Anatomie einer Eskalation #
Worum es bei den jüngsten Auseinandersetzungen in Wien-Favoriten tatsächlich ging. Und was nun zu tun wäre. Ein Gastkommentar. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (9. Juli 2020)
Von
Thomas Schmidinger
Seit rechtsextreme türkeistämmige Jugendliche Demonstrationen von Linken und Antifaschisten im zehnten Wiener Gemeindebezirk angegriffen und Brandsätze ins linke Kulturzentrum Ernst-Kirchweger- Haus geworfen haben, wird auch in der österreichischen Öffentlichkeit über die „Grauen Wölfe“, vor allem aber über Kurden und Türken diskutiert. Dazu gibt es zwei diametral verschiedene Sichtweisen: Von der FPÖ, vom Neo-Gemeinderatskandidaten Strache und von der ÖVP wurde der Konflikt im Wesentlichen als Konflikt zwischen Kurden und Türken wahrgenommen und als „importierter Konflikt“ rezipiert. Von Grünen, Sozialdemokraten und Linken wurde der Konflikt als politischer Konflikt zwischen Faschisten und Antifaschisten gedeutet. Nebenher versucht der ehemalige Integrationsstaatsekretär und nunmehrige Bundeskanzler die angeblichen „Versäumnisse in der Integrationspolitik“ für die Ausschreitungen verantwortlich zu machen. Auf eine Konkretisierung, was denn in der Integrationspolitik versäumt worden wäre, für die auch nach dem Aufstieg Kurzʼ zum Kanzler seine Partei verantwortlich war, warteten aufmerksame Beobachter allerdings bislang vergeblich.
Eingeladen zum runden Tisch? #
Die derzeit für Integration zuständige Ministerin Susanne Raab und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) luden nun zur Krisensitzung im Kanzleramt. Laut Tageszeitung Kurier sollen an dieser unter anderem die „Türkische Föderation“ (Graue Wölfe) und UETD, die „Föderation der Arbeiter und Studenten“, die „Föderation der Aleviten“ und die „Türkische Kulturgemeinde“ teilnehmen. Vom größten kurdischen Dachverband „Feykom“ war bislang nicht die Rede, genauso wenig von der „Föderation Demokratischer Arbeitervereine“ (DIDF), deren Lokal im Ernst-Kirchweger- Haus am zweiten Tag der Ausschreitungen von den Grauen Wölfen angegriffen worden war. Mag sein, dass diese noch eingeladen werden. Unter türkeistämmigen politischen Aktivisten gibt es seither jedenfalls Debatten darüber, wer eingeladen wurde und wer nicht und ob man an solcheinem runden Tisch überhaupt teilnehmen solle oder nicht.
Zwischenzeitlich forderte die ÖVP Wien die Schließung des Ernst-Kirchweger-Hauses, also jenes Hauses, das von den Rechtsextremisten angegriffen wurde. VP-Wien-Integrationssprecherin Caroline Hungerländer ließ über eine OTS-Aussendung ihre Ansichten über das Angriffsziel der Rechtsextremisten mitteilen. „Mit der Schließung des Ernst-Kirchweger-Hauses helfen wir nicht nur, das Grätzl wieder lebenswerter zu machen. Wir setzen damit auch ein klares Zeichen, dass Parallelgesellschaften nicht gefördert werden.“ Favoriten wird zum Thema für den Wien-Wahlkampf. Da wird nicht nur gegen die Opfer der Übergriffe geschossen. Das ist auch keine gute Voraussetzung für eine rationale Integrationspolitik.
Dabei gälte es, sich einmal genauer anzusehen, wer hier wen angegriffen hat – um ein genaueres Bild der Situation zu bekommen. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass keine der angegriffenen Demonstrationen eine reine „Kurdendemo“ war. Unterstützer der PKK nahmen an den Demonstrationen teil, bildeten allerdings einen relativ kleinen Teil davon und zeigten nie das in Österreich verbotene Symbol der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans (ERNK), sondern völlig legale Symbole, wie die Fahnen der syrischen US-Verbündeten YPG und YPJ. Deutlich präsenter waren bei den meisten Demonstrationen jene Vereine, die auch im zehnten Bezirk ihre Vereinslokale haben, nämlich im bereits erwähnten Ernst-Kirchweger- Haus: die „Föderation der Arbeiter und Jugendlichen aus der Türkei in Österreich“ (ATIGF) und die Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF) sowie verschiedenste andere Wiener Linke bis hin zu sozialdemokratischen und grünen Kommunalpolitikerinnen.
