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Carl Orff, Prophet im Gewand des Gauklers#

Am 10. Juli jährt sich der Geburtstag des Komponisten zum 125. Mal - die geplanten Feiern fallen der Corona-Krise zum Opfer.#


Von der Wiener Zeitung (8. Juli 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Edwin Baumgartner


Carl Orff um 1970
Carl Orff um 1970
Foto: Daniela-Maria Brandt, © Carl Orff-Stiftung/Archiv: Orff-Zentrum München. Aus: Wikicommons, unter CC BY-SA 4.0

Der große Solitär der Musik, keiner Schule zugehörig, Theatermensch, Bayer mit Griechenland-Sehnsucht (oder irrtümlich in Bayern geborener Grieche?), Schöpfer des letzten großen Breitenerfolgs der Klassik: Die 125. Wiederkehr von Carl Orffs Geburtstag am 10. Juli hätte, speziell in seiner von ihm hassgeliebten Heimatstadt München, mit Aufführungen und Vorträgen gefeiert werden sollen. Dann kam das Virus. Und selbst dem so rührigen Orff-Zentrum in der Bayerischen Hauptstadt blieb nur übrig, eine Veranstaltung nach der anderen abzusagen.

Es ist ein Jammer. Denn anders als Ludwig van Beethoven, der andere Jahresregent, auf den der Corona-Schatten fällt, hätte das Orff-Jubiläumsjahr, so unrund es sein mag, ein wenig glätten sollen, was uneben liegt: Beethoven ist präsent wie sonst gerade noch Mozart. Orff auch - aber nur mit einem einzigen Werk: "Carmina burana".

Der Soli-Chor-Orchester-Dauerbrenner aus dem Jahr 1937 wird über alle kulturellen Grenzen hinweg weltweit aufgeführt: Europa, Amerika (Nord- wie Süd-), Korea, Japan und China, Australien, Afrika. In jedem Land, das über einen Chor und ein Orchester verfügt (oder zumindest, für die von Orffs Schüler Wilhelm Killmayer erstellte Fassung, über zwei Klaviere und ein paar Schlagzeuger), sind die "Carmina burana" erklungen. Der Internet-Versand JPC verzeichnet rund 80 Einspielungen. Dagegen hat Orffs restliches Œuvre, obwohl bedeutender, kaum eine Außenseiter-Chance.

Orff hat die "Carmina burana" zu seinem ersten gültigen Werk erklärt. Der Komponist war zu diesem Zeitpunkt schon 42. In diesem Alter starb Mussorgski, Schubert mit 31, Mozart mit 35.

Der lange Weg zum eigenen Stil#

Was Orff zuvor komponiert hatte, war immerhin eine Oper, "Gisei - das Opfer", ganz in der Tradition von Richard Strauss und Franz Schreker, das farbintensive Orchesterwerk "Tanzende Faune", Lieder mit Klavier- und Orchesterbegleitung. In den "Treibhausliedern" experimentierte er mit expressionistischer Harmonik, Improvisationen und Geräuschzuspielungen auf Schallplatte. Erst im Zug der Beschäftigung mit Alter Musik und Bayerischer Volksmusik setzte die Stilfindung ein. Sie vollzog sich über die monumentale Franz-Werfel-Kantate "Des Turmes Auferstehung" und diverse Kammerkantaten nach Texten von Werfel und Bertolt Brecht und fand in den "Carmina burana" ihren Abschluss.

Orff war ein Theatermensch. Er dachte fast ausschließlich an die Bühne - oder zumindest, in seiner Musik für Kinder, dem "Schulwerk", an die Verbindung von Musik und darstellender Bewegung. Auch die "Carmina burana" sind szenisch erfunden. Darin besteht die Grundproblematik: Orffs Werk braucht die Opernhäuser, und die großen zumal.

Für das Repertoire aller Bühnen erreichbar sind nur die beiden temperamentvollen Märchenopern "Der Mond" und "Die Kluge" nach eigenen Texten, die Bajuwarentum mit Brecht verbinden. Aber allein die Orchester der antiken Tragödien "Antigonae", "Oedipus der Tyrann" und "Prometheus" sprengen mit ihren vier bis sechs Klavieren und bis zu 18 Schlagzeugern an einer Vielzahl von Trommeln, Xylophonen, Marimbaphonen und Metallophonen alles, was normale Opernorchester an Musikern und normale Opernhäuser an Platz im Orchestergraben aufbieten können. Und woher soll man Instrumente nehmen wie javanische Gongs, Hyoshigis, Bin Sasaras, Angklungs?

