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Volkskultur: Etwas Unschärfe als nächste Klarheit#

(Ein kleiner Rückblick auf die letzten 60 Jahre)#

von Martin Krusche

Eine saloppe Redensart besagt: Das Einzige, was immer gleich bleibt ist, daß sich alles ändert. Das korrespondiert mit einer Feststellung, die Helga Maria Wolf im Jahr 2015 für ihr Buch über „Verschwundene Bräuche und untergegangene Rituale“ einleitend formuliert hat: „Bräuche fallen nicht vom Himmel, sie kommen auch nicht aus der ‚Volksseele’. Sie werden erfunden, wenn man sie braucht. Bräuche wandern, entwickeln sich dynamisch weiter, verschwinden, werden revitalisiert. Keiner hat sich von mystischer Vorzeit bis in die Gegenwart erhalten.“

Dieser Gedanke ist von erfrischender Klarheit und steht in einem sanften Kontrast zur beliebten Annahme, daß Brauchtum wie Volkskultur uns verläßlich mit einer Vergangenheit verbinden würden, in der Werte geborgen seien, die wir nicht vergessen dürften, um eine passable Zukunft zu erringen. In derlei Zusammenhängen ist gerne von Traditionspflege die Rede und kommt auch eine Art der „Traditionsschützerei“ vor, die den dynamischen Aspekten von Brauchtum eher widerspricht, als ihnen dient.

Identitätssuche? Die Eigenheit des Sprachklangs und die regionale Zugehörigkeit werden augenscheinlich nicht nur bei „Heimatabenden“ betont – (Foto: Martin Krusche)
Identitätssuche? Die Eigenheit des Sprachklangs und die regionale Zugehörigkeit werden augenscheinlich nicht nur bei „Heimatabenden“ betont – (Foto: Martin Krusche)

In meinen Kindertagen wurde Volkskultur vor allem mit dem ländlichen Raum und mit Menschen aus der agrarischen Welt assoziiert, obwohl wir im urbanen Leben natürlich ebenso Brauchtum hatten und genossen. Allein schon alle heiligen Zeiten gaben dazu Anlaß. Ostern, Pfingsten, Weihnachten und viele christliche Feste, die dazwischen liegen. Sie wurden selbst von praktizierenden Heiden gerne angenommen. Die Sonntagsruhe und das Blau machen am Montag schien uns ebenso vertraut wie unzählige andere Momente, die Brauchtums-Charakter haben und aus der Vergangenheit hergeleitet sind.

Als Schüler bin ich auf Schullandwochen noch mit Volkstanz in Berührung gekommen. Menschen in Trachten sahen wir allemal, auch Leute in Berufskleidung, wie etwa bei der Knappenkapelle, die zur Beerdigung einer meiner Großmütter gespielt hat; Rauchfangkehrer sowieso, die gingen in Schwarz, wie die „Bäcken“ in Weiß. Manchmal begegneten wir einem Handwerksgesellen, der sich auf der Walz befindet, was übrigens bis heute vorkommt.

Die Grenzüberschreiter: Europas prominenteste Putti sitzen ursprünglich zu Füßen von Raffaels Sixtinischer Madonna. Sie haben eine atemberaubende Verbreitung gefunden, die von Gräbern über Kuschelecken bis zu Kaffeehaus-Dekorationen reicht. Ein anschaulicher Brückenschlag zwischen Kunst, Volkskultur und Popkultur – (Foto: Martin Krusche)
Die Grenzüberschreiter: Europas prominenteste Putti sitzen ursprünglich zu Füßen von Raffaels Sixtinischer Madonna. Sie haben eine atemberaubende Verbreitung gefunden, die von Gräbern über Kuschelecken bis zu Kaffeehaus-Dekorationen reicht. Ein anschaulicher Brückenschlag zwischen Kunst, Volkskultur und Popkultur – (Foto: Martin Krusche)

Blasmusikkapellen waren weit verbreitet, zeigten uns im Spiel und in der Ausstattung Brauchtums-Aspekte, treten bis heute bei Brauchtumsveranstaltungen auf. Das reicht vom Kapellenfest der Christen bis zum Maiaufmarsch der Sozialisten. Und wenn wir Stadtmenschen Volksmusik auch nicht live erlebt haben, bei Familienfesten oder in Gasthäusern, so lernten wir sie auf jeden Fall via Massenmedien kennen. Chorgesang kam immerhin bei manchem Kirchgang vor. So oder so, wir haben damals Volkskultur und altes Handwerk hauptsächlich mit der agrarischen Welt assoziiert, nicht mit den industriellen Berufswelten und nicht mit dem Stadtleben, was freilich ein völlig eingeengtes Bild ergab, dem allein schon die eigene Erfahrung widersprach.

Das war allerdings kein Zufall. So brachte etwa Viktor Geramb in seinem 1946 erschienen Buch „Um Österreichs Volkskultur“ die eigenartige Klage vor: „Wir sehen heute buchstäblich, daß nur noch die Kirche und der Kirchenraum die letzten Zufluchtsstätten jeglicher bäuerliche Tradition geblieben sind.“ Er meinte, es sei bedauerlich, „daß das Volkslied in und um den Bauernhäusern und in der Jugend außerhalb der Kirche verstummt ist“. Da war dann auch bald darauf im Text von einer „Heimkehr zum Ursprung“ die Rede. Aber wo mag der liegen? Wie sah der aus?

Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Buches, nämlich im Herbst 1947, wurde der erste Steyr Traktor an einen Bauern ausgeliefert. Die Mechanisierung der Landwirtschaft setzte breit ein, Chemie und andere Quellen schoben eine atemberaubende Produktivitätssteigerung an. Rund ein Jahrzehnt danach setzte eine Volksmotorisierung des Landes mit Automobilen ein, wofür das 1957 erschienene „Puch-Schammerl“, der Steyr-Puch 500, symbolhaft steht. Es änderte sich also die bäuerliche Welt radikal, es wandelte sich die ganze Gesellschaft mit den bisher vertrauten Rollenbildern, was sich selbstverständlich auch in der Veränderung von Brauchtum und Volkskultur ausdrückte.

Es ist eigentlich zutiefst verblüffend, daß der Bruder des Kaisers, ein Mitglied der Hocharistokratie, so aus dem Rahmen der Konventionen und aus der Zeit fallen konnte, um in seinem Schaffen die verschiedensten Lebenswelten zu erschließen und soziale Schranken zu durchbrechen, darin eine Ikone der Volkskultur zu werden, während sein Einfluß das Land maßgeblich verändert hat – (Foto: Martin Krusche)
Es ist eigentlich zutiefst verblüffend, daß der Bruder des Kaisers, ein Mitglied der Hocharistokratie, so aus dem Rahmen der Konventionen und aus der Zeit fallen konnte, um in seinem Schaffen die verschiedensten Lebenswelten zu erschließen und soziale Schranken zu durchbrechen, darin eine Ikone der Volkskultur zu werden, während sein Einfluß das Land maßgeblich verändert hat – (Foto: Martin Krusche)

Helga Maria Wolf betont in ihren Überlegungen das Dynamische: „Braucherfinder – Einzelpersonen oder Gruppen – kamen aus allen sozialen Schichten.“ Geramb raunte von etwas „Ewigem“, das wohl mit der Ortsangabe „Kirche und Kirchenraum“ auch etwas „Erhabenes“ sein möge. Er berief sich im „ehrlichen Ringen“, auch um die „intellektualistische Großstadtzivilisation“ zu überwinden, unter anderem auf einen „Mutterboden“, den man auf dem Weg „zu eigener, wirklicher Kultur“ beachten möge. So also 1946, „Published under Military Government Information, Permit 8-9“.

Das soll illustrieren, wie weitreichend einige Brüche im Betrachten von Volkskultur allein innerhalb unserer Lebensspannen gewesen sind. Zur Zeit meiner Eltern war das Thema Volkskultur von den Nazi umfassend besetzt, instrumentalisiert und damit diskreditiert worden. Dabei konnte man sich freilich auf bewährte Ressentiments aus der Zeit der ersten Industrialisierung stützen. Mit Beginn der Zweiten Republik fing eine effiziente und geldintensive Unterhaltungsindustrie an, dieses Thema zu bewirtschaften; gestützt auf Massenmedien, für die einschlägige Produkte passend gemacht werden mußten. Dazwischen kochte die Tourismusbranche ihre Süppchen und hieb sich große Stücke aus diesem Kuchen.

So können Sie zum Beispiel heute auf dem offiziellen Tourismus-Portal der Steiermark unter den Stichworten „Brauchtum & Volkskultur“ folgende Darstellungen finden: „Volkskultur ist in der Steiermark vielerorts erlebbar: Tracht, Mundart, Tanz und Handwerk sind wichtige Bestandteile des steirischen Alltags. Auch das Brauchtum ist nicht wegzudenken, stark verbunden mit den Jahreszeiten und der Natur begleiten Bräuche von Frühling bis Winter die Lebensweise der Menschen. Entdecken Sie eine Auswahl an Sehenswertem, Veranstaltungen sowie Wissenswertes über die Bräuche im Jahreslauf.“ (Abgefragt am 20.02.2018)

Das behauptet kulturelle Phänomene als „wichtige Bestandteile des steirischen Alltags“, da fragt man sich prompt: Wer lebt denn so Tag für Tag und wo soll das sein? Ganz zu schweigen davon, daß in solchen Werbebotschaften große Bereiche des Themas überhaupt fehlen. Ist für all das „Tourismustauglichkeit“ ein Kriterium? So findet beispielsweise die Volkskultur in der technischen Welt, wie sie in der Steiermark von einer hochkarätigen Sammler- und Schrauber-Szene gelebt wird, hier keine Berücksichtigung, obwohl sie in anderen Zusammenhängen vom Tourismus bewirtschaftet wird.

Eines der prominentesten Beispiele, noch dazu von internationalem Rang, ist die Ennstal Klassik, eine Oldtimer Rallye, die freilich in ihrer hochpreisigen Dimension nicht vom „Volk“ im Sinn einer breiten Bevölkerung ausgeübt werden kann. Aber dafür gibt es die entsprechenden Volksvarianten in unzähligen Oldtimer-Veranstaltungen, von denen viele erhebliche Kontinuität haben, alljährlich organisiert werden und in ihrer Ausstattung wie Abwicklung Traditionen zeigen, Brauchtums-Charakter haben.

Wir haben eine Zeit der Diffusion hinter uns, da die Themen Brauchtum und Volkskultur von sehr unterschiedlichen Interessensgruppen bespielt, stellenweise auch gekapert wurden. Die Fachdiskurse in der Wissenschaftswelt boten freilich schon zwischen den 1960er und 1980er Jahren reichlich Anregungen, den gesamten Themenbereich aus alten Umklammerungen herauszuführen. Während der letzten Jahrzehnte ist auch bei uns die Volkskunde zunehmend in der Ethnologie aufgegangen, womit ich vor allem ausdrücken möchte: Das Vokabular hat sich sehr verändert und es fehlt dieses Raunen, Wispern. Lese ich alte Texte zu den Themen, schwingt oft eine Art Ergriffenheit mit, die etwas Weihevolles andeutet, ohne dann konkret zu werden. In jüngeren Texten finde ich derlei Pathos nicht mehr, kein Bemühen um eine Aura der Gelehrtheit, da kann ich mich mit Quellen, Fakten und interessanten Deutungen befassen. Aber vielleicht ist das auch Kolorit, der für eine bestimmte Zeit steht. Es fiele heute ja kaum jemandem ein, zum Beispiel „Erziehung die erste und heiligste Pflicht des Staates“ (Geramb) zu nennen oder den Kulturschaffenden einen „kategorischen Imperativ des Helferwillens für die Gemeinschaft“ (Anton Lampas) zu empfehlen.

