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„Ins nationale Schneckenhaus“ #

Vor genau 25 Jahren trat Österreich dem Schengener Abkommen bei, in den darauffolgenden Jahren wurden die Kontrollen an den Grenzen zu den Nachbarländern sukzessive eingestellt. Die aktuelle Situation liefert ein konträres Bild, derzeit dominiert Abschottungsdenken. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (30. April 2020)

Das Gespräch führte

Christian Jostmann


Im Jahr 2005 hat Bernd Ctortecka alle Grenzübergänge zwischen Österreich und Deutschland fotografiert und damit die Dokumentation einer Grenze im Prozess ihrer scheinbaren Auflösung geschaffen
Im Jahr 2005 hat Bernd Ctortecka alle Grenzübergänge zwischen Österreich und Deutschland fotografiert und damit die Dokumentation einer Grenze im Prozess ihrer scheinbaren Auflösung geschaffen. Seine Bilder sollten zu einer Reflexion über die ambivalente Bedeutung von „Schengen“ einladen. 15 Jahre später ist aus ihnen ein historisches Dokument der einstmals offenen Grenzen geworden.
Fotos: Bernd Ctortecka

Am 28. April 1995 trat Österreich dem Schengener Abkommen bei. Knapp drei Jahre später wurden an den Grenzen zu Italien und Deutschland die Kontrollen eingestellt – damals ein großer Schritt für Europa. 25 Jahre später gibt es wenig Anlass, ein Jubiläum zu feiern. Ein Gespräch mit dem Historiker Michael Gehler aus Innsbruck, der seit 2006 dem Institut für Geschichte an der Universität Hildesheim vorsteht. Sein Standardwerk „Europa. Ideen– Institutionen– Vereinigung – Zusammenhalt“ wurde zuletzt 2018 neu aufgelegt.

DIE FURCHE: Wenn Sie an den Beitritt Österreichs zum Schengener Abkommen 1995 denken: Welche Ängste, welche Hoffnungen waren damit verbunden? Welche Erwartungen gingen (nicht) in Erfüllung?

Michael Gehler: Derzeit bin ich an meinem Arbeitsplatz in Hildesheim im Homeoffice. Ein Vortrag am 29. April in Innsbruck wurde abgesagt und ein anschließender Besuch von Angehörigen in Südtirol unmöglich. So hat man sich ein grenzenloses Europa vor 25 Jahren nicht vorgestellt, aber die Corona- Krise ist ein Jahrhundertereignis, wovon auch das Schengen-Recht betroffen ist. Seine Aufnahme in den EU-Vertrag von Amsterdam 1999 schien eine neue Welt zu verheißen. Ich erinnere mich noch an Urlaubsfahrten mit dem elterlichen VW-Campingbus nach Italien in den 1970er Jahren und die langen Staus an der Brenner-Grenze wegen der Passkontrollen. Mehr oder weniger freundliche Zollbeamte winkten uns dann durch. Die Erwartungen an Schengen waren daher realistisch. Erinnert sei an strenge Kontrollen an der Grenze zu Tschechien, der Slowakei und Ungarn, als diese Länder noch nicht zur EU gehörten. Das war vor 2004. Die Euphorie über Schengen hielt sich in Grenzen, weil mehr Kriminalität und illegale Zuwanderung befürchtet wurden. Für den funktionierenden Binnenmarkt erfüllte Schengen jedoch alle Erwartungen.

DIE FURCHE: In Ihrem Europa-Buch schreiben Sie, Schengen stehe für ein „scheinbar grenzenloses“ Europa. Wieso „scheinbar“?

Gehler: Die Staatsgrenzen bestehen ja rechtlich unverändert weiter. Aufgehoben wurden die Grenzkontrollen und dies auch nur bis auf Weiteres. Hinzu kam verstärkter Außengrenzschutz – also auch hier gab es kein grenzenloses Europa.

DIE FURCHE: Heute kann in Europa selbst von „scheinbarer“ Grenzenlosigkeit keine Rede mehr sein. Seit März sind viele Grenzen in Europa geschlossen wie vor 25 Jahren nicht. Kann es sein, dass Europa den „langen Weg zum Schengen-Raum“ (Andreas Pudlat) nun wieder rückwärts geht?

Gehler: Geschichte verläuft nie als homogenes Kontinuum. Schengen sieht ja auch Aufhebungen vor. Ich erinnere an den G8- Gipfel in Genua 2001, als Italien aus Sorge vor Globalisierungsgegnern die Brenner-Grenze dicht zu machen versucht hat. Der Weg zurück ist 2015 bereits eingeschlagen worden. Der Glaube von der Unumkehrbarkeit der Integration ist ein Mythos. Dieses Dogma wird in Brüssel nicht mehr vertreten.

DIE FURCHE: An der österreichischdeutschen Grenze wird ja schon seit 2015 durchgängig kontrolliert. Auch Sie messen dem Jahr 2015 in Bezug auf Schengen historische Bedeutung zu, wenn Sie schreiben: „Mit 2015 ist 1989 zu Ende gegangen“ ...