Wieland Wagner freilich, der große szenische Visionär der Nachkriegszeit, ortete in Orffs antiker Trias und in der Weihnachts-Oster-Dilogie "Ludus de nato infante mirificus" und "Comoedia de Christi Resurrectione" Parallelen zu Richard Wagners "Ring des Nibelungen"-Tetralogie. Erst inszenierte Wieland Wagner "Antigonae" und "Comoedia", dann wollte er gar Orff das Bayreuther Festspielhaus öffnen. Doch Wieland Wagner starb, und Orff verlor einen der Regisseure und Musikmanager, die ihn umfassend verstanden hatten.

Dabei waren selbst die antiken Dramen Orffs schon einmal wesentlich präsenter als heute. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bauten manche Bühnen ihren Spielplan um "Antigonae" und "Oedipus" herum auf, um diese Werke in einer Festspiel-ähnlichen Enklave innerhalb des Repertoires zu zeigen. Das Württembergische Staatstheater Stuttgart war solch eine Orff-Bastion: Was dort nicht uraufgeführt wurde, wurde zumindest in Modellaufführungen nachgespielt. Auch München wusste, was es an den Werken Orffs hatte. Aber selbst die Opernhäuser von Nürnberg, Münster und Athen zeigten die antiken Tragödien. An der Wiener Staatsoper kam "Oedipus der Tyrann" am 23. März 1961 heraus, inszeniert von Günther Rennert, dirigiert von Heinrich Hollreiser.

Humanistische Bildung gefordert#

In seinen letzten beiden Bühnenwerken fordert Orff von Zuschauern wie Interpreten die Basis einer humanistischen Bildung: "Prometheus", vielleicht der Höhepunkt von Orffs Schaffen, wird im altgriechischen Original rhythmisch skandiert, der deklamatorische Gesang ist den Affekten vorbehalten. Orffs letztes Werk ist "De temporum fine comoedia", das Spiel vom Ende der Zeiten. Im Weltuntergang bittet Satan um Vergebung und wird von Gott wieder als Engel aufgenommen. Kein Religionskitsch eines Komponisten, der es schaffte, trotz drei Scheidungen und vier Ehen im Kloster von Andechs begraben zu werden, sondern tatsächlich mystische Schau.

Nach Orffs Tod am 29. März 1982 in München fokussiert sich alles auf die "Carmina burana". Gerade einmal John Dew wagt als Intendant des Staatstheaters Darmstadt und Regisseur andere Orff-Erlebnisse und zeigt nicht nur "Die Kluge", sondern auch "Antigonae", "Oedipus" und, als Einakter-Abend, "Gisei" und "De temporum fine comoedia". In Wien spielt die Volksoper 1997 das bayerische Festspiel "Die Bernauerin" mit Tobias Moretti und Sunnyi Melles in den Hauptrollen. Thomas Langhoff inszeniert, Dirigent ist der damals noch als Geheimtipp geltende Kirill Petrenko.

Staatliche Orff-Forschung#

Wagen sich die Bühnen auch immer weniger an die großen sperrigen Werke heran, so floriert doch die Orff-Forschung. Das Münchner Zentrum, heute geleitet von Thomas Rösch, ist ein staatliches Komponisteninstitut. Als Räumlichkeit stellte München ein Gebäude in der Kaulbachstraße zur Verfügung. Seine Geschichte enthüllte sich erst im Nachhinein: In ihm war die Günther-Schule untergebracht gewesen, deren Gründerin Dorothee Günther dort in den Jahren 1924 bis 1944 das weite Feld von rhythmischer Gymnastik bis Tanz unterrichtete. Für die Musik zuständig war Carl Orff. So schließt sich der Kreis.

Carl Orff: Von nirgendwo kommend, Schöpfer eines musiktheatralischen Kosmos‘, der in sich abgeschlossen ist. Orff selbst spürte es und widmete sich nach "De temporum fine comoedia" der autobiografischen Arbeit statt der geplanten "Lysistrata". Eine Messe, die der Dirigent Wolfgang Sawallisch anregte, kam ebenso wenig zustande wie das Chorwerk "Dem unbekannten Gott". Orff hat Petrus und Hexen auf die Bühne gebracht, Antigonae, Oedipus, Prometheus und den Teufel. Er war Bayer und Grieche, ein Prophet im Gewand des Gauklers. Eine einzigartige Erscheinung. Für Orff-Jahre sollte es keiner Jubiläen bedürfen.

Wiener Zeitung, 8. Juli 2020


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