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Gegenentwurf zu Großbühnen#

Kleine Wiener Studios und Kellertheater nach 1945#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 27. Oktober 2012) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Andrea Huemer


Die Fantasie der Zuschauer wurde von einer jungen Szene mit einfachsten Mitteln beflügelt.#

Kurt Sobotka als Titus Feuerfuchs im 'Talismann'
Kurt Sobotka als Titus Feuerfuchs im "Talismann", inszeniert von Helmut Qualtinger, 1950.
© K. Sobotka

Im Programmheft zur Uraufführung von Milo Dors "Der vergessene Bahnhof", die am 14. Oktober 1948 in der Urania stattgefunden hat, schreibt der junge Regisseur, spätere Leiter des Reinhardt-Seminars und schließlich Rektor der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Helmut Schwarz, über das Selbstverständnis der neuen Theatergruppe "Szene 48": "Theater bedeutet uns nichts weniger als aktive Stellungnahme zu den Problemen der Gegenwart, unser Publikum (ist) jeder, dem die Mitgestaltung einer besseren Zukunft am Herzen liegt. Theater als Aussage zur Zeit! - Als Kunst des ‚luftleeren‘ Raumes, zu genießen im Plüschfauteuil, Theater, publikumsfremd in Gestalt und Gehalt, wird abgelehnt."

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg traten in Wien eine Reihe von Theatergruppen mit einem klaren Gegenentwurf zu den etablierten Großbühnen in Wien an. Ihre Initiatoren, geboren zwischen 1920 und 1930, hatten den Nationalsozialismus und den Krieg bewusst erlebt - und waren teilweise noch in die letzten Kämpfe involviert gewesen. Und nur wenige Wochen nach Kriegsende eröffnete eine Amateurbühne, das "Studio der Hochschulen", diesen jungen Künstlern eine Wirkungsstätte. Angezogen wurden sie, wie etwa Hilde Sochor und ihre Freundinnen Lona Dubois und Trude Zrinjski, durch einen Aushang an der Universität: "Wer Lust hat und Theater spielen will, der soll sich im Kulturreferat in der Kolingasse bei Dr. Friedrich Langer melden."

Fahrschein als Gage#

Das Studio startete - zunächst eher konventionell - am 7. Juni 1945 mit Hugo von Hofmannsthals "Der Tor und der Tod" unter der Regie der Volksbildnerin Hilde Weinberger. Spielorte in den ersten Jahren waren der Festsaal der Hochschülerschaft in der Kolingasse sowie die Wiener Volksbildungshäuser. Als Gage erhielten die jungen Leute höchstens "Kaffeegeld oder Fahrscheine", die bei den zahlreichen Gastspielen, die das Ensemble zunächst über die Zonengrenze in die Bundesländer und schließlich auch nach Holland, Italien, die Schweiz und bis nach England führten, zumindest durch ordentliches Essen oder neue Kleidung aufgewertet wurde.

Sehr rasch entwickelte sich die Laiengruppe zu einem Sammelbecken aufstrebender Talente, die nicht nur den Spielplan, sondern bald auch die österreichische Theater- und Fernsehfilmproduktion maßgeblich prägen sollten. Auf den Theaterzetteln der ersten Spielzeiten finden sich etwa der Regisseur späterer großer Fernsehfilme Michael Kehlmann, der Schauspieler Werner Kreindl, die Kostümbildnerin der Wiener Staatsoper Alice Maria Schlesinger oder der renommierte Bühnenbildner Wolfram Skalicki.

Für Kehlmann begann die Regiekarriere am 11. Februar 1947 mit der literarischen Kabarettrevue "Die Grimasse", die er u.a. gemeinsam mit Helmut Qualtinger verfasst hatte, der darin auch sein Debüt als Schauspieler gab - der Beginn einer Zusammenarbeit, die in den 50er Jahren mit Kabarett-Klassikern wie "Brettl vor dem Kopf" Furore machen sollte.

