn ich zu einem Strich ansetze. Eine leere Linie, und sei es bloß für einen Zentimeter, macht mir großen Unmut, drängt mich, das Schreibwerkzeug sofort wegzuwerfen.
So gesehen kenne ich kaum etwas Schlimmeres, als diese völlig untauglichen Werbekugelschreiber, die ich als Zumutung empfinde. Ich will so ein Zeug nicht einmal in der Hand halten. Dieser klapprige Unfug in meist schreienden Farben oder als Imitation gediegener Werkstoffe ausgeführt… Aber ich schweife ab. Meine Notizhefte und ein taugliches Schreibzeug.
Scheuer ist da offenbar ähnlich gestrickt. Er verwendet Notizbücher. Die sind allerdings zirka doppelt so groß wie meine Hefte. Das ist plausibel, weil seine Art der Notizen meist mehr Fläche braucht als meine Wörter und Sätze. Dazu führt Scheuer einiges Schreibwerkzeug in einer schlanken Blechdose mit sich. Darin findet sich so eine Ost-West-Angelegenheit, die er real nutzt, während er sich visuelle Notizen macht.
Mir wäre das womöglich gar nicht aufgefallen, aber Jun'ichiro Tanizaki hat es in seinem eleganten Essay „Lob des Schattens“ (Entwurf einer japanischen Ästhetik) thematisiert. Deshalb bemerkte ich, daß Scheuer zwischen einer herkömmlichen Füllfeder und einem asiatischen Schreibgerät wechselte, je nachdem, was er grade festhalten wollte.
Das erinnerte mich an die Überlegungen von Tanizaki. In meinem Worten: Hätte ein Japaner oder Chinese den Füllfederhalter erfunden, es steckte an dessen Spitze keine Stahlfeder. Da wären Pinselhaare montiert. Es käme überdies nicht blaue Tinte zur Anwendung, sondern ein Stoff möglichst nahe der schwarzen Reibtusche. Voilà!
Kontext#
Da hatte sich eine Situation aus einem gemeinsamen Besuch der Ausstellung „Joseph Beuys 101“ entwickelt. Das alles handelt von einem ästhetischen Universum, in dem wir aufgewachsen sind; auch wenn Scheuer schon als Kind von Dürer ausging. Doch wenn wir zum besseren Verständnis kurz einen Hauch Rückübertragung zulassen, was in der Geschichtsbetrachtung eigentlich verpönt ist, finden wir an Dürer Motive des Handelns, die sich als Vorboten einer Popularkultur deuten lassen.Es wäre allerdings dümmliche Geschwätzigkeit, daraus so Begrifflein wie „Popstar Dürer“ abzuleiten, denn dafür sind sein Gewicht und seine Reichweite zu groß. Aber das Reproduzieren von Bildern und ihrer große Verbreitung ist eine radikale kulturelle Innovation, deren Wirkung wird heute noch genießen dürfen.
Jedenfalls ist da eine durchgängige Ideenlinie aufspürbar. In diesen Zusammenhängen sind wir einerseits mit dem derzeit herrschenden Kunstkanon vertraut und in vielen Punkten d’accord, andrerseits eben auch in der Popularkultur zuhause. Was das ist, Popularkultur? Jenes Kräftespiel, das entlang meiner bisherigen Lebenszeit die alte Dichotomie „Volkskultur/Hochkultur“ einfach gesprengt hat.
Wir werden diese Zusammenhänge noch näher erörtern und darstellen. Vorerst aber abschließend ein Satz aus meinen Notizen. Scheuer sagte: „Ich kann auf interessante Weise schön und häßlich nicht unterscheiden.“
- Fotos: Martin Krusche
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- Beuys 101 (Eine Erzählung in Momenten und Episoden)
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