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Notiz 010: Das extreme Jahrhundert#

(Ein kleiner Rückblick auf die 1920er Jahre)#

von Martin Krusche

Hundert Jahre sind um. Es eröffnet eine überbordende Fülle von markanten Eindrücken, von 2020 aus auf 1920 zu blicken. Ich will für unsere aktuelle Arbeit einige davon aufgreifen, um eine Vorstellung schaffen, welche Wucht da in den Lauf unserer Geschichte kam.

Puchwerke AG: Ein Gesellenbrief aus dem Jahr 1920. (Foto: Martin Krusche)
Puchwerke AG: Ein Gesellenbrief aus dem Jahr 1920. (Foto: Martin Krusche)

Die Menschen hatten eben erst die radikale und tief verstörende Erfahrung eines motorisierten Krieges gemacht, dessen Waffen aus neuen Formen der Massenfertigung kamen.

Eine bis dahin beispiellose Leidensgeschichte, die in der Geschichtsschreibung als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gedeutet wird, auch als erster Teil eines „Zweiten Dreißigjährigen Krieges“.

Historiker Iván T. Berend prägte in diesem Zusammenhang den Begriff „Das kurze 20. Jahrhundert“. Bei Historiker Eric Hobsbawm wurde draus ein Buchtitel: „Das Kurze 20. Jahrhundert. Das Zeitalter der Extreme.“

Hobsbawm beschreibt darin eine Epoche von 1914 bis 1991. Dabei bearbeitete er die Geschehnisse vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Sowjetunion im Dezember 91.

Ein Zeugnis für den Dreher und Maschinenschlosser Georg Bauer. (Foto: Martin Krusche)
Ein Zeugnis für den Dreher und Maschinenschlosser Georg Bauer. (Foto: Martin Krusche)

In jenem Jahr 1991 intervenierte die Jugoslawische Volksarmee (JNA) unter dem Einfluß serbischer Interessen in Slowenien, um einen Zerfallsprozeß der Föderativen Republik zu stoppen. Das war der sogenannte „10-Tage-Krieg“ (vom 26.6. bis zum 7.7.1991), dem eine Kette humanitärer Katastrophen folgte.

Ein Gesellenbrief#

Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien formell den Krieg. Was ein zeitlich und regional eingegrenzter Konflikt hätte bleiben sollen, wuchs sich zum Großen Krieg aus, da ein Gewirr von kollidierenden Interessen verschiedener Großmächte seine Wirkung entfaltete.

Es war der erste umfassend mechanisierte Krieg unserer Geschichte, dessen Intensität, Härte und Konsequenzen nicht einmal von erfahrenen Militärs abgesehen werden konnte. Die Waffen schwiegen erst wieder Ende 1918. Am 16. Juli 1920 trat der Vertrag von Saint-Germain formell in Kraft. Damit war die Auflösung Österreich-Ungarns völkerrechtlich bestätigt.

Im Sommer 1920 begann der damals siebzehnjährige Georg Bauer in den Grazer Puchwerken das Handwerk des Drehers und Maschinenschlossers zu lernen. Freisprechung im November 1921? Ein flotter Bursche. Der Gesellenbrief, den ich hier zeige, steht exemplarisch für den Aufbruch aus der Katastrophe.

Das Jahr 1920 markiert eine Ära, in der sich die Zweite Industrielle Revolution etabliert hatte. Das bedeutet, neue Produktionsmethoden erlaubten Stückzahlen, die davor undenkbar gewesen sind. Es hatte ein Kräftespiel begonnen, das Massenproduktion und Massenkonsum auf eine Art zusammenführte, welche das Antlitz der Welt veränderte.

Dieser Gesellenbrief aus der Puchwerke AG Graz symbolisiert den enormen Hunger der Industrie nach Fachkräften. Altmeister Johann Puch hatte rund ein Jahrzehnt davor begonnen, seinen Betrieb darauf einzustellen. Das bedeutete vor allem drei Punkte: großen Kapitalbedarf, Neubauten zur Umstellung der Produktion und die Ausbildung des Nachwuchses.

