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Splitter und Scherben#

(Wozu die Befassung mit Resten unserer Geschichte?)#

von Martin Krusche

Es fehlt an Quellen und an repräsentativen Artefakten, um genauer darzustellen, worauf Gleisdorf ruht. Archäologin Sarah Wolfmayr bleibt auf Stückwerk angewiesen. Tonscherben. Münzen. Das Ergiebigste sind derzeit noch Grabdenkmäler. So geben dreiteilige Namen Aufschluß darüber, daß eine ursprünglich keltische Bevölkerung unter römische Verwaltung gekommen ist. Darin haben sich Lebenskonzepte und kulturelle Gepflogenheiten vermischt. Abbildungen auf Grabsteinen machen Bekleidungsdetails deutlich. Dazu passen wiederum einzelne Fundstücke wie Nadeln, Fibeln, Schmuck.

Von links: Sarah Wolfmayr, Siegbert Rosenberger, Sigrd Hörzer. (Foto: Martin Krusche)
Von links: Sarah Wolfmayr, Siegbert Rosenberger, Sigrd Hörzer. (Foto: Martin Krusche)

Historiker Siegbert Rosenberger zeigt auf einem Gang durch die Stadt einzelne Stellen, wo Markierungen daran erinnern, daß Funde von Mauerresten eine nennenswerte Siedlung belegen. Wie groß die Siedlung war, ist allerdings bis heute noch nicht erkundet worden. Viel blieb dem Zufall überlassen. Für wissenschaftlich angelegte Grabungen fehlten bisher meist die Mittel.

Wolfmayr erzählt von sogenannten Notgrabungen, die gelegentlich durchgeführt werden konnten, wenn etwa Bauarbeiten Hinweise ergaben, daß man auf etwas Interessantes gestoßen sei. Wo heute ein Baumarkt besteht, hat schon in der Antike etwas bestanden. Rosenberger nennt nebenan das Friedhofsgebiet als reichlich untersucht. Logisch: „Auf einem Friedhof wird eben gegraben.“ In diesem Fall seit 1780. Er verweist auf einen Geistlichen, der in vergangenen Tagen aus Interesse für die Antike Fundstücke sammelte, Aufzeichnungen führte, Beschreibungen hinterließ.

Es gibt hier aber keine Tradition, daß Behörde oder Wissenschaft sich je mit Laien, mit Hobbykräften, enger verständigt hätten. Wolfmayr erwähnt, daß heute etwa eine Gruppierung bestünde, die mit Metalldektoren private Schatzsuche betreibe. Zwiespältig. Das solle als Informationsquelle ernst genommen werden, würde aber auch heikle Punkte berühren.

Erstens sei es ohne behördliche Genehmigung nicht erlaubt, nach archäologisch relevanten Stücken zu graben. Zweitens würde einem Gefundenes nicht gehören, selbst wenn man Artefakte auf Privatgrund geborgen habe. Das ist Sache des Staates. Plausibel, weil sonst manches Kulturgut für die Allgemeinheit verloren wäre. Ärgerlich für Menschen, die sich so in ihren Privatangelegenheiten gestört fühlen.

Archäologin Sarah Wolfmayr. (Foto: Martin Krusche)
Archäologin Sarah Wolfmayr. (Foto: Martin Krusche)

Wozu das Ganze?#

Aber warum ist es überhaupt wichtig, solchen Zusammenhängen nachzugehen? Was schert es uns heute, wie hier im ersten bis dritten nachchristlichen Jahrhundert gelebt wurde? Immerhin ist es tiefe Provinz gewesen. Das Noricum. Einst bestenfalls durch die hohe Qualität seiner Eisenprodukte bekannt. (Bei den bedeutenden österreichischen Arbeitspferden, den Norikern, ist inzwischen die Annahme wieder vom Tisch, sie würden von römischen Legionspferden abstammen.)

Außerdem ist all das spätestens durch die Völkerwanderung (4. Bis 6. Jahrhundert) von einem Bruch durchzogen, in dem Europa sogar den Großteil bedeutender Textquellen verloren hatte, vor allem griechische Philosophie, die wir erst später von den Arabern, welche Übersetzungen und Kommentare besaßen, wieder bekamen.