Selbstverständlich haben auch Menschen ohne formelle Bildung vielfältige Talente, zeigen kulturelle und spirituelle Bedürfnisse – (Foto: Martin Krusche)
Selbstverständlich haben auch Menschen ohne formelle Bildung vielfältige Talente, zeigen kulturelle und spirituelle Bedürfnisse – (Foto: Martin Krusche)
Es könnte genügen, daß Tuch wärmt, vor dem Wetter schützt und haltbar ist, doch die Menschen nutzen das Weben eben auch zum Gestalten – (Foto: Martin Krusche)
Es könnte genügen, daß Tuch wärmt, vor dem Wetter schützt und haltbar ist, doch die Menschen nutzen das Weben eben auch zum Gestalten – (Foto: Martin Krusche)
Das Bedürfnis, seine Getaltungsvermögen auszuleben, führt dann eben auch zu rituellen und symbolischen Gegenständen – (Foto: Martin Krusche)
Das Bedürfnis, seine Getaltungsvermögen auszuleben, führt dann eben auch zu rituellen und symbolischen Gegenständen – (Foto: Martin Krusche)

In der Reihe „Grazer Beiträge zur Europäischen Ethnologie“ erschien 2013 Dieter Kramers „Europäische Ethnologie und Kulturwissenschaften“. Darin betont der Autor, Wissenschaft sei kein Selbstzweck, sondern „Teil des gesellschaftlichen Lebensprozesses“. Er kritisiert, daß die „Volkskunde“ versucht habe, „mit Sackgassen-Diskussionen die Zuordnung ‚Volk’ zu retten“. Warum taucht denn das gerade beim Thema Volkskultur immer wieder auf, dieses Sendungsbewußtsein, das in Heilsversprechen mündet?

Kramer beruft sich in seiner Kritik auf Wilhelm Heinrich Riehl, der schon 1859 in einem Nachdenken über „Die Volkskunde als Wissenschaft“ die Option des „Völkischen“ verworfen habe. Das Ziel der kritisch beleuchteten „Sackgassen-Diskussionen“ ist bemerkenswert. Es besteht, laut Kramer, in der „Pflege und Wiederbelebung der sozialkulturellen Überlieferung der einfachen Bevölkerung zwecks Herstellung eines homogenen Untertanenverbandes“. Da offenbart sich Sendungsbewußtsein demnach als politische Ambition.

Wo aber Untertanen zu Staatsbürgerinnen und -bürgern geworden sind, muß das Betreiben solcher Unternehmungen als problematisch gelten und sorgt zwangsläufig für Reibung, für Kollisionen. Kramer zieht übrigens die Verwendung des Begriffes Volk nur dann in Betracht, „wenn es um die subalternen Schichten der Ständegesellschaft geht, die strukturell in der bürgerlichen Gesellschaft keine Entsprechung haben“. Er meint, daß aber selbst dann eher von „Milieus“ zu reden sei. Das empfiehlt unmißverständlich, den Begriff Volk eher zu meiden oder wenigstens nur sehr bedächtig anzuwenden; bedächtig im Sinn von: mit offenliegenden Kriterien. Das Wort erweist sich zu leicht als hohler Container, der beliebig gefüllt werden kann. Das zeigt sich in Alltagsdiskursen allein schon am Problem, daß dieses Wort für „Demos“ eine politische Kategorie bezeichnet, für „Ethnos“ andrerseits eine kulturelle Kategorie. Dem Wort Volk merkt man das keinesfalls an.

Bei uns hat es sich eingebürgert, Volk mit Wir zu assoziieren, was eine „Mehrheitsgesellschaft“ meint, vor allem kulturell und politisch sowieso, das durch den Besitz der Staatsbürgerschaft ausgedrückt ist. Das von der Mehrheit kulturell Abweichende, auch wenn es dank Staatsbürgerschaft politisch zu uns gezählt werden müßte, nennen wir Volksgruppe. Das assoziieren manche noch mit dem Artikel 7 des Staatsgrundgesetzes, ansonsten gibt es wenig Aufhebens um das Thema Volksgruppe, außer man findet Gründe, diese Zusammenhänge als Element von „Multikulti“ negativ zu konnotieren.

In der Sache ist freilich die „offizielle Volkskultur“ der Steiermark schon etliche Schritte weiter; nicht bloß über Diskursbeiträge in den Jahrbüchern, sondern auch im Aufgreifen von Kulturereignissen, die durch Immigranten in die Steiermark gekommen sind.

Zurück zum Allgemeineren. Dieter Kramer merkt an: „Die ‚vormodernen’ Formen des soziokulturellen Lebens sind längst nicht alle verschwunden. Sie zu beschreiben erinnert daran, dass es auch vor der Erfindung der Kulturpolitik ein lebendiges kulturelles Leben gab.“ Kramer erinnert daran, daß seinerzeit eben religiöse Anlässe den Menschen Gelegenheiten boten, „sich das Recht auf Genuss zu sichern“. Was für ein feiner Gedanke! Das Recht auf Genuss.

Sich zu kleiden und sich zu schmücken als zwei grundverschiedene Funktionen in einem Stück vereint – (Foto: Martin Krusche)
Sich zu kleiden und sich zu schmücken als zwei grundverschiedene Funktionen in einem Stück vereint – (Foto: Martin Krusche)
Der Türklopfer auf Schloß Kornberg hat neben der physischen erkennbar auch eine raffinierte symbolische Funktion – (Foto: Martin Krusche)
Der Türklopfer auf Schloß Kornberg hat neben der physischen erkennbar auch eine raffinierte symbolische Funktion – (Foto: Martin Krusche)
Warum wohl genügt es einem versierten Tischler nicht, bloß schlichte Möbel zu fertigen? Wir schätzen getreues Abbild und Abstraktion – (Foto: Martin Krusche)
Warum wohl genügt es einem versierten Tischler nicht, bloß schlichte Möbel zu fertigen? Wir schätzen getreues Abbild und Abstraktion – (Foto: Martin Krusche)

In bürgerlichen Kreisen kannte man natürlich seinen Goethe und wußte zu zitieren: „Trinke Muth des reinen Lebens! / Dann verstehst du die Belehrung, / Kommst, mit ängstlicher Beschwörung, / Nicht zurück an diesen Ort. / Grabe hier nicht mehr vergebens. / Tages Arbeit! Abends Gäste! / Saure Wochen! Frohe Feste! / Sei dein künftig Zauberwort.“ So nachzulesen in der Ballade „Der Schatzgräber“ von 1798. Saure Wochen, frohe Feste, das mußten sich subalterne Schichten auf vielfache Art sichern, denn geregelte Arbeitszeit und gesicherte Freizeit sind junge Phänomene. Wie das Leben der „einfachen Leute“ gedeutet und geordnet wurde, wie man sie zum Beispiel über kulturelle Konzepte zu gängeln versuchte, beschreibt Kramer lapidar so, daß „die angemaßte Definitionshoheit zum Bestandteil der Herausbildung einer sozialen und kulturellen Hegemonie in der Interessenspolitik von Staat und Moderne wird.“ Er kritisiert „selbsternannte Deutungseliten“ und macht darin auch transparent, wie das Volk als „völkisch“ gedeutet werden konnte, als „Volkskörper“ um dessen „Gesundheit“ sich gebildete Kreise gerne kümmerten. Solche Überlegungen erscheinen mir hilfreich, wenn wir unser Thema präzisieren möchten. Die Klärung von Begriffen wird dabei wohl immer wieder neu anstehen. Um ein Bonmot zu strapazieren: Wenn wir keine Begriffe haben, wissen wir nicht, wovon wir reden.

Harald W. Vetter hat in einer Dankesrede anläßlich einer Preisverleihung eingeleitet: „Ist die Volkskultur genuin gar etwas nur Kollektives, den Mythen geschuldetes, oder hat sie den Ursprung doch im je Eigenen und Individuellen, das durch eben jene ‚uralte immer neue Wirrnis’ (wie es in der Romantik einst so eindrucksvoll geheißen hat) transformiert, also umgestaltet worden ist? Wir wissen darüber immer noch zu wenig.“ (Aus der Festrede zur Überreichung des Steirischen Volkskulturpreises 2012.) Im Dezember 2017 notierten Günther Jontes und Hermann Maurer nach einer Debatte dazu: "Volkskultur im weitesten Sinn umfasst einerseits Brauchtum, ist aber auch eine Kulturwissenschaft, die den gesamten Lebenszusammenhang (Lebensstil) einer bestimmten Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe enthält."

Kulturelle Reaktion auf strukturelle Veränderungen: Hofstätten an der Raab wurde einst über die Zusammenlegung mehrerer Katastralgemeinden zu einem Ort ohne Zentrum. Dafür entstand dieser Platz mit Dorfbrunnen und stattlichem Breitpfeiler (Bildstock) neben einer Laube, die zur Rast einlädt – (Foto: Martin Krusche)
Kulturelle Reaktion auf strukturelle Veränderungen: Hofstätten an der Raab wurde einst über die Zusammenlegung mehrerer Katastralgemeinden zu einem Ort ohne Zentrum. Dafür entstand dieser Platz mit Dorfbrunnen und stattlichem Breitpfeiler (Bildstock) neben einer Laube, die zur Rast einlädt – (Foto: Martin Krusche)

Solche Erörterungen finden freilich in Alltagsdiskursen der Menschen nicht statt. Ich hab übrigens das Diffuse durchaus immer gemocht. Innerhalb meiner Lebensspanne ergab das eine Mischung von Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst. Das führte zu soziokulturellen Situationen und Erfahrungen, die keine Präzisierung über Fachdiskurse verlangten, sondern vor allem einmal das waren, was Ästhetik ausmacht: Wahrnehmungserfahrungen. Das wollte gelebt und erfahren werden. Das brauchte keine Intendanz und keine Theoriebildung.

Es waren schließlich wiederkehrende Versuche von diversen Interessengruppen, den Themenbogen Volk-Kultur-Identität zu kapern, die mich anregten, das genauer zu betrachten. Außerdem spielte ein Nachdenken über diese Themen auch eine zunehmend wichtige Rolle in einigen Formen der Wissens- und Kulturarbeit in der Provinz, also abseits des Landeszentrums. In den letzten Jahren hat uns vor allem die Unterhaltungsindustrie einen außergewöhnlichen Denkanstoß geliefert. Da feiert ein Andreas Gabalier bemerkenswerte Erfolge und wird uns als „Volks-Rock & Roller“ angedient, tritt auf, als käme er grade von der Alm, und zwar von der Arbeit und der Hüttengaudi gleichermaßen, ein unerschöpflicher Kraftlackel aus den Bergen, wie sich zumindest Marketingfachleute einen Gang von der Alm vorstellen. Der Witz dabei, das wird dann auch noch von Teilen einer ländlichen Jugend, eines agrarischen Milieus, als Role Model angenommen und beklatscht. Was für ein Coup!

Erstaunliche Vorgänge, die sich einerseits leicht als kommerziell motiviertes Verfälschen von Kultur markieren ließen, zumal das, was Gabalier höchst professionell umsetzt, weder mit Volksmusik noch mit Rock & Roll etwas zu tun hat. Aber andrerseits muß man anerkennen, daß Inszenierung und Codes breite Zustimmung finden, also von großen Bevölkerungskreisen akzeptiert und geschätzt werden. Damit käme wir in das Fahrwasser einer Debatte, die seit der Antike dokumentiert ist. Zählt nun der feine Geschmack erlesener Kennerschaft, über den wenige verfügen? Ist doch der Geschmack der Massen aussagekräftiger? Wer das als ein Entweder-Oder begreift, bleibt in einer selbstgestellten Falle stecken, die sich aus einem Vergleich von Äpfel und Birnen ergeben muß. Wer die verschiedenen Genres nicht komplementär angeordnet sehen will, sondern hierarchisch anordnen muß, baut die Falle unnötig aus.

Umberto Eco hat in seinem Nachdenken über Massenkultur eine Zitat aus der Antike gehoben, das aus heutiger Sicht fast schon rührend wirkt. Die Äußerung wird Heraklit zugeschrieben: „Warum wollt ihr mich überall hinziehen, ihr Ungebildeten? Nicht für euch habe ich geschrieben, sondern für den, der mich versteht. Einer ist mir so viel wert wie Zehntausend, wenn er der Beste ist.“ Diese Art, vom eigenen Talent ergriffen zu sein, sich über Zehntausende zu überhöhen, hätte jenen Zehntausenden entweder ein müdes Lächeln abgerungen oder wäre ihnen überhaupt völlig unbegreiflich, weil ihnen das Alltagsleben nicht einmal den Bruchteil einer derartigen Expansion auf Kosten anderer erlaubt hätte.

Die unteren Zehntausend, stets also Millionen, der Pöbel, die einfachen Leute, von denen man wohl etliche knicken mußte, damit sie die Idee annehmen konnten, ein Exemplar des „kleinen Mannes“ zu sein, wer diesen Menschen nun eventuell ex cathedra zurufen möchte, daß ein von ihnen bevorzugtes Kulturangebot wertlos sei, von schlechtem Geschmack künde, der Profitmaximierung weniger geschuldet und daher im Sinne von etwas „Echtem“ wertlos, tut genau das, was Volkskulturbeflissene schon im Ende des 18. Jahrhundert begonnen haben: Sich ein Mündel suchen, das belehrt und erzogen werden soll, also bevormundet.

