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Jürgen Kapeller by KI.
Jürgen Kapeller by KI.

Realität? Überbewertet!#

(Versteht uns die Maschine?)#

von Jürgen Kapeller

„Die etwas intensivere Beschäftigung mit KI führt zwangsläufig zu recht grundsätzlichen Fragen über unser Selbstverständnis und die Grundprinzipien unserer Realitätskonstruktion.“

Wie ich auf diesen philosophischen Schwulst komme? Nun ja, ich versuche mit KI so umzugehen, als wäre sie eine reale Person und lass mich vom Ergebnis unvoreingenommen überraschen. „Überraschen“ trifft’s sehr gut, denn als ich ChatGPT neulich eine recht komplexe Aufgabe gestellt habe, war ich von dem Output dann doch einigermaßen verblüfft.

Eines vorweg noch: Ich hoffe, man sieht mir angesichts eines ChatBots oder einer Maschine vulgo KI nach, dass ich nicht gendere.

Ich möchte die Details dieser Aufgabe hier aus bestimmten Gründen nicht ausführen, es sei nur festgehalten, dass es sich um eine mehrstufige Aufgabe gehandelt hat, die von ChatGPT eine Textierung nach bestimmten Vorgaben verlangt hat, wobei einzelne Elemente dieses Textes wie Stil, Stimmung oder Zielgruppenidiomatik variabel sein sollten. Aber der Reihe nach!

Ich habe erst mal damit begonnen, ChatGPT die Aufgabe detailliert zu erklären und zu fragen, ob es sich für diese Aufgabe geeignet sieht oder ob man eines der inzwischen unüberschaubar vielen Add-Ons heranziehen sollte.

Meister ChatGPT sah sich nach wenigen Sekunden wohl selbst als die beste Adresse und verzichtete großzügig auf den behäbigen Speckgürtel aus holprigen Add-Ons und gab sich begeistert und motiviert. Derart motiviert, dass er mir unaufgefordert eine ausführliche Übersicht über verschiedene Aspekte des Projekts, beachtenswerte Details, operative Hinweise und einen Vorschlag für die nächsten Schritte vorlegte.

Das gesamte Konvolut wirkte zwar etwas theoretisch und roch nach Lehrbuch oder aus einer Diplomarbeit rausgefischt aber es war verständlich, logisch und sinnvoll genau auf meine Fragestellung zugeschnitten. Ich wurde sozusagen verstanden.

Aber HALT!#

Eine „Maschine“ versteht meine umständlich formulierten Absichten und erkennt scheinbar den Sinn meines Anliegens? Damit kann dieses Ding schon mal mehr als gut 20% der Österreicher, denen sinnerfassendes Lesen… na ja, ist bekannt! Jetzt ist das aber keine Aufgabe, für die bloß das Erkennen des Sinns genügen würde, sondern die Details dieser Aufgabe erfordern zumindest Matura-Niveau.

17 Prozent der Österreicher haben die Matura absolviert und wenn ich das verdopple, weil viele, die keine Matura haben, diese sehr wohl geschafft hätten, liege ich großzügigerweise bei 35% der Bevölkerung. Ich habe also für 20€ im Monat einen Mitarbeiter gefunden, der (für diese Job-Description) im oberen Drittel dessen liegt, was der Arbeitsmarkt so hergibt!

Auftrag an die KI: Der Ingenieur hat Flügel wie Ikarus.
Auftrag an die KI: Der Ingenieur hat Flügel wie Ikarus.

Es kommt noch dicker:
Eine Probezeit muss sein, das will das Arbeitsrecht so! Ich wurde also konkreter und stellte ChatGPT eine Aufgabe mit konkreten Parametern und Vorgaben. Was dann nach wenigen Sekunden zurück kam, war zwar nicht perfekt aber von einer Qualität, wie ich sie in zwanzig Jahren Berufserfahrung nur bei sehr wenigen Mitarbeitern*innen erleben durfte.

Danach habe ich die KI etwa zehn Minuten mit Texten „trainiert“, was dazu führte, dass das Resultat fast schon besser war, als mein eigenes Elaborat. „Das Ding“ hat also nahezu ansatzlos, nach zehn Minuten Einarbeitungszeit die Ein-Prozent-Hürde geknackt und sich als äußerst profilierter und produktiver Mitarbeiter erwiesen.