Gehler: Das Jahr 1989 steht praktisch wie symbolisch für den Abbau des Eisernen Vorhangs in Europa. Denken Sie an das zu einer Ikone gewordene Bild, welches Österreichs Außenminister Alois Mock mit seinem ungarischen Kollegen Gyula Horn zeigt, wie sie am 27. Juni 1989 vor laufenden Kameras die letzten Reste der Drahtzäune an der ungarisch-österreichischen Grenze bei Klingenbach/ Sopron durchschnitten haben. An diesem Tag ist für alle Welt sichtbar eine Epoche zu Ende gegangen. Mit den vielen neu errichteten Grenzzäunen wurde spätestens 2015 die Phase der nun real existierenden Festung Europa eingeläutet, die vorher noch als Schreckensbild erschien. So gesehen ist mit 2015 das Jahr 1989 definitiv zu Ende gegangen. Mit 2015 wurde die Migrationsfrage auch nicht gelöst. Sie hat sich nur in aller Dramatik offenbart. Die Brüchigkeit des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei im Februar hat das wieder deutlich gemacht. Und: Der Klimawandel wird nicht zur Verringerung der Migrationsströme beitragen.

DIE FURCHE: Die Grenzkontrollen seit 2015 gingen von einzelnen Staaten aus. Die EU konnte sie nur nachträglich gutheißen. Auch 2020 ist es nicht Ursula von der Leyen, sondern Vater Staat, der an seinen Grenzen seine Bürger schützt. Macht die Covid-19-Krise die Ohnmacht der EU gegenüber den Nationalstaaten sichtbar?

Gehler: Die Staaten sind nach wie vor die Herren der EU-Verträge, was wieder zum Ausdruck gekommen ist. Sie konnten schneller und wirksamer agieren, zumal es auch einfacher ist, als sich unter 27 Mitgliedern abzustimmen. Die Kommission zog verspätet nach, ja. Sie hatte es auch ungleich schwerer. Und ja: Die Gefahr, dass die EU Schaden durch Corona nimmt, ist größer als bei der Finanzkrise 2008/09. Letztlich bleiben aber die Staaten auf die EU angewiesen, um auf globaler Ebene noch ernst genommen zu werden. Daran wird auch Corona nichts ändern. Die Vernunft behauptet sich, gemeinschaftlich vorzugehen.

DIE FURCHE: Die Geschichte der Schengen-Verträge scheint einem Fünfjahresrhythmus zu folgen: Schengener Abkommen 1985, Durchführungs-Übereinkommen 1990, Beitritt Österreichs 1995 ... Und dann: Wiedereinführung der Kontrollen 2015, komplette Schließung 2020. Was, denken Sie, wird in fünf Jahren von „Schengen“ übrig sein?

Gehler: Als Prophet tut sich der Historiker schwer. Ich war das schon einmal, als ich 2016 in einem Artikel in Die Presse gesagt habe, dass mit 2015 das Jahr 1989 zu Ende gegangen ist. Dafür hat mich ein österreichischer Botschafter in England öffentlich kritisiert, wonach das alles doch nur von kurzer Dauer sei. Heute wird er es anders sehen, wenn er sich die meterhohen engmaschigen Drahtzäune zwischen Ungarn und Serbien ansieht. Ich wage noch mal eine Vorhersage: 2025 werden noch mehr Zäune an den Außengrenzen und womöglich auch an manchen südosteuropäischen Binnengrenzen der EUStaaten stehen. Wie aber so ein Binnenmarkt für die aufnahmebereiten Staaten des sogenannten Westbalkans funktionieren kann, weiß keiner.

DIE FURCHE: In Ihrem Europa- Buch erzählen Sie, wie im August 1950 hunderte europäische Studenten an der deutsch-französischen Grenze Kontrollanlagen zerstörten und die Einheit Europas forderten. Können Sie sich vorstellen, dass Bürgerinnen und Bürger Europas heute mit vergleichbarem Einsatz für offene Grenzen kämpfen?

Gehler: Nein, und wenn dann nur wenige. Die jungen Leute, die sich 1950 als Grenzstürmer betätigten, waren eine organisierte Minderheit. Die Mehrheit der Menschen war auf den Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte konzentriert. Das einsetzende Konsumdenken dominierte nahezu alles. Derzeit dominieren Abschottungsdenken und der Wunsch, die Grenzen dicht zu machen. Das scheint der Mehrheitswille. Das wird in einem Europa des freien Verkehrs von Dienstleistungen, Personen, Kapital und Waren aber nicht lange funktionieren. Der Rückzug ins nationale Schneckenhaus ist nur kurzzeitig möglich und langfristig zu kurz gedacht, was die Kurz-Regierung in Österreich weiß.

DIE FURCHE (30. April 2020)


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