Ich möchte aber annehmen, daß vor allem vergangene kulturelle Phänomene, die wir heute als „echte Volkskultur“ verstehen möchten, genau das nicht gebraucht haben, nämlich Zurufe von außen, womöglich von oben herab, jedenfalls von Menschen, die diesen Milieus nicht angehörten und die sich dabei womöglich eine Art Überlegenheitsgefühl leisteten. Es gibt ein sehr interessantes steirisches Beispiel für das, was ich eine Hochzeit zwischen Volkskultur und Unterhaltungsindustrie nennen möchte. Das Festival „Aufsteirern“ ist ein städtisches Großereignis, so komplex und aufwendig, daß es eines versierten Eventmanagements bedarf. Im 2015er Jahrbuch „Volkskultur Steiermark“ wurde dazu notiert, daß die „wunderschöne Grazer Innenstadt“ zur Bühne für „steirisches Brauchtum und Kulturgut“ werde, als da seien: „Musik, Tanz, Handwerkskunst, Gesang, Dichtung, Volkstheater oder Kulinarik“.

Die Website der Agentur läßt uns für 2018 über „Das größte Volkskulturfest Österreichs mitten in Graz“ wissen: „Der größte Dorfplatz Österreichs mitten in der Grazer Innenstadt: 12 Bühnen & Tanzböden -- beste Stimmung garantiert!“. Die Agentur verspricht ferner: „Gemeinsam erleben wir, wie charmant, spritzig, traditionsbewusst, originell und modern die steirische Volkskultur sein kann.“ Wer auch nur halbwegs mit unsrer Sozialgeschichte vertraut ist, müßte nun mindestens ein wenig irritiert sein. Aber offenbar ist da erhebliche Integrationskraft am Werk, die mögliche Widersprüche einebnet. Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, oberster politischer Patron der steirischen Volkskultur, meint zum Kommenden auf Seite 3 des Magazins „Aufsteirern“: „Das Aufsteirern ist eine unvergleichbare Veranstaltung, die die steirische Kultur in ihrer Tiefe widerspiegelt. Wie jedes Jahr ist die Freude riesig, wenn Menschen von Nah und Fern zusammenkommen und die Steiermark in all ihrer Pracht sichtlich genießen!“ Auf der Höhe dieser Textstelle befindet sich ein Foto, das Schützenhöfer mit einer nicht genannten Frau in Tracht zeigt und… mit Andreas Gabalier.

Privat errichtete und erhaltene Hauskapellen belegen eine Kulturpraxis, die den Menschen erheblichen Aufwand abverlangt – (Foto: Martin Krusche)
Privat errichtete und erhaltene Hauskapellen belegen eine Kulturpraxis, die den Menschen erheblichen Aufwand abverlangt – (Foto: Martin Krusche)
Im Inneren solcher privaten Kapellen findet man gelegentlich verblüffend üppige Bildwelten, die ein sehr komplexes symbolisches Denken ausdrücken – (Foto: Martin Krusche)
Im Inneren solcher privaten Kapellen findet man gelegentlich verblüffend üppige Bildwelten, die ein sehr komplexes symbolisches Denken ausdrücken – (Foto: Martin Krusche)
Der Automobilismus hat markante Paraphrasen dieses alten Zeichensystems aufgebracht, bei den Flurdenkmälern wieder das Prinzip des Marterls betont – (Foto: Martin Krusche)
Der Automobilismus hat markante Paraphrasen dieses alten Zeichensystems aufgebracht, bei den Flurdenkmälern wieder das Prinzip des Marterls betont – (Foto: Martin Krusche)

Das ist nun entweder etwas verwirrend oder es empfiehlt uns, im Nachdenken über Volkskultur die aktuellen Verhältnisse einer Freizeitgesellschaft und ihrer Unterhaltungsindustrie nicht nur zu berücksichtigen, sondern ernst in ihrer Wirkmächtigkeit zu nehmen. Mit einem bloß bipolaren Deutungskonzept und den Kategorien a) volkskulturell, b) volkstümlich, dabei im Subtext eine Kategorie c) volksdümmlich mitnehmend, werden wir da nicht durchkommen.

Monika Primas, die Geschäftsführerin der Volkskultur Steiermark GmbH, wurde für das Buch „Das ist der steirische Brauch“ (2014) von Heike Krusch zum Thema „Aufsteirern“ befragt. Sie meinte: „Mit dem Begriff Festival, beziehungsweise wird hier meist der Begriff Event verwendet, sind wir schon sehr weit weg von der Volkskultur“. Primas fragte nach dem Verbleib von „Natürlichkeit und Authentizität“. Das sind freilich etwas trübe Kategorien, zu der mir auf Anhieb brauchbare Referenzpunkte fehlen. Aber vielleicht muß in Fragen der Kultur akzeptiert werden, daß es in vielen Aspekten eine wesentlich höhere Präzision in der Zuschreibung nicht geben kann. Andrerseits steht es uns jederzeit frei, nach den Intentionen zu fragen, was dann doch recht aufschlußreich wäre. Also zum Beispiel a) „Warum bieten Sie das an?“ und b) „Warum nehmen Sie daran teil?“

Als Krusch in jenem Interview fragt, was Volkskultur eigentlich sei, antwortet Primas: „Das ist nicht eindeutig zu definieren. Ich würde sehr allgemein sagen: brauchtümliche Handlungen, individuelle Rituale, alltägliche Gewohnheiten, die von Einzelpersonen oder unterschiedlichsten Gemeinschaften – wie Freundeskreis Familie, Gemeinde oder andere mehr – im Jahres- oder Lebenskreislauf bewusst oder teils auch unbewusst gelebt werden.“

Das ist eine Beschreibung, die Menschenmaß zeigt, in menschlicher Gemeinschaft eine Vielfalt der Usancen berücksichtigt und den steten Wandel implizit anerkennt. Primas betont ferner, „dass Volkskultur immer aktuell ist und verbindend wirkt“. Das korrespondiert übrigens im Respektieren individueller Entwürfe und Gewohnheiten mit dem, was Elsbeth Wallnöfer in einem Beitrag für das steirische Volkskultur-Jahrbuch des nämlichen Jahres konstatiert hat: „Als Brauchtum generell gilt, was von einer Gemeinschaft in regelmäßigen, periodisch wiederkehrenden Szenarien abgehalten wird, was gesellschaftlich in Gebrauch und, im wahrsten Sinn des Wortes, ein Ereignis ist. Ausnahmslos alle Völker und Kulturen, egal welcher Religion sie angehören, zeigen derlei Verhalten.“

Industrielle Revolution, Mechanisierung der Landwirtschaft, Produktivitätssteigerung durch neue Düngemittel und Kraftfutter… Die Entwicklung einer industriellen Landwirtschaft hat uns vom Mangel und vom Hunger befreit, aber einen ganzen Berufsstand seines alten Selbstverständnisses beraubt, was stellenweise ziemlich furchterregende ideologische Konsequenzen hervorbrachte – (Foto: Martin Krusche)
Industrielle Revolution, Mechanisierung der Landwirtschaft, Produktivitätssteigerung durch neue Düngemittel und Kraftfutter… Die Entwicklung einer industriellen Landwirtschaft hat uns vom Mangel und vom Hunger befreit, aber einen ganzen Berufsstand seines alten Selbstverständnisses beraubt, was stellenweise ziemlich furchterregende ideologische Konsequenzen hervorbrachte – (Foto: Martin Krusche)

Wallnöfer erwähnt ausdrücklich, was für meine eigene Lebensspanne in diesem Nachkriegsösterreich so zentral ist, nämlich die große Veränderung der Sozial- und Arbeitswelt: „Mit dem Verschwinden der Armut, mit der Modernisierung des Staates änderten sich unweigerlich die Bräuche.“ Sie schließt daraus: „Ein Brauch ist in Gebrauch, und wenn er dies nicht ist, dann ist er entweder nicht mehr (und keiner merkt es) oder ein neuer Brauch wird zum Platzhalter.“

Das bekräftigt, was Primas sagte, „dass Volkskultur immer aktuell ist“ und wie Wallnöfer betont, daß Brauch ist, was in Gebrauch ist. Spätestens solche Ansichten werfen natürlich einige Fragen auf, wenn jemand die Notwendigkeit der „Traditionspflege“ besonders betont, wobei ich zum Beispiel individuell das Bemühen um Geschichtskenntnis sehr hoch einschätze. Das bedeutet aber nicht, ich würde mir mein Leben gestalten, als zählte ich zur Statisterie eines Freilichtmuseums, als umhergehender Bewahrer von Vergangenem. Andrerseits, gutes Stichwort!, sehe ich mir Museen sehr gerne an und bin langfristig fasziniert, was mir gute Sammlungen historischer Artefakete an Eindrücken und Denkanstößen bieten, vor allem aber an sinnlichen Erfahrungen, für die bei mir Abbildungen niemals mit den realen Gegenständen konkurrieren können.

Jedenfalls erscheint es mir leichtfertig, all das, was derzeit mehrheitlich als Volkskultur verstanden wird, gegen Produkte und Inszenierungen der Unterhaltungsindustrie abschotten zu wollen. Es muß den Menschen völlig frei stehen, worauf sie ihre Freizeit verwenden und wie sie ihre kulturellen wie spirituellen Bedürfnisse ausleben. Was dabei meinen Geschmack nicht trifft, wie etwa die Darbietungen von Andreas Gabalier, ist eben einem anderen Teilbereich unserer Freizeitkultur zuzurechnen; denn genau das waren wohl auch die meisten Phänomene einer historischen Volkskultur: Etwas, dem sich die Menschen in ihrer Freizeit widmeten. Doch umgekehrt funktioniert die Annahme auch, denn vielfach war es ja nur Brauchtumspraxis, die den Dienstboten, dem Proletariat, den subalternen Schichten eine kurze Befreiung von Arbeitspflichten schuf, ein kurzes Verschnaufen von der Plackerei akzeptabel machte.

Genau das kennzeichnet die Landwirtschaft seit der Neolithischen Revolution, diese endlose Plackerei, die oft von Mangel und gelegentlich von Hunger begleitet war. Diese Mühen hielten eine Kluft zwischen Ackerbauern einerseits, andrerseits den Jägern und Sammlern sowie den Hirtennomaden offen. Das illustriert sogar unsere Mythologie. Kain, der Abel erschlug, war Ackerbauer, sein unglücklicher Bruder ein Hirte.

T-Shirt als Medium: Nationalkitsch für die Spaßgesellschaft – (Foto: Martin Krusche)
T-Shirt als Medium: Nationalkitsch für die Spaßgesellschaft – (Foto: Martin Krusche)

Aber auch die Industrielle Revolution mit dem Aufkommen der Dampfmaschinen machte den Menschen das Leben noch lange nicht leichter, da zum Beispiel die Arbeiterbewegungen zuerst einmal darum rangen, daß Kinder nicht mehr als zehn Stunden in der Fabrik arbeiten mußten. Hermann Bausinger beschrieb außerdem, welche enormen Belastungen in der Landwirtschaft anfielen, wenn die Mannschaften von dampfgetriebenen Dreschmaschinen, von Lokomobilen, den „Bauerndampfern“, im Dauereinsatz standen, um die anfallende Arbeit zu bewältigen.

Man kann heute noch Kinder lediger Dienstboten treffen, die davon erzählen, daß sie im Stall bei den Tieren hausen mußten, weniger wert waren als das Vieh, daß sie als nutzlose Esser und eine Last für die Landwirtschaft galten, bis sie als Arbeitskräfte eingesetzt werden konnten. All das war in den Zeiten vor der geregelten Arbeitszeit, dem gesicherten Krankenstand und feststehenden Urlaubszeiten hauptsächlich durch das Brauchtum mit Pausen versehen.