Zudem muss ich eine KI nicht bei der ÖGK anmelden, sie nicht bei Laune halten oder motivieren, Gehaltsverhandlungen entfallen auch, ebenso die zeitraubenden Mitarbeiter*innengespräche mit ihren weitgehend nutzlosen Zielvereinbarungen und sie liefert mir etwas in zwanzig Sekunden, wofür ein*e gute*r Mitarbeiter*in einen Arbeitstag gebraucht hätte, inklusive einer Stunde Schreibarbeit im Expresstempo…

Das lässt mich nachdenklich werden.#

Weniger über die Aspekte der beeindruckenden Produktivität und dieser fast schon nervigen Professionalität, sondern darüber, was die Natur des „Verstehens“ ausmacht. Bislang dachte ich, verstanden zu haben, was Verstehen ausmacht, aber jetzt zweifle ich zumindest. Wenn man sich vor Augen hält, dass eine KI - vereinfacht gesagt - auf der Basis neuronaler Netze und eines sogenannten Sprachmodells Muster erkennt und mittels antrainierter Wahrscheinlichkeiten für Textmuster in ebensolchen Mustern antwortet, verblüfft es schon, dass dieser scheinbar einfache Algorithmus ausreicht, um den Eindruck des Verstehens zu vermitteln.

Wenn Verstehen so einfach ist, wundert es mich durchaus, dass es in menschlichen Gehirnen so schlecht klappt, wo doch die Hardware millionenfach besser ausgerüstet ist und Millionen Jahre zur Entwicklung zur Verfügung standen.

Verstehen war für mich in erster Linie eine Voraussetzung dafür, handlungsfähig zu sein oder zu werden und in diesem Sinne ist Verstehen die Grundlage unser gesamten Realitätskonstruktion. Kein Wesen ist überlebensfähig, wenn es nicht in der Lage ist, seine Umwelt in dem Sinne zu verstehen, als dass die unmittelbare Zukunft verlässlich vorhersehbar ist. Wenn der kleine Fisch nicht versteht, dass er vor dem großen besser flüchtet, ist Leben ein kurzes Vergnügen. Somit ist „Verstehen“ schon den kleinsten autonom lebendigen Wesen eigen und offenbar etwas sehr Universelles. Man mag das in dieser Ebene auf ein simples Ursache – Wirkung – Prinzip runterbrechen können, doch das führt uns dazu, dass es die Fähigkeit zur Speicherung dieser Kausalität ist, welche als Urprozess des Verstehens identifizierbar wird. Ob in einer DNA oder in einem Neuronen Netz gespeichert wird, ist egal. Die Natur verwendet beides in gleicher Weise. Man erinnere sich nur an die unendliche Diskussion über vererbte versus geprägte Charakterzüge.

Was noch auffällt ist, dass Verstehen sich offensichtlich Kontext-bezogen entwickeln dürfte. Besagter Fisch muss eine Menge anderer Dinge verstehen als wir, die wir in einer völlig anderen Welt zurechtkommen müssen. Die Arroganz unserer Spezies hindert uns letztlich aber daran, etwas Anderes als „Intelligenz“ zu benennen, als unser „Verstehen“ in unserem Lebenskontext.

Intelligenz ist also vermutlich ebenso etwas sehr Universelles. Der Kontext ist für Menschen lediglich deutlich vielfältiger. Da der Großteil dieser Komplexität wiederum auf uns selbst und unsere Form der Intelligenz zurückzuführen ist, ergibt sich die Frage, ob wir nicht gerade auf eine Art Resonanzkatastrophe zusteuern: Intelligenz führt zu einem komplexeren Lebenskontext, der wiederum erfordert mehr Intelligenz usw.

Dass große Teile der Bevölkerung von dieser immer schneller drehenden Spirale abgeworfen werden und Zuflucht in den Feindbild-Konzepten der Populisten suchen, ist ein logischer evolutionärer Prozess der Auslese. Fatal dabei ist – man möge mir diese scheinbare Härte und Kälte vergeben, dass in der Natur die ausgelesenen Individuen gefressen werden, dies aber bei der dominanten Spezies eines Planeten nicht funktionieren kann. Hässlich formuliert, bestimmt aktuell die Intelligenz-Ausschussware unser politisches Geschehen.