Es ist nicht bekannt, wie der Vicus im Raum Gleisdorf, so die Bezeichnung derartiger Siedlungsart, damals hieß. Ein Ortsname ist nicht überliefert. (Es gibt anscheinend nicht einmal ein befriedigende Quellenlage, um den heutigen Ortsnamen Gleisdorf verläßlich zu erklären.) Dieser Vicus stand unter Verwaltung von Flavia Solva, einem administrativen Zentrum, dessen Gebiet beim heutigen Wagna, nahe Leibniz, zu finden ist. Das sind übrigens auch Markierungen auf einem Handelsweg, der Bernsteinstraße genannt wird.

In dem Zusammenhang wären nun vor allem Straßen- und Gewerbesiedlungen zu beachten. Etwa Kalsdorf, südlich von Graz. Das erwähne ich, weil von dort die beeindruckende Ikarus-Statuette eines Grabmals stammt. Ein Werk, auf das mich Archäologin Maria Christidis hingewiesen hat. Eine Arbeit aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, also dem Zeitraum, da auch der Gleisdorfer Vicus bestand. (Heute ist dieser Ikarus Teil der Sammlung des Grazer Instituts für Archäologie.)

Historiker Siegbert Rosenberger. (Foto: Martin Krusche)
Historiker Siegbert Rosenberger. (Foto: Martin Krusche)

Fällt es Ihnen auf? Immerhin haben für uns heute noch Charaktere aus der griechischen Mythologie Bedeutung, die uns auch in Bildnissen aus der römischen Kultur erhalten sind. Beispiele menschlicher Eigenarten werden über Jahrtausende gepflegt und debattiert. Warum wollen wir also wissen, was in der römischen Antike hier geschehen ist? Es gibt zu all dem, so höre ich, keine aufschlußreichen Quellen. Textdokumente fehlen. Selbst steinerne Inschriften sind rar. Weshalb sollte uns das also heute beschäftigen?

Mündliche Überlieferung ist eigentlich recht kurzlebig. Trotzdem schätzen wir sehr alte Erzählungen, die dann selbst in trivialen Formen auftauchen. (Suchen Sie etwa auf Youtube nach dem Lied „Ikarus“ von der steirischen Austropop-Größe Wilfried!)

Ich gebe Ihnen einen kleinen Hinweis. Ich war auf meinem Weg zum Treffpunkt für diesen Rundgang auf römischen Spuren, den Sigrid Hörzer, Kustodin des hiesigen „Museum im Rathaus“, organisiert hatte. Da sah ich vor dem Kirchriegel eine Hochzeitsgesellschaft versammelt. Zu diesem Setting gehörte ein geschmückter Rolls-Royce Silver Shadow aus vergangenen Tagen.

Was zeigt uns seine Frontpartie? Einen stilisierten griechischen Tempel. Das korrespondiert mit Gräbern auf dem Gleisdorfer Friedhof, die Siegbert Rosenberger erwähnt hat, weil sie architektonische Details zeigen, die man schon auf den Gräbern der römischen Antike fand. Vor allem das Giebeldreieck (Tympanon) werden auch Laien leicht mit griechischen Tempeln assoziieren.

Es fehlen uns also viele konkrete Informationen über das Leben, wie es sich vor fast zwei Jahrtausenden in unserer Region zugetragen haben mag. Die Quellenlage ist sehr dünn, auch Fundstücke geben nicht gerade reichlich Auskunft. Aber wenn wir unser eigenes Leben genauer überprüfen, ist es doch erstaunlich, wie viele Details sich entdecken lassen, Formen, Motive, auch Denkweisen und Ansichten, die sich auf antike Quellen zurückführen lassen.

Der Kalsdorfer Ikarus (Foto: Institut für Archäologie, Uni Graz, Creative Commons BY-NC-SA 4.0)
Der Kalsdorfer Ikarus (Foto: Institut für Archäologie, Uni Graz, Creative Commons BY-NC-SA 4.0)

Identitätsfragen#

Ich will damit sagen: Die Antike ist in unserem Leben präsent. Man muß das nicht überbewerten, man braucht das nicht zu ignorieren. Wie heftig und oft wurde gerade in den letzten Jahren nach unserer Identität gefragt, nach unseren kulturellen Wurzeln? Wie brisant erscheinen solche Fragen, da sich ganz Europa derzeit in radikalen Umbrüchen befindet? Wer sind wir also, wer möchten und wer könnten wir sein, wenn sich Lebensbedingungen so gravierend verschieben, wie das derzeit geschieht?