Dietmar Assmann notierte in seiner Funktion als Leiter des Institutes für Volkskultur im Amt der oö. Landesregierung: „Volkskultur ist die Gesamtheit der überlieferten, aus der Tradition sich entwickelnden, aber auch neuen, gegenwärtigen kulturellen Äußerungen einer bestimmten Region. Sie ist an Gemeinschaft und Tradition gebunden und von Lebensraum und Zeitverhältnissen beeinflußt." Das sei die Definition des „Forums Volkskultur“, die auch vom Institut für Volkskultur des Landes OÖ. übernommen wurde. Assmann: „Volkskultur ist somit an keine bestimmte Schicht des Volkes gebunden, wie die wissenschaftliche Volkskunde früher einmal behauptet und dabei die bäuerliche Bevölkerung gemeint hat.“

Das läßt einen grübeln, warum heute immer noch zum Stichwort Volkskultur vor allem Erscheinungsformen gezeigt werden, die überwiegend mit der (alten) agrarischen Welt assoziiert werden, mit einem „Leben auf dem Lande“, zumal nicht nur Österreich und Europa, sondern die ganze Welt längst eine neue Landflucht erleben.

Im Nachdenken über große Events a la „Aufsteirern“ spießt sich übrigens die Sache merklich mit Ansichten wie denen von Assmann: „Ein wesentliches Merkmal der Volkskultur ist ihr Amateurstatus. Dementsprechend wird auch die organisierte Volkskultur fast durchwegs von ehrenamtlich tätigen Vereinsfunktionären getragen. Die Vereine wiederum werden vom Land und den Gemeinden in unterschiedlicher, stets aber eher bescheidener Weise subventioniert.“ Unter diesen Deckel passen keine Großveranstaltungen.

Zugleich mag ich die Vieldeutigkeit der Situation, weil das meinen eigenen kulturellen Lebenserfahrungen entspricht, für die scharfe Abgrenzungen der Genres nie wichtig waren. Im Gegenteil, ich empfand das Offene darin immer als Vorteil und Annehmlichkeit. Die Durchlässigkeit von Genre-Grenzen halte ich für einen grundlegenden kulturellen Wert. Wo solche Areale von strengen Grenzwächtern besetzt werden, haben wir nach deren guten Gründen und Legitimität zu fragen, um nicht zu sagen: dies in Frage zu stellen. Solche Offenheit hindert ja niemanden daran, Teilbereiche möglichst präzise zu beschreiben, ohne damit diese Offenheit zu gefährden. Wir brauchen zum Beispiel für kulturpolitische Diskurse wesentlich mehr Klarheit. Die spielt eine wichtige Rolle, wenn die Verwendung öffentlicher Gelder zu verhandeln ist. Aber das sind andere Agenda als der Wunsch nach Wissensgewinn und nach Erkenntnissen.

Deshalb möchte ich hier erst einmal etwas zum Bereich Alltagskultur beisteuern. Eine kleine Skizze, wie sich diese Themen in der Zweiten Republik jemandem zeigen, auch offenbaren konnten, der in einer Hochhaussiedlung, im Sozialbau aufgewachsen ist. Mutter Krankenschwester, Vater Kriegskrüppel und Trafikant, was damals noch einen inhaltlichen Zusammenhang hatte. Wer, wie ich, Mitte der 1950er Jahre zur Welt kam, wurde während der Volksschulzeit in Heimatkunde unterrichtet. Die sogenannten „Brauner-Hefte“ aus dem Grazer Leykam-Verlag waren mit dem Hinweis „Was die Heimat erzählt“ überschrieben. Die steirischen Heimathefte von Franz Anton Brauner sind im Plauderton gehalten. Wer sich später für mehr von all dem interessierte, beschaffte sich eventuell Hans Pircheggers „Geschichte der Steiermark“ („Erst seit Rosegger weiß das deutsche Volk, daß es eine Steiermark gibt.“), entdeckte Viktor Geramb, las Paula Grogger, Hans Kloepfer und Franz Nabl, Peter Rosegger sowieso. In der damaligen Gegenwart war vor allem Hanns Koren sehr exponiert und wer das Thema Erwachsenenbildung wahrnahm, nannte zum Beispiel Hubert Lendl als maßgebliche Persönlichkeit.

Eine häufig auffindbare Verknüpfung bei wiederkehrenden Veranstaltungen: Klassische Kraftfahrzeuge, Handwerk, bäuerliche Lebenswelt – (Foto: Facebook, 1.5.2017)
Eine häufig auffindbare Verknüpfung bei wiederkehrenden Veranstaltungen: Klassische Kraftfahrzeuge, Handwerk, bäuerliche Lebenswelt – (Foto: Facebook, 1.5.2017)

Was waren rund um meine Geburt wesentliche Themen im steirischen Kulturleben? Ich fand zu dieser Frage eine stattliche Festschrift sehr aufschlußreich: „Steirische Bewährung 1945-1955“, herausgegeben von der Steiermärkischen Landesregierung „anläßlich des zehnten Jahrestages der Beendigung des zweiten Weltkriegs“. Dieser Band behandelt „Zehn Jahre Aufbau in der Steiermark“, wobei der letzte Abschnitt des Buches dem Thema „Erziehung und Kultur“ gewidmet ist. Da dominieren Sprachregelungen, die uns heute etwas befremdlich erschienen.

Die Volkskultur in der technischen Welt ist oft mit vertrauten Motiven verknüpft, die dem agrarischen Leben zugerechnet werden und kennt auch Bräuche – (Foto: Facebook, 8.5.2017)
Die Volkskultur in der technischen Welt ist oft mit vertrauten Motiven verknüpft, die dem agrarischen Leben zugerechnet werden und kennt auch Bräuche – (Foto: Facebook, 8.5.2017)
Talkmaster Jay Leno, ein renommierter Sammler von Oldtimer-Fahrzeugen, betont Qualitäten des alten Handwerks: Das Herz ist am glücklichsten, wenn Kopf und Hand zusammenarbeiten– (Foto: Facebook, 1.8.2017)
Talkmaster Jay Leno, ein renommierter Sammler von Oldtimer-Fahrzeugen, betont Qualitäten des alten Handwerks: Das Herz ist am glücklichsten, wenn Kopf und Hand zusammenarbeiten– (Foto: Facebook, 1.8.2017)

Vielleicht läßt sich damit illustrieren, daß wir in der Sache grundlegende Umbrüche erlebt haben. Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Kultur und speziell Volkskultur, was sich zum Beispiel in einem völlig anderen Vokabular ausdrückt, natürlich auch in grundlegend anderen Auffassungen, womit wir es dabei zu tun haben. Das Kapitel handelt in wesentlichen Passagen nicht etwa von Erwachsenen, die nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes eventuell Lernbedarf hätten, sondern ist vor allem der Jugend gewidmet, der eine Überflutung durch eine „Welle schädlicher Einflüsse“ drohe. „Gewissenlose Menschen schämen sich nicht, Neugier und Triebe der jungen Menschen in der Reifezeit für ihre Geschäfte auszunutzen.“

Durch die Möglichkeit des Rückblicks wissen wir heute, da ist auf jeden Fall implizit die Popkultur gemeint, die sich rasant durchsetzte, begleitet von dem, was später eine „Sexuelle Revolution“ genannt wurde. „Gesetzliche Maßnahmen – so notwenig sie auch sind – haben geringe Wirkung ohne die tätige Unterstützung der großen Erziehungsfaktoren Elternschaft, Schule und Kirche.“ Es galt damals, „gegen die Schmutz- und Schundliteratur“ vorzugehen. Man sah die geistige und gesundheitliche Entwicklung der Jugend in Gefahr, sorgte sich wegen deren Zugang zu den „schädlichen Suchtmitteln Alkohol und Nikotin, den Lockungen zu einem verderblichen Vergnügungsleben und vorzeitiger Sexualität“. Der ominöse Schund ist übrigens eine Kategorie, die auch Viktor Geramb wie ein Kontrastmittel nannte, um „von vornherein nur wirkliches Kulturgut als Bildungsmittel“ hervorzuheben.

Dem Schmutz- und Schund gedachte man „Eine saubere Fest- und Feiergestaltung“ entgegenzustellen, aber auch „die Pflege des heimischen Volkstums“. Deshalb war „Die Heimatpflege in der steirischen Volksbildung“ ein wichtiges Thema, also eine „der Heimat und dem Volkstum dienende Bildungsarbeit“, die von einem „echten Verständnis“ getragen sei. Man muß damals in jenen Kreisen gewußt haben, was mit diesen Worten für die Praxis gemeint ist, denn die Festschrift gibt darüber keinen näheren Aufschluß. So wird etwa „Die Wiederentdeckung des steirischen Volksliedes und der steirischen Volksmusik“ durch Viktor Zack hervorgehoben. In der Leykam-Publikation „Steirisches Liederbuch“ (Rudolf Schwarz und Emil Seidel), von der Zacks Sammlung abgelöst wurde, konnte ich davon fast nichts entdecken, womit ich meine: Darin ist kaum etwas der Steiermark zuordenbar.

In der steirischen Festschrift wird dann auch mit Verweis auf Viktor Geramb die Verpflichtung zur „lebensnahen Kultur- und Heimatarbeit“ unterstrichen. Es wird das Steirische Heimatwerk erwähnt, wo man „Erzeugnisse bodenständigen Hausfleißes und überlieferte Volkskunst“ kaufen könne. Das sind vorindustrielle Motive, die von Heimarbeit handeln, wie sie durch Verleger und Kaufleute schließlich in kleinen Manufakturen gebündelt wurde, um durch die Finanzierung von Werkstoffen und den Aufbau eines Vertriebsnetzes die Geschäfte auf eine nächste Stufe zu hieven. Das sind Fertigungsweisen, die im 18. Jahrhundert durch Spinnmaschinen (Spinning Jenny) und automatische Webstühle anfingen, an ihr Ende zu kommen. Kein Weberaufstand, keine Maschinenstürmerei konnte diese Entwicklung stoppen.

Plötzlich gab es in den 1950ern auch wieder einen „Verein für Heimatschutz“, der seine erste Veranstaltung in einem „Heimatsaal“ hatte. Bei der Lektüre jener Texte wirkt es aus heutiger Sicht ein wenig, als hätte man damals die kulturellen Visionen und Vorhaben auf das für die Umsetzung verfügbare Person hin zurechtgeschrieben, statt – umgekehrt – für neue Visionen passende Kräfte zu suchen. Vieles davon muß schon damals antiquiert gewirkt haben, zumal spätestens Ende der 1940er Jahre, als sich die Rohstoff- und Devisenmängel der ersten Nachkriegszeit langsam auflösen ließen, ein kraftvoller Fluß an Neuigkeiten einsetzte. Kleiner Einschub: Ich erinnere mich Plaudereien mit alten Arbeitern aus dem Puchwerk, die grinsend erzählten, wie sehr sie die Reparationsleistungen und den Abtransport von Maschinen durch die russische Besatzungsmacht begrüßten, denn „dann haben wir lauter neues Zeug bekommen“.

Über visuelle Codes signalisiert das Land Steiermark ein Augenmerk auf zeitgenössiche Ausdrucksformen, die sich breiter bemerkbar machen – (Inserat im Periodikum Weekend, 2017)
Über visuelle Codes signalisiert das Land Steiermark ein Augenmerk auf zeitgenössiche Ausdrucksformen, die sich breiter bemerkbar machen – (Inserat im Periodikum Weekend, 2017)

Zehn Jahre später ist das Raunen vom „heimischen Volkstum“, von Bodenständigkeit und dergleichen weitgehend verstummt. Im Folgeband, in der Festschrift „Steirische Bewährung 1945-1965. Zehn Jahre Aufbau in Freiheit“, befindet sich eine anschauliche Darstellung der Modernisierungskrise, die nun zu einer Modernisierungskatharsis geführt werden sollte. Im Jahr 1965 waren, wie schon angedeutet, die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Volksmotorisierung mit Automobilen rund um Neuerungen in der Industrie allgemein erlebbar.

Das liest sich in der Publikation dann so: „Unser traditionell geprägtes Bild von Bauerntum und ländlicher Welt stimmt nicht mehr. Dessen patriarchalische Ordnung – ein imposantes Gebilde, durch Jahrhunderte bewährt – wurde durch die neuen Wirtschafts- und Arbeitsweisen, durch die Maschine, aus der Allgemeingültigkeit gedrängt, mehr noch durch die Veränderung des sozialen Gebildes ‚industrielle Welt’, die, von den großen Städten ausgehend, Produktion und Marktverflechtung, Arbeitsverfassung, aber vor allem die Denk- und Verhaltensweisen, in einer stürmischen, knapp in die Spanne einer einzigen Generation gerafften Entwicklung umgestaltet hat.“ (Ja, für diesen Satz braucht man Durchhaltevermögen.)