Der Bühnenbildner und spätere Direktor der Städtischen Bühnen in Istanbul, Max Meinecke, inszenierte 1949 die österreichische Erstaufführung von Ferdinand Bruckners Skandalstück "Krankheit der Jugend", und bei der Uraufführung von "Homo ex machina" von Rüdiger Schmeidel im Juli 1949 standen erstmals Walter Langer und Herbert Wochinz auf der Besetzungsliste. Wochinz konfrontierte die Wiener in den 50er Jahren erstmals mit Stücken von Samuel Beckett und Eugène Ionesco.

Anfang 1948 gründeten Studenten des Konservatoriums der Stadt Wien das "Studio junger Schauspieler". Im Volksheim Ottakring oder im Hochschulstudio zeigte man die deutschsprachige Erstaufführung von Jura Soyfers "Der Lechner Edi schaut ins Paradies". Sie wurde gemeinsam mit Soyfers "Weltuntergang" aufgeführt - mit Bibiana Zeller unter der Regie des späteren ORF-Oberspielleiters Erich Neuberg. Ab Herbst nannte sich die erweiterte Truppe "Szene 48", und Walter Davy, der ein viel beschäftigter Fernsehregisseur und als "Schremser" in der TV-Serie "Kottan" zur Kultfigur werden sollte, inszenierte etwa Jean Paul Sartres "Huis Clos".

1949 bezog man als "Theater der 49" das Café Dobner und kündigte vor der Uraufführung von Reinhard Federmanns Widerstandsdrama "Der Weg zum Frieden" am 25. Jänner 1949 an, dass mit niedrigen Eintrittspreisen "Welterfolge der Theaterliteratur zu sehen (sein sollten), die im Spielplan großer Theater wegen des finanziellen Risikos sonst vorenthalten blieben". Auf Upton Sinclairs "Die Atombombe" folgte u.a. Kurt Markitz’ Komödie um ein fiktives Kriegsverbrechertribunal, "Napoleon muss nach Nürnberg", die der später für seine Wohnbauten bekannte Architekt und Absolvent des Reinhardt-Seminars Harry Glück ausstattete.

Ereignis Qualtinger#

Nach dem großen Erfolg mit der österreichischen Erstaufführung der "Medea" von Jean Anouilh fusionierte das "Theater der 49" im Juni 1949 mit dem Studio der Hochschulen zum "Studio in der Kolingasse". Die Verantwortung trugen neben Friedrich Langer, der 1948 von Stadtrat Viktor Matejka als Theaterreferent in das Amt für Kultur und Volksbildung geholt worden war, Erich Neuberg und dann Michael Kehlmann.

Für Bibiana Zeller war Helmut Qualtinger "ausschlaggebend dafür, dass man hingegangen ist. Weil wir immer gewartet haben, wen er jetzt wieder hereinlegt oder welches Abenteuer wir mit ihm erleben". Sie erinnert sich aber auch, welche Faszination die Stücke, die "in der Nazizeit nicht gespielt wurden", auf sie alle damals ausgeübt hatten: "Auf die haben wir uns gestürzt, weil wir sie auch bekannt machen wollten."

Auf die deutschsprachige Erstaufführung von Jean Cocteaus "Renaud und Armine" am 16. Oktober 1949 folgte im Dezember die vermeintliche Uraufführung von Ödon von Horvaths "Die Unbekannte aus der Seine" (die jedoch tatsächlich bereits 1947 im Volkstheater Linz-Urfahr stattgefunden hatte). Kurt Sobotka schwärmt noch heute von Wolfram Skalickis damaliger Arbeit als Sensation: "Das ganze Bühnenbild eine extreme Schräge!"

Der neunzehnjährige Musikstudent Gerhard Rühm, bereits Mitglied der legendären Künstlervereinigung "Art Club" und später Mitbegründer der "Wiener Gruppe", komponierte seine erste Bühnenmusik für die österreichische Erstaufführung von Anskis dramatischer Legende "Der Dibbuk" (13. Dezember 1949).