Das führt ganz speziell zur Beachtung, was unsere Kultur in solchen Zusammenhängen leistet, die uns bei dem unterstützt, was wir brauchen, um etwa über unauflösbaren Widersprüchen nicht den Verstand zu verlieren. Identität als das Konstante in einer ständigen Veränderung. Konstant zwar, aber nicht starr, denn auch daran würden wir kaputtgehen.

Davon ist das Individuum gleichermaßen betroffen wie eine ganze Gesellschaft. Das muß individuell und kollektiv geleistet, geschafft werden. Alles bewegt, ändert sich ständig. Wie hält sich mein Ich in solcher Dynamik, worauf stützt sich ein Wir? Das ist es, was Kultur leistet. Sie bietet uns dazu Verfahrensweisen und Deutungsmodelle.

Hier verhandeln und verwalten wir, was trivial und flüchtig, was dagegen tiefgreifender und erhaltenswert ist. Deshalb müssen wir (naja, einige unter uns) wissen, was damals gewesen ist, selbst wenn es Jahrtausende zurück liegt. Das bedeutet auch, wir überprüfen uns selbst, unsere Ansichten, unsere Welt- und Menschenbilder, nicht bloß an der Tagespolitik oder am laufenden Jahr, sondern an einem sehr viel größeren Zeitraum, der seinerseits nur ein Wimpernschlag in der Geschichte ist.

Es gibt ein Bonmot aus dem Bereich der Kognitionswissenschaften, das begreiflich machen soll, wie enorm die Integrationsleistung der Seele ist. Meist nehmen wir das nicht wahr, weil wir es für selbstverständlich halten: „Wie weiß ich nach dem Aufwachen, daß ich der bin, der gestern Nacht schlafen gegangen ist?“

Fast schon Popkultur: Ein Kühlergrill als stilisierter Tempel, darauf, wie eine Siegesgöttin, der „Spirit of Ecstasy“. (Foto: Martin Krusche)
Fast schon Popkultur: Ein Kühlergrill als stilisierter Tempel, darauf, wie eine Siegesgöttin, der „Spirit of Ecstasy“. (Foto: Martin Krusche)
Unter dem Baumarkt liegen antike Mauerreste, beim Baumarkt findet man junge Mauerreste zum Kauf angeboten. (Foto: Martin Krusche)
Unter dem Baumarkt liegen antike Mauerreste, beim Baumarkt findet man junge Mauerreste zum Kauf angeboten. (Foto: Martin Krusche)

Lächeln Sie ruhig! Jeder Neurologe wird Ihnen gerne schildern, wie schnell diese persönliche Integrationsleistung entfallen kann, wenn Ihr Körper bloß ein wenig aus dem vorgesehen Temperaturfenster herausrutscht oder wenn Ihre Körperchemie unerwartete Aussetzer, wahlweise Wirkungsspitzen hat. Dann kann diese laufende Selbstvergewisserung schlagartig schiefgehen und einen in entsetzliche Situationen bringen. Auch unsere kulturelle Verfaßtheit ist für solche Krisen anfällig.

Identität bleibt darauf angewiesen, daß sie nicht erstarrt, daß sie dynamisch, auch anpassungsfähig bleibt. Wir sollten in eben diesem Zusammenhang noch genauer klären, weshalb der Kultursektor also kein „nettes Orchideenfach“ ist, auch kein Dekorationsgeschäft, sondern ein zentraler Bereich menschlicher Existenz und Gemeinschaft.

  • Siehe zu diesem Thema auch: Rosa, Rosae, Rosae... (Wozu über die Antike nachdenken?), was nebenbei die Frage berührt, warum es nicht schon in der Antike eine technische Revolution, ein Maschinenzeitalter, gegeben hat, denn das Know how dafür war vorhanden.
  • Kuratorium für triviale Mythen