Wir haben heute nicht mehr so klar vor Augen, daß die Bauernschaft sich eben noch als „Ernährer des Volkes“ sehen durften, also eine enorme soziale Bedeutung hatte. Dieses Selbstverständnis war plötzlich ein Falls fürs Museum. Die Autoren der Festschrift notierten: „Unsere technische Welt gleicht aus: sie hat die Reste alter ständischer Ordnungen, die Grenzen zwischen den sozialen Gruppen verwischt. Keiner dieser Vorgänge ist rückgängig zu machen.“ Allerdings wurde noch eine „Grenze zwischen Volkskultur und Hochkultur“ thematisiert.

Außerdem findet sich zwischendurch der Hinweis: „Die Zahl der Fernsehteilnehmer wächst ständig und damit der Kreis der potentiellen Benützer eines neuen Bildungsmediums.“ Ich war noch mit dem Begriff „Schichtartbeiterprogramm“ vertraut, als es im TV gelegentliche Vormittagsprogramme mit Bildungsangeboten gab, während Sendungen rund um die Uhr damals nicht üblich waren. In jenen Tagen wurde übrigens auch das Heer als „eine echte Bildungsstätte“ betont, wo es in „soldatischer Gemeinschaft“ dann „über die reine Ausbildung an der Waffe hinaus große erzieherische Aufgaben“ gebe. (Ein Effekt, den ich aus meinem Präsenzdienst nicht bestätigen kann.) „Gegenwartskunde und Zeitgeschichte“ galten als ebenso wichtig wie „die Aufhellung der Heimatgeschichte“.

All das mag anschaulich machen, welchen Kontrast die boomende Popkultur herstellte, die sich über Radio, TV-Geräte und Schallplatten verbreiten konnte, über bunte Magazine wie „Bravo“ und „Twen“, über Tonbandgeräte mit Spulen, ab den 1970er Jahren auch über Kasettenrekorder, über Kinofilme und deren schlanke Programmheftchen, die einem damals noch an Kinokassen angeboten wurden, freilich auch über Bücher.

Öffentliche Wertschätzung: Der Verein BauKultur Steiermark würdigt mit der nach Viktor Geramb benannten GerambRose qualitätsvolle Baukultur – (Foto: Martin Krusche)
Öffentliche Wertschätzung: Der Verein BauKultur Steiermark würdigt mit der nach Viktor Geramb benannten GerambRose qualitätsvolle Baukultur – (Foto: Martin Krusche)
Private Wertschätzung: Kitsch ist eine ästhetische Kategorie, die sich keiner Debatte stellen muß– (Foto: Martin Krusche)
Private Wertschätzung: Kitsch ist eine ästhetische Kategorie, die sich keiner Debatte stellen muß– (Foto: Martin Krusche)

Es war eine Zeit, in der die Unterhaltungsindustrie über alle verfügbaren Medienkanäle ihre Produkte absetzte, und zwar unter dem hohen Anpreßdruck unermeßlicher Budgets. Außerdem sickerte die Popkultur breit in unser aller Leben ein, wodurch eine Menge Unschärfe entstand, zumal wir Eltern ausgesetzt waren, die noch einigermaßen streng zwischen E (wie ernst) und U (wie Unterhaltung) zu unterscheiden beliebten, was sogar in den Hochhäusern des sozialen Wohnbaus Geltung erlangte. Hochkultur und Triviales, wahlweise Volkskultur, wurden gegeneinander abgegrenzt. Das pädagogische Personal hielt es damit ebenso, bezog ja einiges an Legitimation daraus, diese Kategorien unterscheiden zu können und uns Kinder des Wirtschaftswunders zum „Guten“ anzuleiten.

Mindestens bei der Musik hörten wir schließlich auch noch die Unterscheidung zwischen „echter Volksmusik“ und „volkstümlicher Musik“, wobei die eine Art gelegentlich Verstärkung durch virtuose Kräfte aus einem Konservatorium bekam, die andere von der Unterhaltungsindustrie aufgemischt und von manchen Traditionshütern als „volksdümmliche Musik“ denunziert wurde. Das scherte gewöhnlich all jene nicht, die sich der Popmusik zugewandt hatten, während andere flüsterten, daß sich honorige Komponisten wie Brahms, Dvorak oder Smetana doch gerne von bodenständiger Volksmusik hätten inspirieren lassen und Beethoven mit seiner „Pastorale“ dem einfachen Leben höhere Weihen verpaßt habe. Wer für Malerei brannte, wußte natürlich, daß Kasimir Malewitsch die Lubki, populäre Bilderbögen einfacher Art, sehr geschätzt hat, ein Faible für „Volkskunst“ hegte. Aber wer von meinen Leuten kannte schon Malewitsch?

Zurück zu steirischen Belangen. Wollte man sich in Sachen Volkskultur ein wenig gründlicher orientieren, lagen Werke des Viktor Geramb nahe, der übrigens in den späteren 1960ern wieder Viktor von Geramb geschrieben wurde. Zur Erbauung wurden einem überdies Büchlein mit Holzschnitten des Ernst von Dombrowski empfohlen. Gedichte, Legenden, Erzählungen. Wer an Mundartdichtung Gefallen fand, war bei Martha Wölger oder Erwin Klauber gut aufgehoben, damit zugleich in der Gegenwart angelangt.

Dank der Fernsehapparate, die nun ein junges Massenmedium ergaben, nachdem die Nazi über erste Versuchsanordnungen nicht hinausgekommen waren, mochten wir freilich auch an überregionalen Phänomenen teilhaben. Das Salzburger Adventsingen, wie es Tobi Reiser eingeführt hatte, und die Lesungen eines Karl Heinrich Waggerl waren für uns alljährliches Familienereignis und Inbegriff von Brauchtum, wo ein Städter sonst Brauchtum kaum noch erlebte, außer eben im Rahmen des Kirchenjahres. Von der ideologischen Kontaminierung der beiden Männer aus der Nazi-Zeit wußten wir freilich nichts und daß das, was sie uns boten, nicht gerade für „althergebracht“ stand, was uns unbekannt. Auch hier hatte sich eben die Unterhaltungsindustrie der Codes und der Ereignisse bemächtigt, um sie zu verwerten.

Der Bedarf an Kitsch mit volkskultureller Anmutung wird mit Angeboten von Nippes für Cent-Beträge bis zu hochpreisigen Kuriositäten bedient – (Postwurfsendung, 5.4.2017)
Der Bedarf an Kitsch mit volkskultureller Anmutung wird mit Angeboten von Nippes für Cent-Beträge bis zu hochpreisigen Kuriositäten bedient – (Postwurfsendung, 5.4.2017)

Daneben stand es einem jedoch immer frei, sich seriöse Literatur zu beschaffen und Eindrücke zu gewinnen, was sich hinter allerhand Klischees auftun mochte. Wenn es um die Sozialgeschichte Österreichs ging, blieb das Standardwerk von Ernst Bruckmüller selbst außerhalb der Fachwelt eine sehr anregende Lektüre. Manche Teilthemen erschlossen sich über regionale Schwerpunkte. Die Südsteiermark bot als Weinbaugegend interessante Motive und Brauchtumsmomente. Zugleich brachtet einen das aber auch auf autochthone Slowenen der Steiermark, wodurch über die einstige Untersteiermark nachzudenken war, heute ein Gebiet des Staates Slowenien. Ethnien, Brauchtum, Grenzziehungen und Staatenbildung. Welche Diskurse setzen sich da durch? Welche Codes verschwinden allenfalls?

In der Oststeiermark wollte begriffen werden, daß im einstigen Armenhaus der Monarchie nicht für den Markt produziert wurde, sondern vor allem für den Eigenbedarf, was mit den bescheidenen Dimensionen der Selbstversorgerwirtschaften zusammenhängt, die meist nur sechs bis elf Hektar groß waren. (Da war vor allem für überzählige Söhne wenig Aussicht, sozial zu reüssieren.)

In solchen Verhältnissen manifestieren sich Selbstverständnis und Selbstdarstellung natürlich grundlegend anders als in reicheren Gegenden. Eine Schneidermeisterin rückte mir das am Beispiel zweier Illustrationen mit Gleisdorfer Trachten zurecht. Ich hatte, mangels ausreichender Sachkenntnis, das für die Gewänder gut situierter Leute gehalten. Sie sagte mir dagegen, aufgrund der Machart und der mutmaßlich verwendeten Stoffe sei die arme Gegend erkennbar.

Im Umfeld des Erzberges fiel einem durchaus auf, daß agrarische und technologische Entwicklung stets miteinander verbunden waren, was offenbar seit der Neolithischen Revolution so stattfindet. Technische und agrarische Innovationen gehen Hand in Hand. Das kann man übrigens an der Entwicklung des Pfluges gut ablesen. Das norische Eisen war unter anderem für die Produktion und den weltweiten Vertrieb von Sensen und Sicheln wichtig. Die konnten übrigens zu höchst gefährlichen Waffen umgeschmiedet werden, denn wo Adel wie Klerus den Bauern zu viel abnahmen, konnte es zu Hungerrevolten kommen. Es war eigentlich ein Himmelfahrtskommando für Personal der agrarischen Welt, sich Panzerreitern und bewaffnetem Fußvolk der Fürsten entgegenzustellen. Aber manchmal blieb das nicht aus und dürfte uns mentalitätsgeschichtlich erhalten sein. Was immer noch gelegentlich als eine angeblich typische Sturheit von Bauern unterstrichen wird, wurzelt vermutlich in solch harten Lebensbedingungen.

Wollte es der Zufall, stolperte man in der Obersteiermark über ein kurioses Souvenir, eine kleine Publikation, die auf dem Hausbüchel der Stampferin (Maria Elisabeth Stampfer) beruht. Eine steirische Radmeistersgattin hatte in der Barockzeit Aufzeichnungen geführt, die uns erstaunliche Einblicke ins damalige Leben gewähren. Bergbau, Eisenverarbeitung, Forstwirtschaft, Landwirtschaft… Dann aber auch der Blick auf Handelswege. Gerade Eisen, ebenso Salz, zählten zu den Gütern, die den Handel und die Fuhrgeschäfte belebten. Allerdings waren Wege über Land mühsam, das Reisen generell sehr beschwerlich. Man blieb für den Transport von Massengütern die längste Zeit auf Wasserwege angewiesen, was sich erst mit der Verbreitung der Eisenbahn änderte. Das liefert schon einige Hinweise auf eine vitale Volkskultur in der technischen Welt, zumal die Industrie seit den Innovationen des James Watt einen enormen Hunger nach Arbeitskräften entwickelte, der natürlich ganz wesentlich mit Menschen aus der agrarischen Welt gestillt wurde.

Bitte den Klischee-Generator abschalten! Mundartdichter Erwin Klauber, hier unter den Augen von Historiker Siegbert Rosenberger, ist auch mit hochsprachlichen Texten präsent, erweist sich im Gespräche als präziser und kritischer Denker, offenbart in privater Begegnung, daß er ferner ein geübter Zeichner, guter Maler und erfahrener Fotograf ist. Wenn es also auf diesem Terrain eine auffallende Dichte schlichter bis schlechter Texte gibt, stereotyper Bilderfluten etc., dann ist das kein volkskulturelles Charakteristikum, sondern eine Frage individueller Kompetenzen – (Foto: Martin Krusche)
Bitte den Klischee-Generator abschalten! Mundartdichter Erwin Klauber, hier unter den Augen von Historiker Siegbert Rosenberger, ist auch mit hochsprachlichen Texten präsent, erweist sich im Gespräche als präziser und kritischer Denker, offenbart in privater Begegnung, daß er ferner ein geübter Zeichner, guter Maler und erfahrener Fotograf ist. Wenn es also auf diesem Terrain eine auffallende Dichte schlichter bis schlechter Texte gibt, stereotyper Bilderfluten etc., dann ist das kein volkskulturelles Charakteristikum, sondern eine Frage individueller Kompetenzen – (Foto: Martin Krusche)

Die Welt des Handwerks hatte uns einiges an Brauchtum überliefert, das in manchen kurios erscheinenden Varianten selbst von jenen wahrgenommen wurde, die kein besonderes Interesse an Volkskultur zeigten. Handwerksgesellen auf der Walz, Rauchfangkehrer, die zur Jahreswende Glückwünsche überbringen, der Bergleute Sprung über das Arschleder oder das Gautschen der Buchdrucker. Aber auch die Äquatortaufe von Matrosen sind nur einige Beispiele für Gebräuche, die man etwa im Kino vor Spielfilmen in „Fox tönende Wochenschau“ zu sehen bekam und die mir als Kind so eigenartig erschienen, daß sie bleibende Eindrücke hinterließen. Da hatte ich noch keinerlei Ahnung von Zünften und den Regeln einer ständischen Gesellschaft.

