Rabenpolitik und Wolfsgeschichten #
Wölfe gelten als Musterbeispiel für die soziale Intelligenz von Tieren. Aber auch Raben zeigen als Netzwerker erstaunliche Fähigkeiten.#
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von DIE FURCHE (Donnerstag, 29. Oktober 2015)
Von
Sonja Bettel
Thomas Bugnyar, Biologe an der Konrad Lorenz Forschungsstelle der Universität Wien, führt eine Gruppe von etwa 40 Personen in den Cumberland Wildpark in Grünau im Almtal, wo er seine Verhaltensforschung mit Kolkraben betreibt. Nahe des Wildschweingeheges bleibt er stehen und erklärt, wo die freilebenden Raben sich tagsüber aufhalten und wo sie ihren Schlafplatz haben. Plötzlich entdeckt eine Exkursionsteilnehmerin einen Raben auf einem großen Baum etwa 50 Meter entfernt. „Wenn wir ein paar Schritte nach vorne gehen und nicht alle raufstarren, sehen wir ihn“, sagt der Wiener Uni-Professor, doch zu spät. Der Rabe hat bereits beobachtet, dass er beobachtet wird, und hüpft ein paar Äste höher, bis er hinter den Zweigen versteckt ist.
Dieses Verhalten ist typisch für Raben, die ständig ihre Umgebung und ihre Artgenossen im Visier haben um nach Futter, nach Feinden oder nach Artgenossen Ausschau zu halten, die ihnen einen Leckerbissen streitig machen wollen. Laut den Studien von Bugnyar sind sie dabei offenbar fähig, zu erkennen, was der andere sehen kann, und verhalten sich entsprechend. Hat eine Gruppe Raben ein totes Tier entdeckt, versucht jeder, sich rasch ein paar Fleischstücke zu sichern und zu verstecken – bevor ein ranghöheres Tier oder ein Wolf dieses beanspruchen.
Die Strategien der Raben #
Bei Verhaltensstudien mit handaufgezogenen Raben hat Bugnyar festgestellt, dass sie dabei äußerst taktisch vorgehen. Denn werden sie beim Verstecken von einem anderen Raben beobachtet, wird dieser rasch das Futter aus dem Versteck stehlen. Die Raben schauen deshalb, ob ein anderer sie sehen kann, und gehen bei Bedarf hinter eine Sichtbarriere wie etwa einen größeren Stein. Das bedeutet, dass sie dem Blick eines anderen folgen können und wissen, was er sehen kann und was nicht. Diese Fähigkeit der Raben sei vergleichbar mit der eines zweijährigen Kindes, erklärt der Verhaltensforscher.
Bei Bedarf täuschen die Raben einen Artgenossen sogar und tun so, als ob das Futter an Stelle A versteckt wäre, damit der andere hingeht und die Stelle untersucht. Wenn er abgelenkt ist, kann der Rabe schnell zur Stelle B gehen und das Futter holen. Derart taktische Täuschungsmanöver kannte man bisher von Schimpansen und Schweinen, nicht aber von Vögeln.
Die Soziale Intelligenz-Hypothese besagt, dass ein Zusammenleben in Gruppen mit Dominanz, Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen eine kognitive Anforderung darstellt, die bei Primaten und Menschen die Entwicklung von intelligentem Verhalten bestimmt hat. Thomas Bugnyar wollte in seiner jüngsten Forschungsarbeit wissen, ob das auch auf Raben zutrifft.
Kolkraben, die nicht brüten, leben in lokalen Gruppen, die über den Tag und über das Jahr variieren. Dabei pflegen sie zu einzelnen Tieren wiederkehrende Freundschaften, die sich in gegenseitigem Kraulen, dem Futter-Teilen oder der Unterstützung bei Konflikten mit Dritten ausdrücken. Das verschafft ihnen Vorteile, die anderen offenbar nicht so gut gefallen, wie Bugnyar bei der Beobachtung von markierten Raben, die frei im Almtal leben, herausgefunden hat.
Dominante Raben stören nämlich Artgenossen, die gerade eine Freundschaft aufbauen. Gelegentliches Kraulen oder Futter teilen stört sie dabei nicht. Sie beginnen erst zu intervenieren, wenn dieses regelmäßig und auf Gegenseitigkeit erfolgt, also typisch ist für eine Freundschaft. Bugnyar schließt daraus: „Raben wissen offenbar über die Beziehungen anderer Bescheid, indem sie sie beobachten und Schlüsse daraus ziehen.“ Der Grund für dieses unfreundliche Verhalten dürfte sein, dass Raben, die sozial gut eingebunden sind, in der Hierarchie aufsteigen und damit den dominanten Tieren ihren Rang streitig machen könnten.