Auch wenn es unter den Mitgliedern der ATIGF und der DIDF viele Kurdinnen und Kurden gibt, verstehen sich beide Vereine nicht als kurdische, sondern als linke Vereine aus der Türkei, die sich per se als nichtethnisch verstehen. Genau an dieser Frage entspannen sich in der Vergangenheit auch immer wieder Konflikte zwischen solchen Organisationen der radikalen türkischen Linken und den kurdisch-nationalen Organisationen wie der PKK.
„PKK-Terroristen“ #
Die Föderation der Arbeiter und Jugendlichen aus der Türkei in Österreich wurde von Mitgliedern der Türkischen Kommunistischen Partei/ Marxisten-Leninisten (TKP/ML), einer maoistischen Partei aus der Türkei, gegründet und hatte in den 1980er Jahren nach dem Militärputsch in der Türkei ihren größten Zulauf. Die Föderation Demokratischer Arbeitervereine wurde 1980 als Vorfeldorganisation der Revolutionären Kommunistischen Partei der Türkei gegründet, einer Partei, die sich damals an der Politik der Albanischen Kommunistischen Partei unter Enver Hoxha orientiert. Die während der Militärdiktatur stark verfolgte Mutterorganisation gibt es heute nicht mehr, allerdings eine legale daraus hervorgegangene linke Partei, die Partei der Arbeit (EMEP). Viele Mitglieder beider Organisationen sind Aleviten aus Dersim, die sich nur zum Teil als Kurden verstehen. Trotzdem verbreitete sich innerhalb der Anhängerschaft der Grauen Wölfe in Windeseile der Ruf, es handle sich dabei alles um „PKK-Terroristen“. Auch in sozialen Medien wurde von rechten türkischen Funktionären bis weit hinein in das AKP-Spektrum der Mythos verbreitet, es handle sich hier um „PKK-Terroristen“.
Auch wenn die Opfer der Angriffe keineswegs nur Kurden waren oder sich als Kurden verstanden, spielte das antikurdische Ressentiment der rechtsextremen Jugendlichen definitiv eine Rolle bei den Angriffen. Insofern ist es zwar richtig, wenn Linke betonen, dass es sich um keinen ethnischen Konflikt handle. Zugleich spielen allerdings antikurdische Propaganda und von Familien und Vereinen tradierte Ressentiments gegen Kurden sehr wohl eine Rolle bei den Tätern. Und genau hier kommt auch die Türkei ins Spiel.
Die jugendlichen Täter sind in Wien aufgewachsen, haben das österreichische Schulsystem durchlaufen, und viele von ihnen haben vermutlich auch eine österreichische Staatsbürgerschaft. Allein schon deshalb kann hier von keinem bloß „importierten Konflikt“ gesprochen werden. Zugleich spielt die Türkei mit ihrer gezielten Diasporapolitik eine Rolle dabei, auch noch Jugendliche der zweiten und dritten Generation mit nationalistischer Kriegspropaganda zu beliefern. Einige der nun ins Ministerium geladenen Vereine spielen dabei eine wichtige Rolle, allerdings nicht nur diese. Für Jugendliche, die zwar oft aus Familien stammen, die in rechtsnationalistischen Vereinen organisiert sind, allerdings selbst oft keine Vereinsmitglieder sind, sind etwa türkische Medien oder eine rechtsnationalistische Musikszene noch bedeutender als alternde Vereinsfunktionäre.
Dass die in den letzten Jahren immer autoritärer gewordene türkische Regierung mittlerweile fast alle türkischen Medien gleichschalten konnte und selbst in Europa mit Thinktanks wie SETA die öffentlichen Diskurse dirigiert, beeinflusst auch die Debatten in der Diaspora. Vielleicht wäre es an der Zeit, dem mit der gezielten Förderung demokratischer Medien in türkischer Sprache etwas entgegenzusetzen.
Der Autor ist Politikwissenschaftler an der Universität Wien.