Im Heranwachsen fand jemand wie ich dann über öffentliche Bibliotheken Zugang zu fundierten Arbeiten. Es waren für interessierte Laien Publikationen von Wissenschaftern wie Günther Jontes, Gerhard Pferschy oder Paul W. Roth verfügbar. Außerdem gab es zu diversen Landesausstellungen mehrheitlich sehr üppige Kataloge mit interessanten Beiträgen und oft reichlich Bildmaterial. Ein paar Beispiele: 1959: Erzherzog Johann, 1966: Der steirische Bauer, 1970: Das steirische Handwerk, 1976: Literatur in der Steiermark, 1984: Erz und Eisen in der grünen Mark, 1986: Die Steiermark, Brücke und Bollwerk, 1993: Peter Rosegger.

Dabei blieb es stets empfehlenswert, auch andere Literatur zu befragen, weil die 1960er und 1970er Jahre noch von manchen Unschärfen belastet waren. Wenn etwa Paul Anton Keller für „Literatur in der Steiermark“ den Beitrag „Schrifttum in der Steiermark in den Jahren 1938-1945“ verfaßt hat, durfte man ihm gründliches Insiderwissen zutrauen, denn er war Leiter der NS-Schrifttumskammer in Graz gewesen. Keller trat schon 1933 der NSDAP bei und gegründete 1936 den „Bund deutscher Schriftsteller Österreichs“, eine getarnte nationalsozialistische Organisation.

Es bleibt möglichst unaufgeregt festzustellen, daß wir mit dieser Art der Kontaminierung kultureller Phänomene zu jener Zeit ständig rechnen mußten, denn die Ära des Nationalsozialismus war von vielen Menschen genutzt worden, möglichst alle Lebensbereiche mit den ideologischen Früchten der Nazi und ihrer Gefolgschaft zu durchwirken. Dabei hatten Wissenschafter, Journalisten und Dichter für einen Reichtum an Beiträgen gesorgt, wovon das geistige Leben der Steiermark ja nicht in ein, zwei Jahrzehnten frei war.

Dabei waren schon früh in der Nachkriegszeit Werke verfügbar, die uns aufgeschlüsselt haben, wie zugunsten des Nazi-Faschismus unsere Codes infiltriert und Bedeutungen umgekupfert wurden. Ich denke dabei an Arbeiten wie zum Beispiel Victor Klemperers „LTI: Lingua Tertii Imperii“. Spätestens in den 1980ern hatten wir es mit exponierten Kräften wie beispielsweise Hans Haid zu tun, der in seinen kritischen Betrachtungen volkskultureller Erscheinungsformen wichtige Denkanstöße lieferte. Menschen wie er und seine Frau Gerlinde eröffneten uns außerdem volkskulturelle Inhalte, die weder lieblich noch angepaßt sind, sondern Klartext bieten, wo zum Beispiel Menschen um ein erträgliches Leben rangen und dabei so manche Kollision in Kauf nahmen. Gerade das Liedgut, mit dem sich Gerlinde Haid speziell befaßt hat, liefert da Originalton, der nicht von einem Kleinbürgertum mit formeller Bildung und dem Wunsch nach sozialem Aufstieg eingefärbt und umgedeutet wurde.

Als Kind war ich natürlich ohne Bedenken, wenn wir sangen: „Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt, er setzt seine Felder und Wiesen in Stand, er pflüget den Boden, er egget und sät und rührt seine Hände früh morgens und spät.“ Rößlein? Das klingt so nett und verschleiert, daß sich bei uns kaum wer Pferde leisten konnte, daß mit Ochsen gefahren und umgebaut wurde, daß manche so bescheiden lebten, da mußten die Kühe für solche Arbeiten herhalten. Aber wir Kleinen, Schulkinder in der Stadt, hatten keine Ahnung, welche Mühen das bäuerliche Leben seit dem Neolithikum bis zum Zweiten Weltkrieg geprägt haben und es erstaunte uns nicht, daß wir im „Steirischen Liederbuch“ mit „Worte und Weisen aus Nordmähren“ einen brauchbaren Eindruck vom Leben unserer Landbevölkerung erhalten sollten. Noch skurriler erscheint da das anschließend gereihte Lied: „Ich bin das ganze Jahr vergnügt: Im Frühling wird das Feld gepflügt…“ Das ist, vor allem gemessen an der Lebensrealität von Keuschlern, Kleinhäuslern und Dienstboten, geradezu zynisch. Aus heutiger Sicht kann man eigentlich nur feststellen, daß wir in diesen Dingen hinters Licht geführt wurden. Ich spare mir hier Spekulationen darüber, mit welchen Intentionen solche Arten des kulturellen Engagements praktiziert wurden.

Ingenieurskunst: Die Puch 250 TF gilt als eines der besten Motorräder, das je in Graz produziert wurde. Sie kann zum Basismedium einer Volkskultur in der technischen Welt werden – (Foto: Martin Krusche)
Ingenieurskunst: Die Puch 250 TF gilt als eines der besten Motorräder, das je in Graz produziert wurde. Sie kann zum Basismedium einer Volkskultur in der technischen Welt werden – (Foto: Martin Krusche)
Puristen-Schreck: Ein Liebhaber hat seine TF nach amerikanischem Vorbild modifiziert, um sich ein Unikat zu schaffen, das ihm einen markanten Auftritt ermöglicht – (Foto: Martin Krusche)
Puristen-Schreck: Ein Liebhaber hat seine TF nach amerikanischem Vorbild modifiziert, um sich ein Unikat zu schaffen, das ihm einen markanten Auftritt ermöglicht – (Foto: Martin Krusche)
Ein unüblicher Zusatztank und reichlich Chrom, um noble Distanz zum Notwendigen auszudrücken, signalisiert auch Handfertigkeit, um all das technisch umzusetzen – (Foto: Martin Krusche)
Ein unüblicher Zusatztank und reichlich Chrom, um noble Distanz zum Notwendigen auszudrücken, signalisiert auch Handfertigkeit, um all das technisch umzusetzen – (Foto: Martin Krusche)
Hochgelegter Tank und Zusatzarmaturen gehören zum Gestaltungs-Repertoire einer weltweit geschätzten Subkultur mit elaborierten kulturellen Codes, die international verstanden werden – (Foto: Martin Krusche)
Hochgelegter Tank und Zusatzarmaturen gehören zum Gestaltungs-Repertoire einer weltweit geschätzten Subkultur mit elaborierten kulturellen Codes, die international verstanden werden – (Foto: Martin Krusche)

Heute würden solche Machwerke in den aktuellen Diskursen der Fachwelt mühelos vom Tisch gewischt werden. Arbeiten wie zum Beispiel Elsbeth Wallnöfers 2001 erschienenes „Geraubte Tradition. Wie die Nazis unsere Kultur verfälschten.“ belegen, daß intellektuelle Selbstachtung eine relevante Kategorie ist. Mir scheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß es bis 2016 dauerte, um einige Klarheit zu bekommen, was denn nun genau unter traditionellem Handwerk zu verstehen sei, sofern dieses Handwerk auch in der Gegenwart noch im unternehmerischen Sinn praktiziert wird. Darüber gaben jüngst Heidrun Bichler-Ripfel, Roman Sandgruber und Maria Walcher in der UNESCO-Studie „Traditionelles Handwerk als immaterielles Kulturerbe und Wirtschaftsfaktor in Österreich“ Auskunft.

Während der letzten Jahrzehnte liefen wissenschaftliche Diskurse, dank derer wieder mehr Trennschärfe möglich wurde, um die Ethnologie und völkische Konzepte auseinanderhalten zu können, um soziokulturelle Realität und ideologisch begründete Phantasieprodukte als zweierlei Erscheinungen zu erkennen. Dabei denke ich ferner an Autoren wie Hermann Bausinger oder Dieter Kramer. Aber auch von anderen Disziplinen kamen wichtige Anregungen, dank derer manche Bilder aus dem Trüben gehoben werden konnten, um eine aufschlußreiche Betrachtung zu ermöglichen. So etwa die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann über das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis.

Jan Assmann schrieb in „Kultur und Gedächtnis“ (1988), das kulturelle Gedächtnis habe seine Fixpunkte, „sein Horizont wandert nicht mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit.“ Das ist eine sehr nützliche Metapher, wenn wir uns selbst in diesen kulturellen Kräftespielen wiederfinden möchten, die uns in der Wahrnehmung zwischen individuellen und kollektiven Zusammenhängen hin- und herwerfen. Assmann: „Diese Fixpunkte sind schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten wird. Wir nennen das »Erinnerungsfiguren«…“

Da wir längst nicht mehr in einer ständischen Gesellschaft leben, muß unser Dresscode prinzipiell keine bestimmten Botschaften mehr übertragen. Daher könnte Tracht einfach ein Gewand von hohem Tragekomfort sein, mit dem man mehr oder weniger feinen Geschmack und seine finanziellen Möglichkeiten ausdrückt. Uuups! Das sind natürlich auch Botschaften. – (Foto: Martin Krusche)
Da wir längst nicht mehr in einer ständischen Gesellschaft leben, muß unser Dresscode prinzipiell keine bestimmten Botschaften mehr übertragen. Daher könnte Tracht einfach ein Gewand von hohem Tragekomfort sein, mit dem man mehr oder weniger feinen Geschmack und seine finanziellen Möglichkeiten ausdrückt. Uuups! Das sind natürlich auch Botschaften. – (Foto: Martin Krusche)

Das halte ich für sehr hilfreich, wenn wir uns volkskulturelle Dimensionen verdeutlichen möchten, die nach meiner Einschätzung auch so manche Resonanzen und Interferenzen zeigen, wo sie mit Prozessen der Popkultur und der Gegenwartskunst in Berührung kommen. Das hat in der Betrachtung unserer Lebenssituationen in der Nachkriegszeit, in der Zweiten Republik, weit mehr Gewicht, als vordergründig erkennbar scheint. Arbeitswelt und Lebensformen, maßgebliche Instanzen unserer Gesellschaft, die Verfassung der Deutungseliten, vor allem aber unsere Mediensituation haben sich in diesen wenigen Jahrzehnten radikal verändert. So auch unser Verständnis von Kultur, vom Zusammenhang verschiedener kulturelle Genres sowie unsere einschlägigen Kulturpraxen und Rezeptionsweisen. Die sind zwar nach wie vor auch noch mit repräsentativen Aufgaben befrachtet und – staunenswert! – an manchen Stellen mit quasi ständischen Distinktions-Mechanismen unterfüttert, aber in wesentlichen Bereichen ist schon lange ein sorgloses Nebeneinander verschiedener Stile und Erscheinungsformen möglich, ohne daß eine Form gegen die andere ausgespielt würde.

Wir befinden uns erneut in einem radikalen Umbruch, erleben gerade eine Vierte Industrielle Revolution. Bei all dem können wir nicht sicher sein, daß uns derzeit vertraute Sichtweisen zu tauglichen Befunden über diese Prozesse befähigen. Man könnte freilich darauf sagen: Das macht nichts, bleiben wir einfach im Gespräch. War Wissenschaft je zu anderem gedacht und in der Lage? In einem Arbeitsgespräch (2011) mit Michael Narodoslawsky vom Institut für Prozess- und Partikeltechnik an der TU Graz hatte ich zu notieren, was seiner Auffassung nach Wissenschaft sei: „Wissenschaft hat nichts mit Wahrheit zu tun.“ Was Menschen wie er in der Wissenschaft angehen, müsse als ein Versuch verstanden werden, das „was die Leute vor uns gefunden haben, zu widerlegen. Das bedeutet, was ich heute finde, ist mit Sicherheit falsch.“ Wissenschaft sei nichts anderes, als eine Auseinandersetzungsform mit der Realität, und zwar mit bestimmten Regeln. „Entlang dieser Regeln gehen wir mit der Realität um und ändern dabei dauernd unser Wissen und ändern dabei dauernd unsere Weltsicht, unsere Realität...“

Es ist jenes symbolische Denken, das sich bei unserer Spezies im Neolithikum so auffallend durchgesetzt, rasant verbreitet hat, nicht mit Genre-Begrenzungen versehen. Damit meine ich, kulturelle und spirituelle Bedürfnisse sind weder die Domäne eines bestimmten Genres, noch einem dieser Bereiche speziell gewidmet und zugesichert. In genau diesem Zusammenhang scheint mir nützlich zu beachten, was Neurobiologe Gerald Hüther als die zwei fundamentalen Bedürfnisse des Menschen nennt: Zugehörigkeit und Autonomie. In seinem populär gehaltenen Buch „Etwas mehr Hirn, bitte“ (2015) stellte Hüther dieses Bedürfnispaar als „Sehnsucht nach Autonomie und Freiheit einerseits und nach Verbundenheit und Geborgenheit andererseits...“ dar.

