Zeit.Raum, Slot I, Episode XX#
Eine Frage der Perspektive, Teil 3 oder: Biedermeier reloaded / go for your bubble#
von Monika LaferBereits 2001 stellten Freizeitforscher fest, dass bei den 14 - 29jährigen ein deutlicher Wertewandel zu beobachten war: traditionelle Werte wie Gehorsam, Pflichterfüllung, Höflichkeit und Fleiß rückten in den Lebensmittelpunkt, Selbstentfaltung, Kritik-und Kontaktfähigkeit sowie Spontaneität und Offenheit verloren an Bedeutung. Ein Leben im Gleichgewicht, mittlerweile bekannt als work-life-balance, sei erstrebenswert.
Das Engagement in Bürgerinitiativen war gestiegen, die Mitarbeit in Parteien und Gewerkschaften hatte den absoluten Tiefpunkt erreicht. Der Stimmungswandel sei durch den 11. September 2001 beschleunigt worden, Menschen ziehen sich in ihren Cocon zurück. Das ursprüngliche Biedermeier vor etwa 200 Jahren war keine freudlose Zeit – es wurde viel gefeiert, aber eben privat.1)
Die Corona-Pandemie hatte das neue Biedermeier fraglos verstärkt, die Welt drohte kleiner zu werden und die Orientierung zu den großen Fragen nahm im Zuge dessen ab. Zusätzlich zum Rückzug in die eigenen vier Wände ortete 2020 die Soziologin Michaela Pfadenhauer (Uni Wien) eine neue „Biedermeierhaltung“ der Gesellschaft: Es handle sich um eine anti- bzw. apolitische Haltung, die weder für Solidarität noch für das Zusammenleben gut sei, da jeder nur daran denke wie er seinen Feierabend angenehm verbringt.
2020 wurde außerdem ein Phänomen des neuen Moralisierens wahrgenommen, offensichtlich war nun die Lust groß, sich gegenseitig zu belehren. Legitimiert durch die Pandemie fühle man sich frei, dem anderen Dinge frei heraus zu sagen – nämlich was er gerade falsch mache.2)
Die gute (analoge) Stube vor 200 Jahren ist mittlerweile eine virtuell- hybride geworden: Diverse Social Media-Kanäle eröffnen selbst dem einsamsten Misanthropen Möglichkeitsräume, die fleißig zur Meinungsbildung und – verbreitung genutzt und missbraucht werden. Man bezeichnet die Gesamtheit der virtuellen Community eines Users als Bubble, also eine Blase, in der man sich bewegt. Munter werden Versatzstücke kombiniert, um zu einer Aussage zu kommen. Folgerichtigkeit oder gar Logik spielen hier keine Rolle.
Auch auf dem Bild gibt es keine festgelegt Perspektive: ein mechanischer Mixer (Strom ist teuer), ein alter Mostkrug und eine Kupferkanne purzeln durcheinander. Die Schneckenhäuser werden von allen Seiten gezeigt, nur nicht von innen – man kann davon ausgehen, dass nichts und niemand drin ist. Hagebutten und Lauch sind feste Bestandteile der Komposition. Sie stehen für das Halbwissen, das vor allem in der Kräuterkunde fröhliche Urstände feiert, weil von geschäftstüchtigen Esoterikern beackert.
Viele Menschen genießen den schmackhaften Hagebuttentee, auch in der Meinung, ihren Gelenken etwas Gutes zu tun. Hätten sie Ahnung von den (tatsächlichen chemischen) Inhaltstoffen, wüssten sie, dass Hitze eben diesen den Garaus macht. Man muss allerdings einräumen, dass der Placeboeffekt immerhin 30% ausmacht. Egal, es gibt ja immerhin noch die Bubble – auf dem Bild als kreisförmige Farbflächen zu sehen – die einem in seiner Meinung den Rücken stärkt. Wie gesagt, um Folgerichtigkeit geht es hier nicht.
- Slot I: Monika Lafer (Übersicht)
- Fußnote #1 (abgefragt am 15.10.2022)
- Fußnote #2 (abgefragt am 15.10.2022)