Das ist die Halle P, wie sie zum größten Teil heute noch besteht. Johann Puch hat sie bauen lassen, um neuen Produktionsmethoden Platz zu schaffen. Das nicht datierte Foto trägt die Aufschrift „Winterlager“ und stammt aus dem Archiv von Johannes Sattler.
Das ist die Halle P, wie sie zum größten Teil heute noch besteht. Johann Puch hat sie bauen lassen, um neuen Produktionsmethoden Platz zu schaffen. Das nicht datierte Foto trägt die Aufschrift „Winterlager“ und stammt aus dem Archiv von Johannes Sattler.

Noch heute finden Sie in Puchs Stammwerk jene Halle P, die ursprünglich fast doppelt so lang war und diesem Zweck gewidmet worden ist. (Darin wurde 2012 das Johann Puch Museum Graz eingerichtet.) Puch hatte überdies Lehrwerkstätten einrichten lassen, die getrennt vom laufenden Betrieb geführt wurden. Es war die Zeit einer enormen Automatisierungswelle in der Industrie.

Im Jahr 1920 kam das überhaupt erste Steyr-Automobil auf den Markt. Eine Konstruktion von Hans Ledwina. Dieses Fahrzeug wurde auch Waffenauto genannt. Eine Analogie zum Steyr Waffenrad, dem erfolgreichen Lizenzprodukt von Swift, Coventry. Es ist der Steyr Typ II. Ferdinand Lanner erklärt die Numerierung: „Der Typ I war der Prototyp, der nie in Serie gebaut wurde“.

Im Jahr 1920 erschien der erste Kriminalroman von Agatha Christie, mit dem sie den belgischen Detektiv Hercule Poirot eingeführt hat: „Das fehlende Glied in der Kette“ („The Mysterious Affair at Styles“). In ihren populären Romanen geschieht so allerhand während gepflegter Raumüberwindung, also auf Reisen. Da wird in der Eisenbahn (Orient Express) gestorben, auf einem Nil-Dampfer, in einem Passagierflugzeug…

Heinz Mesicek im Steyr IV, der „Schrumpfversion“ des Steyr Waffenautos. (Foto: Martin Krusche)
Heinz Mesicek im Steyr IV, der „Schrumpfversion“ des Steyr Waffenautos. (Foto: Martin Krusche)

Im Jahr 1920 veröffentlichte der tschechische Schriftstellers Karel Čapek das Theaterstück "R.U.R. - Rossumovi Univerzální Roboti". Darin stellt die Firma R.U.R. künstliche Menschen her, die als Arbeitssklaven eingesetzt werden. Auf dieses Theaterstück geht das Wort Roboter zurück. Eine Begriffsschöpfung, die dem Bruder des Autors, Josef Čapek, zugeschrieben wird.

Im Jahr 1920 erwarb Börsenspekulant Camillo Castiglioni die Aktienmehrheit bei Austro-Daimler, was eine Reihe problematischer Konsequenzen hatte. Bald darauf setzte Ferdinand Porsche eine bedeutende Markierung. Der österreichische Filmproduzent Alexander „Sascha“ Kolowrat-Krakowsky war ein leidenschaftlicher Rennfahrer. Für ihn konstruierte Porsche den Austro Daimler ADS R „Sascha“, der 1922 verfügbar war.

Ich meine, das ist der erste bedeutende Kompaktwagen unserer Geschichte. Porsche setzte auf ein leichtes Chassis und einen minimalen Aufbau. Dadurch konnte er auf Motorleistung verzichten, die ja vor allem auch Gewicht bedeutete: kräftiges Triebwerk = schwerer Brocken. Das war damals ein verdammt schneller Wegen, dessen Rennsporterfolge Legende sind.