Der verblüffende Ausnahmefall im Durchdringen aller drei Genres, der Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst: Die Weltmaschine des Bauern Franz Gsellmann. – (Foto: Martin Krusche)
Der verblüffende Ausnahmefall im Durchdringen aller drei Genres, der Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst: Die Weltmaschine des Bauern Franz Gsellmann. – (Foto: Martin Krusche)

Da erscheint uns plötzlich quer durch die Jahrtausende jenes zoon politikon vertraut, das Aristoteles benannt hat und schon Platon beschrieb: Der Menschen als von Natur aus politisches Wesen, das – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein Leben im Gemeinwesen sucht, dabei aber offenbar nicht wie eine Ameise in der Masse aufgehen möchte, sondern sich als Individuum erleben und entfalten will, dem aus eigener Anstrengung etwas gelingt, das anderen etwas bedeutet. Also, wie Hüther meinte, ein Wesen mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Autonomie, wobei Autonomie Selbstbestimmung meint, die Zugehörigkeit aber soziale Qualitäten und des Eingehen auf andere verlangt. Es wird nicht schwer fallen, im Brauchtum an vielen Stellen genau solche Zusammenhänge zu erkennen.

Zugehörigkeit und Autonomie, das ist eben nicht widersprüchlich, kein Entweder-Oder, sondern genau das, was uns Menschen über soziale Erfahrungen und kulturelle Kompetenzen gelingt, wo ja keinerlei „Wahrheiten“ entstehen, indem man einfach anfängt, die Widersprüche zu eliminieren. Das hilft zu verstehen, wie Menschen sich einerseits als Individuen und andrerseits als soziale Wesen erleben möchten, wozu sie sich kulturelle Bedingungen schaffen, die von üblicher Alltagsbewältigung freigestellt sind. Zugleich beziehen wir aber genau aus diesen kulturellen Nischen allerhand Kompetenzen und Kräfte, die uns im Alltag recht nützlich sind. Ich vermute darin einen wesentlichen Grund für das Ersinnen und Praktizieren von Bräuchen. Sie geben uns einen Tätigkeitsbereich für kulturelle und spirituelle Bedürfnisse, stellen das dem Alltag gegenüber, haben aber zugleich das Zeug, uns für die Alltagsbewältigung zu inspirieren und zu stärken.

Dabei mag es vorerst völlig egal sein, auf welches Teilthema jemand seine diesbezüglichen Bedürfnisse und Talente konzentriert, auch wenn wir zum Beispiel Volkskultur und Gegenwartskunst kategorial unterscheiden möchten, weil Intentionen, Inhalte und Inszenierungen sich doch meist wenig ähneln. (Darin klingt übrigens noch die alte Dichotomie „Hochkultur/Volkskultur“ an, für die wir heute wenig Verwendung haben, um etwas zu erklären.)

Aus der Distanz betrachtet kommt womöglich doch einiges in Deckung, wenn wir auf diese kulturellen Genres blicken. Jan Assmann schrieb im Zusammenhang mit dem Thema Erinnerungsfiguren: „Im Fluß der Alltagskommunikation bilden solche Feste, Riten, Epen, Gedichte, Bilder usw. »Zeitinseln«, Inseln vollkommen anderer Zeitlichkeit bzw. Zeitenthobenheit. Im kulturellen Gedächtnis weiten sich solche Zeitinseln zu einem Erinnerungsraum »retrospektiver Besonnenheit«…“

Dazu mag einem auffallen, daß sich allein schon die Formulierung „retrospektive Besonnenheit“ ganz anders anfühlt als zum Beispiel: „Traditionsschützer“. Eben diese Haltung, eine achtsame Besonnenheit, dürfte sich auch weit besser als die Idee einer „Schutzarbeit“ mit dem decken, was die Autorinnen Primas, Wallnöfer oder Wolf in ihren Aussagen über Volkskultur und Brauchtum unterstrichen haben.

Ich hab hier den Ausdruck Schutzarbeit nicht zufällig gewählt. So nannte man ein überaus problematisches Konzept des kulturellen Engagements in der Habsburger Monarchie, für das sich auch Peter Rosegger energisch verwendet hat. Das bekannteste Beispiel dafür ist vermutlich der gemeinsam mit Ottokar Kernstock verfaßte Gedichtband „Steirischer Waffensegen“ (1916), dem allerhand erbauliche Schriften vorausgegangen sind, wie zum Beispiel Aurelius Polzers „Zu Schutz und Trutz!“ (1884) und so manch ein anderer „Deutscher Sang aus der Ostmark“.

Im Mai 1880 hatten solche Ambitionen durch den Deutschen Schulverein eine Institution erhalten. Derlei Konzepte, in denen man Menschen empfiehlt, daß sich ihre kulturellen Vorstellungen, Auffassungen und Praktiken im Lauf der Jahre bloß nicht ändern, sondern auf einem früheren Status quo verbleiben mögen, bringen schließlich Varianten hervor, die jene Menschenverachtung zu legitimieren versuchen, mit denen in Europa sich etliche Regime die Erlaubnis zu Greueltaten erteilte. Die deutsche Schutzarbeit in Österreich hat ihre weitreichende volkskulturelle Dimension. Im Jahr 1990 erschien eine Festschrift, herausgegeben vom Schutzverein Österreichische Landsmannschaft. Das Büchlein ist dem Thema „110 Jahre Deutsche Schutzarbeit“ gewidmet und erhielt zwei Grußworte von prominenter Seite, vom damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim und vom Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder. Aus dieser Publikation erfahren wir, daß 1889 in Graz der Verein Südmark gegründet wurde, um sich bedeutenden Aufgaben zu widmen, nämlich „Deutsche vor dem Verlust ihres Volkstums zu schützen und nicht fremde Völker zu germanisieren“. Da wurde für „Staatstreue und Volkstreue“ geworben, natürlich auch hier ohne präzisere Hinweise, worin genau sich ein Volkstum zeige, konstituieren lasse, um Volkstreue zu ermöglichen, ergänzt um zweckdienliche Hinweise, was Volkstreue denn überhaupt sei.

Gerade diese Darstellungen gegen jeden Kunstdiskurs halte ich für sehr reizvoll – (Foto: Martin Krusche)
Gerade diese Darstellungen gegen jeden Kunstdiskurs halte ich für sehr reizvoll – (Foto: Martin Krusche)
Volksfrömmigkeit bietet uns ein breites Spektrum ästhetischer Konzepte an – (Foto: Martin Krusche)
Volksfrömmigkeit bietet uns ein breites Spektrum ästhetischer Konzepte an – (Foto: Martin Krusche)
Junge Arbeiten können sich allerdings qualitativ manchmal nicht mit alten Werken messen – (Foto: Martin Krusche)
Junge Arbeiten können sich allerdings qualitativ manchmal nicht mit alten Werken messen – (Foto: Martin Krusche)
Manche ambitionierte Werke werden sich freilich doch der Kunstkritik stellen müssen – (Foto: Martin Krusche)
Manche ambitionierte Werke werden sich freilich doch der Kunstkritik stellen müssen – (Foto: Martin Krusche)

Bald darauf, im Juni 1991, erschien unter den „Eckartschriften“ das Heft 117 mit dem Titel „Wahre Kunst für ein freies Volk“. Autor Richard W. Eichler äußert darin unter anderem die Ansicht, daß die „Heilkraft wahrer Kunst“ in Gefahr sei, wo zum Beispiel „Intellektualität und Hoffnungslosigkeit“ Hand in Hand gingen. Er meinte, einen „Häßlichkeitskult“ auszumachen, der von „Schönheitshassern“ betrieben werde, während eine „Pornographiemafia“ ihr Unwesen treibe und zu allem Überfluß „Richter aus der 68er Generation“ sich „Kunstvorbehaltsparagraphen“ zurechtdrehen würden. An einer Stelle des Textes notierte Eichler mit vermutlich großer Unruhe: „Von deutscher Art in den Künsten wollten die Progressisten nach 1918 und nach 1945 auf keinen Fall etwas hören (bei anderen Völkern waren sie toleranter).“

Ich komme zurück zu Assmann, dessen Verweis auf „retrospektive Besonnenheit“ einen gut nachvollziehbaren Kontrast zur Idee einer kulturellen „Schutzarbeit“ ergibt. Besonnenheit! Der Rückblick in Österreichs Geschichte zeigt uns, daß „Schutz und Trutz“ kulturellen Zusammenhängen gewidmet ist, die sich genau nicht verändern mögen, sollen, dürfen, um ihren Beschützern und Bewahrern die eigene Identitätskonstruktion nicht zu verhageln. Das war, wie sich gezeigt hat, weder für ein multiethnisches Imperium wie das habsburgische Österreich tauglich, das im Großen Krieg untergegangen ist, noch könnten wir damit in einer globalisierten Welt zurechtkommen, in welcher uns eine internetgestützte Info-Sphäre umgibt, die allen Instanzen von Kultur, Politik und Wirtschaft neue Optionen eröffnet hat.

Assmann legt in seinem Buch „Kultur und Gedächtnis“ übrigens offen, daß er diese Möglichkeit einer „retrospektiven Besonnenheit“ aus der Arbeit von Kulturwissenschaftler Aby Warburg bezogen hat: „Er sprach den Objektivationen der Kultur und zwar nicht nur hohen Kunstwerken, sondern auch Plakaten, Briefmarken, Tracht, Brauchtum usw. eine Art »mnemischer Energie« zu. In kultureller Formgebung kristallisiert kollektive Erfahrung, deren Sinngehalt sich in der Berührung blitzartig wieder erschließen kann, über Jahrtausende hinweg.“ Auch das erscheint mir für ein zeitgemäßes Fragen, was denn nun Volkskultur sei, sehr nützlich. Es ist eine elektrisierende Vorstellung, daß es eine „Kraft kultureller Objektivationen“ gibt, die uns hilft, „ein kulturelles Gedächtnis zu stabilisieren“ und zwar womöglich über Jahrtausende hinweg. Das ist von Assmann keineswegs auf irgendeine Art esoterisch gedacht, sondern bezieht sich auf jene Mittel und Modi, die sich Menschen in Gemeinschaft erworben haben, mit denen wir laufend umgehen; viel Greifbares, manches eben geistiger und seelischer Art.

Dazu kamen auch Ideen von Maurice Halbwachs. Außerdem arbeitete Jans Ehefrau Aleida Assmann intensiv an diesen Themen mit. So können wir uns heute mit einer Theorie des kulturellen Gedächtnisses befassen, die sich auf drei Pole bezieht, auf Gedächtnis (bzw. appräsentierte Vergangenheit), Kultur und Gruppe (bzw. Gesellschaft), welche zueinander in Wechselbeziehung stehen. Dabei halte ich die Idee von der Appräsentation (Husserl) für überaus spannend. Wenn etwas offensichtlich ist, wenn wir es betrachten können, haben wir oft auch Vorstellungen jener Anteile, die daran gerade nicht sichtbar sind. Im Vordergründigen ist daher das in der Tiefe Liegende „appräsentiert“.

Heute scheint es ein wenig, als haben sich Volk und Volkskultur über weite Strecken getrennt. Das dürfte mit den enormen Veränderungsschüben in allen Lebensbereichen zusammenhängen. Hieß es in der vorhin zitierten steirischen Festschrift von 1965 noch, unser Leben habe sich „in einer stürmischen, knapp in die Spanne einer einzigen Generation gerafften Entwicklung umgestaltet“, so wurden derlei Prozesse einer Umgestaltung aller Bereiche innerhalb eines Menschenlebens inzwischen sogar noch beschleunigt. Wir, die wir in den 1930er bis 1950er Jahren geboren wurden, Kinder der Zweiten Industriellen Revolution, erlebten in den 1970ern die dritte, die Digitale Revolution. Nun stecken wir in der Vierten Industriellen Revolution, da Maschinensysteme längst Dinge können, die wir gerade noch bloß Menschen zugetraut haben. Das reicht übrigens inzwischen auch mitten in diverse Kulturleistungen hinein. Begriffe wie Volk und Kultur sind in Lebensrealität und Deutungen von derlei Beschleunigungen nicht ausgenommen.

