Der Psychiater als Anarchist – Otto Gross #
Der Sohn von Hans Gross verkörperte um 1900 den Kampf gegen die autoritären Väter: Er war Wissenschaftler und Anarchist, süchtig nach Kokain und führte ein äußerst freizügiges Leben.#
Von Robert Engele mit freundlicher Genehmigung der Kleinen Zeitung
In einem anderen Artikel habe ich von Hans Gross erzählt, dem Grazer Untersuchungsrichter, der neue Methoden der Verbrechensaufklärung entwickelt hat, die ihn weltberühmt machten. Nur kurz erwähnt wurde sein Sohn Otto, der 1877 in Gniebing bei Feldbach geboren wurde.
Der Mann, der die Welt von den Verbrechern befreien wollte, hatte aber alle Verbrechen in seiner eigenen Familie, erzählt Christian Bachhiesl bei der spannenden Führung durchs Hans Gross-Kriminalmuseum in der Grazer Universität. Und zwar in Gestalt seines Sohnes Otto.
Extrem in jeder Hinsicht#
Dieser war Psychiater und praktizierender Anarchist, Alkoholiker und kokainsüchtig. Er lebte die freie Liebe aus, hatte mit seinen Patientinnen Affären am laufenden Band und gleichzeitig mit mehreren Frauen Kinder. Zwei seiner Geliebten/Patientinnen waren depressiv und starben an einer Überdosis Kokain, die Otto Gross ihnen gegeben hatte. Eine Anklage wegen Mordes bzw. Beihilfe zur Selbsttötung stand im Raum, wurde aber von seinem Vater verhindert. Otto stellte das anarchistische Gegenbild zu seinem konservativen Vater dar, was Hans Gross psychisch und finanziell schwer belastete.
1914 wurde Otto vom Bezirksgericht Graz wegen Wahnsinns unter Kuratel gestellt und sein Vater ließ ihn in die Landesirrenanstalt Troppau in Schlesien einweisen. Wahrscheinlich hat Ottos Lebenseinstellung die Ansichten von Hans Gross mitgeprägt, als dieser formulierte: „Schlimm sind nicht die Schwerverbrecher, sondern die, die sich nicht in die Gesellschaft einfügen“, berichtet Bachhiesl. Denn „Degenerierte und Abweichende“ seien gefährlicher als Kriminelle, man müsse sie deportieren, um unsere Gesellschaft zu erhalten. Hans Gross arbeitete an der Zukunft einer „gereinigten“ Welt, in der es keinen Platz mehr geben sollte für diese Menschen.
Auf großer Seefahrt#
1899 promovierte er in Graz zum Dr. med. und heuerte im Jahr darauf bei einer Hamburger Dampfschifffahrtsgesellschaft als Schiffsarzt an. Auf seinen Fahrten nach Südamerika machte Otto erste Drogenerfahrungen, seine Abhängigkeit von Kokain begann. Nach seiner Rückkehr arbeitet er als psychiatrischer Volontärarzt in Graz und wandte sich der psychoanalytischen Lehre Sigmund Freuds zu.
Immer wieder musste er wegen seiner Drogensucht in Entziehungsanstalten. 1903 heiratete er Frieda Schloffer und ging als Assistenzarzt mit ihr nach München, wo er in der Anarchistenszene und im Künstlermilieu von Schwabing verkehrte. Er hatte ein Verhältnis mit Frieda Richthofen-Weekley, der späteren Frau des berühmten englischen Dichters D. H. Lawrence. Über sie gelangten die Sexualmoralismus-Ideen des Otto Gross ins Werk von Lawrence. In München lebte Gross seine Vorstellung von freier Liebe aus. Während seine Frau zu Sohn Peter schwanger war, gebar ihm die Schwester der Frieda Richthofen-Weekley einen Sohn Peter und die Schweizer Dichterin Regina Ullmann eine Tochter. Danach ging Gross mit seiner Frau zu den Anhängern der freien Liebe nach Ascona auf den Monte Verità. 1906 habilitierte er sich in Graz als Privatdozent für Neuropathologie. 1908 überwies ihn Sigmund Freud zur Entzugstherapie bei C. G. Jung. Gross beendete die Therapie jedoch schnell durch einen Sprung über die Anstaltsmauer. Im selben Jahr kam es zum Bruch mit Freud, weil dieser alle gesellschaftspolitischen Folgerungen aus der Psychoanalyse kategorisch ablehnte. Es war ein Bruch mit Folgen, Freud, der „Papst der Psychoanalyse“, verstieß Gross. Im Kongressbericht wurde nicht einmal mehr sein Name erwähnt.
1913 ließ Hans Gross seinen Sohn zwangsinternieren und entmündigen. Doch bald war Otto wieder frei und ging nach Berlin, wo er unter Entzugssymptomen litt. Halb verhungert und fast erfroren fand man ihn auf der Straße. Zwei Tage später starb er am 13. Februar 1920.
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