Zwischen Hunden und Wölfen #
Kooperation und Konkurrenz in komplexen sozialen Gruppen sind auch bei Wölfen wichtig für das Überleben. Friederike Range untersucht dieses Verhalten am Veterinärmedizinischen Uni Wien und am Wolfsforschungszentrum im niederösterreichischen Ernstbrunn. Zum Vergleich wird das Verhalten von Hunden herangezogen.
Wölfe sind sozusagen die Vorfahren von Hunden: Sie haben vor geschätzten 60.000 Jahren begonnen, sich in der Nähe des Menschen aufzuhalten und seine Abfälle zu fressen. Der Mensch wiederum hat nicht nur von ihrem Jagdgeschick, sondern auch von ihren Warnungen vor Gefahren profitiert. Mit der Zeit haben die Menschen den Wolf domestiziert – und daraus den Hund gezüchtet und sozialisiert.
Das Erbe des Rudels #
Der Hund musste sich dabei an veränderte Lebensbedingungen anpassen: Während Wölfe in Familiengruppen leben, die Jungen gemeinsam aufziehen und bei der Jagd miteinander kooperieren, leben Hunde meist einzeln auf engem Raum mit Menschen zusammen. Sie müssen es sogar immer wieder aushalten, zum Beispiel mit vielen fremden Menschen und Tieren beim Tierarzt zu warten oder zwischen fremden Beinen in der U-Bahn zu fahren. Kognitionsforscherin Range möchte wissen, welche Gemeinsamkeiten Wölfe und Hunde trotzdem haben und wie die evolutionären Bedingungen die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten der beiden Tiere beeinflusst haben. Für diese Forschung werden in einem großen Gehege in Ernstbrunn Hunde und Wölfe unter gleichen Bedingungen aufgezogen und gehalten. Dann werden die gleichen Verhaltenstests durchgeführt. Bei einem Test war Fleisch im Gehege ausgelegt, dann wurden die Tiere hineingelassen, die sich sofort auf das Futter stürzten. Die Wölfe knurrten dabei und stellten die Haare auf, wenn ein zweiter Wolf ein Stück von ihrem Fleisch haben wollte. Sie ließen den anderen aber gewähren, selbst wenn es ein rangniedrigeres Tier war. Bei den Hunden knurrte der erste Fresser ebenfalls und stellte die Haare auf, ließ ein rangniedrigeres Tier aber gar nicht in seine Nähe. Der nicht-dominante Hund blieb still und lief davon, ohne Futter bekommen zu haben. Dieses Verhalten könnte daraus resultieren, dass Hunde es nicht mehr gewöhnt sind, in Rudeln zu leben – und deshalb auch nicht zum Nutzen des gesamten Rudels handeln.
Training am Futternapf #
Dieses Verhalten von Hunden zu kennen sei wissenschaftlich interessant, aber auch hilfreich für das Zusammenleben mit ihnen, sagt Friederike Range: „Ich habe meinen Hund trainiert, dass ich ihm jederzeit einen Knochen wegnehmen darf. Als Welpe hat sie auch geknurrt, wenn ich das tat, aber sie hat es gelernt. Wenn man zwei Hunde hat, sollte man sie trainieren, dass sie nebeneinander fressen können, ohne sich gegenseitig anzugiften.“ Trotzdem dürfe man nicht vergessen, dass dieses Verhalten in den Hunden steckt, und etwa ein Kind nicht mit einem Hund allein lassen, wenn er frisst.
Durch das enge Zusammenleben mit dem Menschen hat der Hund gelernt, genau auf das Verhalten des Menschen zu achten und zu verstehen, was mit einem bestimmten Wort, einer Geste oder einem Blick gemeint ist. Von seiner natürlichen Umwelt verstehe der Hund im Gegensatz zum Wolf aber nicht viel, verrät Range ein erstes Ergebnis laufender Studien. Der Versuchsaufbau dafür sieht zunächst kompliziert aus: Es ist ein Brett mit zwei Ösen, durch die ein langes Seil gefädelt ist. Auf dem Brett befindet sich ein Stück Fleisch, das von den Tieren durch einen Zaun getrennt ist. Nur die beiden Seil-Enden ragen unter dem Zaun durch. Die Frage, die sich die Forscherinnen stellten: Würden zwei Hunde und zwei Wölfe nun verstehen, was sie tun müssen, um an das Fleisch zu gelangen? Die Antwort wirft weiteres Licht auf das Denken der Tiere: Die Wölfe hatten großteils verstanden, dass sie gleichzeitig an je einem Ende des Seils ziehen müssen, um das Brett zu sich zu holen, ohne das Seil auszufädeln. Die Hunde hingegen blieben ratlos stehen.