Da die Natur alle Arten von Talenten blind ausstreut und die Evolution gedeihen läßt, was sich für eine Spezies bewährt, muß es eine Zeit gegeben haben, wo in der breiten Bevölkerung Kultur gelebt wurde, die von allen denkbaren kreativen Qualitäten belebt war, um Ergebnisse hervorzubringen, für die sich kein Mensch von Stand, kein Aristokrat oder hoher Kleriker interessiert haben dürfte. Ich mag mir vorstellen, die Menschen waren sich darin völlig selbst überlassen und das, was wir hier Volkskultur nennen könnten, blieb von außerhalb liegenden Interessen seitens „höher gestellter Kreise“ weitgehend unberührt.

Ab dem späten 18. Jahrhundert lassen sich Prozesse nachweisen, wo „gebildete Kreise“ sich dem „Volk“ zuwenden, um seine Kultur zu untersuchen und diese als „Volkskultur“ zu beschreiben. Mit der aufkommenden Industrialisierung werden dann nicht bloß Lebensverhältnisse völlig umgebrochen, es entstehen schließlich Arbeiterbewegungen, die eine politische Relevanz entfalten, durch welche sich Frontstellungen ergeben, in denen „Volkskultur“ unter anderem zu einer Waffenkammer der Ideologen wird. Das zeigt sich schließlich auch in wachsenden nationalistischen Diskursen, die in Österreich und Deutschland besondere Kontraste erhalten, da deren Herrscherhäuser von keiner Revolution entmachtet wurden, sondern sich im Großen Krieg zwischen 1914 und 1918 politisch selbst erledigten.

Diese Ereignisse haben einige konstituierende Elemente für den Weg in die Nazi-Herrschaft, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg geliefert. War also mutmaßlich zuerst die Kultur des Volkes von Herrschaftsinteressen unberührt, weil in diesem Sinn weitgehend irrelevant, so sehen wir ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert diese Phase, wo sich ein Bildungsbürgertum im Volk seine Mündel zum Bevormunden sucht. Das sorgt dann bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts für eine aggressive Instrumentalisierung des Themas, von deren Schattenseiten und menschenverachtenden Effekten wir bis heute nicht umfassend frei sind. Doch inzwischen umgibt uns eine völlig neue Info-Sphäre. Wir sind Teile einer Massenkultur, die sich auf Massenmedien stützt, leben in einer globalsierten Welt, die uns von überall auf der Welt, sogar aus dem Weltall, die Kommunikationskanäle mit Bildern und Botschaften füllt.

Wir konnten sehen, wie die Wirtschaft teilweise kapert, was volkskulturelle Prägungen zeigt, wie nationalistische Diskurse wieder aufleben und mit entsprechender Emblematik versehen werden, wie diverse Identitätsangebote plötzlich an kleinräumigen Dimensionen festgemacht werden. In den letzten Wahlkämpfen Österreichs hatte zum Beispiel der Begriff Heimat sein erstaunliches Revival bei fast allen wahlwerbenden Parteien, obwohl so gut wie niemand in diesen Kampagnen dargelegt hat, was genau mit diesem Begriff bezeichnet sei. Eine Wiederkehr des bedeutungschwangeren Raunens und Flüsterns als politisches Instrument. Was ist denn nun in all dem eine „echte Volkskultur“, sofern wir nicht Artefakte und Inhalte aus vergangenen Zeiten betrachten, sondern die Prozesse und Produkte der Gegenwart?

Hermann Bausinger nannte anläßlich der Neuauflage seines Buches „Volkskultur in der technischen Welt“ die Volkskultur in seinem Vorwort von 2005 einen „emotionalen Fluchtpunkt“, wo die Konstrukte Volk und Volkskultur hochfunktional geworden seien, um die rasanten Veränderungen der Gesellschaft zu ertragen. Bausinger meinte: „Selbst Teile des Proletariats stiegen in das halbkonfektionierte Angebot Volkskultur ein, weil es ihnen die Möglichkeit der Rückbindung an ländliche Herkunftsregionen bot und außerdem eine Annäherung an die Bürgerlichkeit, für die jene Volkskultur die einzig legitime Form der ‚niederen’ Kultur darstellte.“ Hier ließe sich vermutlich etwas wie ein milieuübergreifender „kultureller Pakt“ ausmachen, in den, wie schon angedeutet, zum Beispiel die Wirtschaft sehr aggressiv eingestiegen ist, um solche Zusammenhänge und deren Codes zu vermarkten.

Ich kann heute in einem Laden für Souvenirs und Nippes ein T-Shirt ordern, welches das steirische Landeswappen mit dem Panther zeigt. Dazu zwei Aussagen: „Österreicher durch Geburt!“ und „Steirer durch die Gnade Gottes!“ Das Postpaket, mit dem dieses Kleidungsstück ankam, verriet mir einen Absender in der 103 rue La Boétie, 75008 Paris, also in Frankreich. Das ist insgesamt mindestens skurril, wahrscheinlich ein wenig gruselig und hat einen problematischen ideologischen Kern. Gottesgnadentum und Zugehörigkeit per Geburt auf einem bestimmten Stück Boden haben Europa im 20. Jahrhundert von Verdun über Auschwitz nach Srebrenica geführt. Das Irritierende an diesem T-Shirt: Ich muß nicht einmal annehmen, daß man sich beim Entwurf dieses Textils in der Designabteilung des Produzenten solcher Inhalte und Konnotationen bewußt war. Ich vermute, hier wurde ein ideologisch kontaminiertes Produkt unter ideologiefreien Bedingungen erzeugt, weil die Elemente attraktiv und gut vermarktbar erschienen.

Das verweist, nebenbei bemerkt, auf die oben erwähnten Aspekte der Objektivationen unserer Kultur, der mnemischer Energie etc. Um solche Kuriosa zu betrachten, muß man nicht erst den Versandhandel strapazieren. Ein lokales Beispiel. Im Jänner 2018 bewarb das Citymanagement der Stadt Gleisdorf eines seiner Produkte mit dem Hinweis: „Auf der Suche nach dem perfekten Outfit für einen kommenden Ball? Ein echter Allrounder ist dabei nach wie vor die Tracht.“ Dieses Gewand, ein junges Lifestyle-Produkt, ist mit sichtbaren und unsichtbaren Botschaften befrachtet: „Wer Heimatverbundenheit zeigen möchte, hat mit der Gleisdorf-Tracht die Möglichkeit dazu.“

Was genau ist denn Heimatverbundenheit? Wie drückt sie sich aus? Etwa im Tragen von Tracht, die völlig traditionsfrei kreiert wurde? Das muß man aufschlüsseln. Das beworbene Produkt steht weder in der Stoffwahl noch in der Verarbeitungsqualität mit klassischer Tracht in Verbindung, ist auch in Farbgebung und Gestaltung der Details völlig von verfügbaren Vorlagen befreit. Bleibt noch die Pose der Heimatverbundenheit. Wie funktioniert die? Ich bin heimatverbunden, deshalb trage ich Tracht. Wozu führt diese Heimatverbundenheit? Zum Beispiel dazu, daß ich Tracht trage. Wozu sonst? (Wissen wir nicht!)

Eine etwas verwirrende Strategie. Ich habe dann in einem Gleisdorfer Kaufhaus Nachschau gehalten und vor allem darüber gestaunt, daß in die Trachtenensemble für Männer und Frauen Stoffmuster eingewoben sind, die sich bei näherer Betrachtung als aktuelles Logo der Stadt erweisen. Das bedeutet, die Idee von Identitätsstiftung durch Heimatverbundenheit wurde hier gewissermaßen zu Marketingzwecken verramscht.

Wie die „echte“ Volksmusik, so unterscheiden versierte Leute „echte“ Tracht von billiger Massenware. Trachten haben sich freilich längst auch als Party-Kostüm und Fan-Artikel etabliert – (Foto: Martin Krusche)
Wie die „echte“ Volksmusik, so unterscheiden versierte Leute „echte“ Tracht von billiger Massenware. Trachten haben sich freilich längst auch als Party-Kostüm und Fan-Artikel etabliert – (Foto: Martin Krusche)
Was das „Echte“ sei, bekommt eine Art Ewigkeitsanspruch zugeschrieben, anderes landet mitunter im Abverkauf – (Foto: Martin Krusche)
Was das „Echte“ sei, bekommt eine Art Ewigkeitsanspruch zugeschrieben, anderes landet mitunter im Abverkauf – (Foto: Martin Krusche)
Ein Logo als Muster von Trachtenstoffen gehört sicher zu den raren Kuriositäten des Genres, sollte aber vermutlich Werbegeschenken vorbehalten sein – (Foto: Martin Krusche)
Ein Logo als Muster von Trachtenstoffen gehört sicher zu den raren Kuriositäten des Genres, sollte aber vermutlich Werbegeschenken vorbehalten sein – (Foto: Martin Krusche)

Von Dieter Kramer stammt die Feststellung, Kultur sei eine „von den Mitgliedern geteilte kontingente Auswahl aus einer Vielfalt von Möglichkeiten“ und darin ergebe sie „einen unverzichtbaren Bestandteil menschlicher Vergesellschaftung“ (2012). Damit ist noch nicht gesagt, wer in einem Ringen um eher materielle oder eher immaterielle Profite Vorfahrt haben solle. Klar, daß die Wirtschaft in diesen Bereichen mitmischt, die Politik erst recht. Somit kann zum Beispiel Trachtenmode, in die flächendeckend Markenzeichen einer Firma oder einer Stadt eingearbeitet wurden, nicht besonders prominent als Kulturgut beschrieben werden. Sie ist es aber doch, drückt aus, welches kulturelle Konzept hier gerade bevorzugt und kofinanziert wird. Daraus sollte uns klar werden, daß Kultur, Kommerz und Politik keine getrennten Sphären sind. Wir müßten im Bedarfsfall erst klären und möglichst in öffentlichen Diskurse begründen: Wollen wir zwischen diesen Sphären doch etwas besser erkennbare Grenzen bevorzugen? Und falls ja, wie?

Um die Trachtenmode mit dem Firmenlogo als Stoffmuster mache ich mir keine weiteren Gedanken. Das sind vermutlich recht temporäre Phänomene, die sich regeln, indem man nun beispielsweise an den Gleisdorfer Trachten Zettel finden kann, die sie als Ware zum halben Preis kennzeichnen. Genau solche Phänomene bergen übrigens den Hinweis, daß individuelles Engagement an der Basis einer Gesellschaft stärker gefordert wäre, daß man es nicht bloß Wirtschaft, Politik und Verwaltung überlassen sollte, unser Kulturgeschehen inhaltlich zu bestimmen. Da ginge es um Wissens- und Kulturarbeit der Menschen, wie man sie als Ausdruck einer Volkskultur verstehen könnte, also einer selbstbestimmten Kultur des Volkes, besser gesagt: weiter Kreise der Bevölkerung. Dabei finden sich bestimmt viele Menschen, die an Geschichte und „retrospektiver Besonnenheit“ Interesse haben, aber es müssen sich keinesfalls alle damit befassen. Selbstbestimmte Kulturinitiativen sind ja nichts, was wir gerade erst erfunden hätten, als wir in den 1970ern entwickelten und erprobten, was später als autonome beziehungsweise freie Initiativenszene beschrieben wurde.

Selbstbestimmte Kulturarbeit… Wie Kramer feststellt: „Betriebswirtschaftlich ist solches Arbeiten nicht zu rechtfertigen, aber für das soziale Leben und die Lebensqualität ist es unverzichtbar.“ Das bietet eventuell eines von mehreren möglichen Kriterien für die Einschätzung von kulturellem Engagement an, für Teilbereiche einer Kultur der Bevölkerung. Um es mit einer Frage auszudrücken: Ist es für das soziale Leben und die Lebensqualität unverzichtbar?

(Beachten Sie bitte: Die Bilder sind nicht gedacht, einzelne Textstellen zu illustrieren, sondern eröffnen eine eigene Erzählebene, die Ihnen Assoziationsmöglichkeiten anbieten soll.)


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