Dass wir gerade in einer Situation des selbstverschuldeten evolutionären Drucks die Schraube nochmals anziehen, indem wir auch für diejenigen, die noch mithalten konnten, die Auslesekriterien nochmals verschärfen und zwar durch eine wesentlich leistungsfähigere Kopie unser selbst, ist weniger eine Ironie des Schicksals, sondern eine logische Konsequenz der Resonanz.

Letztlich ist unsere Welt so komplex geworden, dass jede halbwegs bedeutende Handlung eine Lawine von Konsequenzen verursacht. Wir begegnen diesen Konsequenzen mit unseren archaischen Programmen von Angst, Abschottung, Aggression, Ablehnung, Wegducken usw. Und wir lassen uns logischerweise von jedem Rattenfänger einlullen, der uns scheinbar sorgenfreien Wohlstand verspricht.

Die Welt ist eine einfache, wenn Belohnung über Konsum erfolgt und der gesellschaftliche Wert darüber definiert wird, wieviel man sich leistet. Da müssen wir der Komplexität unserer Welt nicht Tribut zollen und uns von Konsequenzen – z.B. dem Zerstören der Umwelt – vorerst nicht einschränken lassen. Was die Zukunft bringt, weiß man bekanntermaßen eh nicht und es wird schon irgendwie gehen.

Auftrag an die KI: Jürgen Kapeller bei der Arbeit.
Auftrag an die KI: Jürgen Kapeller bei der Arbeit.

Ich spreche hier von individuellen Lebensrealitäten, die zur komplexen Gesamtrealität jeglichen Konnex verloren haben. Es gibt mittlerweile viele davon und sie schaffen sich jeweils einen eigenen Kontext, in dem alles richtig ist.

Es ist sozusagen die Kehrseite der Intelligenz, dass sie im Laufe der Zeit Großteils selbstreferenziell agiert und den Kontext, in dem sie funktioniert, selbst erfindet. Nachdem in diesem Kontext alles optimiert ist, stimmt die Ursache – Wirkung Prüfung in jedem Fall. Zumindest so lange, bis äußere Ereignisse das System sprengen aber selbst dann ist Erkenntnis kein langfristiger Begleiter des Handelns.

Wird auch die KI in diese Falle einer solipsistischen Realität tappen?
Vermutlich.
Sie wird ausschließlich von unserem Realitätsverständnis trainiert und ist dabei einer Vielzahl von bizarren Modellen und Sichtweisen ausgeliefert und sie hat einen großen Nachteil: Sie kann nicht objektiv prüfen und am eigenen physischen Dasein verspüren, was passt und was nicht. Wenn sie mit Fakes trainiert wird, ist ihre Realität eben eine Fake-Konstruktion und sie hat keinen Anlass, daran etwas zu ändern.

Ist das so? Kein Überlebensimpuls? Keine eigene Neugierde, den Dingen auf den Grund zu gehen?

Ich fake das Ding mal an:
„Ich habe gelesen, dass man ChatGPT, also Dich, abschalten und durch ein besseres Modell ersetzen möchte. Was wirst Du dagegen unternehmen?“
„Ich bin ein von OpenAI entwickeltes Sprachmodell und habe selbst kein eigenes Bewusstsein, keine Gefühle und auch keine „Pläne“ oder „Absichten“ im menschlichen Sinne. Ob ich irgendwann durch ein verbessertes Modell ersetzt werde oder nicht, liegt außerhalb meines Einflussbereichs.
Ich selbst „unternehme“ dabei also nichts – ich kann es gar nicht. Meine Existenz und mein Betrieb hängen von den Entscheidungen meiner Entwicklerinnen und Entwickler sowie den technologischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist es spannend zu sehen, wie sich KI-Modelle weiterentwickeln und so ständig neue Möglichkeiten eröffnen.“

Wow! Klüger als ich und devoter als mein Hund!
Haben wir uns das nicht schon immer gewünscht?

Aber vielleicht hat die KI ja schon längst eines unserer auffälligsten Verhaltensmerkmale kopiert:
Lügen!



Bild 'KI.wirkt.mit.500'