Im gleichen Jahr hatte Hans Ledwinka den Steyr IV herausgebracht, der gewissermaßen als zu heiß gewaschene und geschrumpfte Version des Steyr II („Waffenauto“) gelten darf. Man könnte sagen, dies sei ein Rationalisierungsschritt, um von einem repräsentativen, sehr teuren Fahrzeug eine preiswertere Version abzuleiten.

Mit dem Austro-Daimler Sascha schuf Ferdinand Porsche einen Meilenstein der Automobilgeschichte. (Foto: Buch-t, CC BY-SA 3.0 DE)
Mit dem Austro-Daimler Sascha schuf Ferdinand Porsche einen Meilenstein der Automobilgeschichte. (Foto: Buch-t, CC BY-SA 3.0 DE)

Während der Entwicklung war Ledwinka bei den Testfahrten mit dem Steyr IV verunglückt und mußte einige Tage im Spital verbringen. Es heißt, daß er in jener erzwungenen Ruhephase ein Auto erdachte, das in Steyr abgelehnt wurde. Er realisierte es im tschechischen Kopřivnice (Nesselsdorf), wo im Jahr 1923 der Tatra 11 auf den Markt kam.

Zentralrohrrahmen, Pendelachsen, luftgekühlter Zweizylindermotor… Da fällt einem auf, der „Tatritschek“ hat technische Merkmale, wie sie Ledwinkas Sohn Erich in den 1950er Jahren dem Steyr-Puch Haflinger verpaßte. Siehe dazu auch: Der Blechdackel!“

Am 1. Januar 1920 wurde Heinz Zemanek geboren, ein österreichischer Computerpionier. Seine bekannteste Leistung ist der Bau des ersten volltransistorisierten Computers auf dem europäischen Festland, des „Mailüfterls“. (Vorgestellt wurde der im Mai 1958.) Wäre zu erwähnen, daß Wissenschafter Hermann Maurer, mit dem ich hier das Projekt Mensch und Maschine realisiere, als junger Informatiker zum Team von Zemanek gehörte. Siehe dazu Hermann Maurer: „Allen voran muss ich meinen ehemaligen Chef Heinz Zemanek und meinen Freund Werner Kuich aus Wien erwähnen.“ (Quelle)

Mit dem Tatra 11 schuf Hans Ledwinka in den 1920ern ein Beispiel dessen, was längst vor dem VW als Volkswagen bezeichnet wurde. (Foto: Addvisor, CC BY-SA 4.0)
Mit dem Tatra 11 schuf Hans Ledwinka in den 1920ern ein Beispiel dessen, was längst vor dem VW als Volkswagen bezeichnet wurde. (Foto: Addvisor, CC BY-SA 4.0)

Tags darauf, am 2. Januar 1920, kam Isaac Asimov zur Welt, der zu den bedeutendsten Science Fiction-Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zählt. Die von ihm formulierten Robotergesetze („Three Laws of Robotics“) gingen in den allgemeinen Sprachgebrach ein. So auch der Begriff Robotik aus seine Kurzgeschichte „Runaround“ (1942).

Alle diese Momente haben sich in der Blüte der Zweiten Industriellen Revolution ereignet. In den 1970er Jahren erfuhr dieses Automatisierungsphänomen eine Digitale Revolution. Das sind Zusammenhänge, von denen wir nun unseren Themenraster für drei Jahre Arbeit abgeleitet haben:

  • Arbeitsjahr 2020: Von den 1920er Jahren zum Zweiten Weltkrieg
  • Arbeitsjahr 2021: Vom Steyr Baby zu Ponton & selbsttragenden Karosserien
  • Arbeitsjahr 2022: Die gelungene Volksmotorisierung und die Keilform
Siehe dazu die Notiz 008: Hundert Jahre sind um. Drei Jahre, drei Themenschwerpunkte.


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