Am 11. Mai 1950 hatte "Medea Postbellica" von Franz Theodor Csokor Premiere, der offiziell auch Regie führte. Wolfgang Glück, damals Assistent von Berthold Viertel am Burgtheater, berichtet, dass ihn Michael Kehlmann ersucht habe, die Schauspieler inoffiziell bei den Proben zu unterstützen: "Und dann geschah, was Sie nicht für möglich halten: Ich habe am Nachmittag mit denen geprobt, und am Morgen hat der Csokor mit ihnen geprobt. Das habe ich in Geheimregie inszeniert. Das hat nur der Michael gewusst."

Am 19. Oktober 1950 inszenierte Qualtinger Nestroys "Der Talisman". Kurt Sobotka, erstmals als Titus Feuerfuchs, erinnert sich an "ein geniales Bühnenbild von (Gerhard) Hruby. Der hat nichts anderes gemacht, als vier Kleiderpuppen hingestellt, auf denen hingen die jeweiligen G’wandeln. Dazwischen standen ein Spinett, ein Tisch und ein Sessel - ein Wirtshaus. Und wir haben uns quasi offiziell umgezogen, denn es sind ja alle Kostüme da gehängt. Das war sehr schön damals." Einfachste Mittel beflügelten die Fantasie der Zuschauer.

Für Gerhard Rühm war die Arbeit an der Bühnenmusik zu Günther Weisenborns Widerstandsdrama "Die Illegalen" eine wichtige Kompositionserfahrung, die ihm großen Spaß bereitet hat: "Ich war damals ein großer Fan von Kurt Weill - bin es bis heute -, und das merkt man dieser Musik auch an. Das war für mich der Ansatzpunkt für die Komposition. Ich habe das Stück dann selbst am Klavier begleitet und mit den Sängerinnen einstudiert (...). Die Anregung, selbst auch Chansons zu schreiben, ging weitgehend von den ‚Illegalen‘ aus."

Gewerkschaftsprüfung#

Trotz großen Presseechos bedeutete die österreichische Erstaufführung von "Die Illegalen" am 2. November 1950 das für alle Beteiligten überraschende Ende des Studios in der Kolingasse, denn am 12. November 1950 wurde es nach Kündigung durch die Österreichische Hochschülerschaft geschlossen. Auf Druck des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, der im öffentlichen Auftreten von studentischen Amateurschauspielern eine Konkurrenz (!) fürchtete und das öffentliche Plakatieren der Vorstellungen untersagte, legte daraufhin der Großteil der Schauspieler - unterstützt von erfahrenen Kollegen wie Leopold Rudolf, Fritz Lehmann, Richard Eybner und Wolfgang Heinz - die gewerkschaftliche Bühnenreifeprüfung ab.

Sie verließen das Studio nun als offiziell geprüfte Schauspieler. Hilde Sochor, die bei Wolfgang Heinz Schauspielunterricht genommen hatte, meint heute: "Das war ein großes Glück, dass wir den Heinz gewinnen konnten, weil er war nicht nur ein herrlicher Schauspieler, sondern auch ein großer Pädagoge, und er wurde dann Direktor des Deutschen Theaters in Ostberlin."

Geblieben sind viele Erinnerungen an einen Markstein österreichischer Theaterkultur in einer Zeit des Aufbruchs. Ungeheizte Theatersäle ersetzten das Wohnzimmer, und allen materiellen Einschränkungen zum Trotz blühte die Experimentierfreude. Mitgenommen aus damaliger Zeit wurden die Erfahrungen von Gastspielen sowie Freundschaften und Rivalitäten, die in der Folge zur Gründung einzigartiger Kellerbühnen und zu großen Karrieren führen sollten.

Andrea Huemer arbeitet als Kulturwissenschafterin, Lektorin und Übersetzerin in Wien. Der Text beruht auf Teilergebnissen eines von der Kulturabteilung der Stadt Wien geförderten Forschungsprojektes über Quellenmaterial zu den Wiener Kellerbühnen nach 1945.

Wiener Zeitung, Samstag, 27. 10. 2012