Im Hohen Haus flogen die Fetzen#
Über die politische Diskussionskultur in Österreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts und heute#
Von der Wiener Zeitung (Dienstag, 31. Jänner 2012) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Christof Habres
Eine Sitzung des österreichischen Reichsrats als Sargnagel der Monarchie.#
Während seiner mehr als zwölfstündigen Rede im Plenum des Parlaments brachten dem Abgeordneten seine Freunde drei Gläser Wein, vier Tassen Kaffee und ein Glas Bier - eine höchst dürftige Stärkung für den Geschwächten, "aber der feindselige Vorsitzende erlaubte nicht mehr".
Der Vorsitzende? Die Präsidentin des österreichischen Nationalrats Barbara Prammer hat seit dem Jahr 2006 dieses Amt inne, und der Abgeordnete von den Grünen, Werner Kogler, hielt seine Marathonrede, die fast 13 Stunden dauerte, im Dezember 2010. Und erlaubt die Geschäftsordnung des Parlaments, im Sitzungssaal, während einer Debatte des Nationalrats, überhaupt Alkohol zu trinken?
Nun, die Rede, die hier zitiert wird, wurde schon vor 115 Jahren gehalten. Am 28. Oktober 1897 und den folgenden Tagen kam es in Wien zu einer denkwürdigen Sitzung des damaligen Reichsrats, die zwei Rekorde brach: Sie nahm mehr als zwei Tage und eine Nacht in Anspruch, übertraf damit die bis dato längste Sitzung in der Geschichte des österreichischen Parlamentarismus um eine halbe Stunde, und der Reichstagsabgeordnete Otto Lecher von der Fortschrittspartei stellte mit seinem zwölfstündigen Vortrag einen neuen Rekord im Dauerreden auf. Es war damals "der längste ununterbrochene Redefluss seit Menschengedenken", wie Samuel Longhorne Clemens in seinem Band "Turbulente Tage in Österreich" schrieb.
Clemens, natürlich besser bekannt unter seinem Pseudonym Mark Twain, lebte von September 1897 bis Mai 1899 in Wien. Während dieser Zeit war er ein genauer Beobachter der Politik der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Vorgänge im Wiener Reichsrat und der gesellschaftlichen Veränderungen. Seit 1891 tourte Mark Twain, der schon ein international bekannter und erfolgreicher Schriftsteller war, mit seiner Familie auf Vortragsreise durch Europa, um seine Schulden bezahlen zu können. Und Wien zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende hat ihn besonders interessiert. Er war einerseits vom kulturellen Leben der Vielvölkerstadt fasziniert, aber andererseits wurde für ihn das politische und nationale Auseinanderdriften der Monarchie und das massive Aufkommen des Antisemitismus unter Bürgermeister Karl Lueger offenbar. Diese Tendenzen und Vorgänge, die sich kulminiert in den Debatten des Parlaments zeigten, hat er in dem erwähnten Buch scharfzüngig niedergeschrieben. Ein Kommentar eines amerikanischen Schriftstellers, der sich in seinen Werken und Schriften immer wieder gegen Rassismus, religiöse Heuchelei, politische Korruption und die Diskriminierung von Minderheiten eingesetzt hat.
Mark Twain wundert sich#
Eine solche Melange an Widrigkeiten erlebte er auch in der Donaumetropole, und gerade die eine unvergessliche Sitzung des Parlaments wurde für ihn zu einem erschreckenden Beispiel, wohin ein unterentwickelter Parlamentarismus, verbunden mit einem Manko an Demokratieverständnis, einer hohnsprechenden Diskussionskultur, einem paralysierten Präsidenten des Abgeordnetenhauses David von Abrahamowicz und einem unfähigen Ministerpräsidenten Kasimir von Badeni, führen kann: ins absolute politische Chaos, das letztendlich in die temporäre Ausschaltung der demokratischen Rechte der Opposition mündete.
Was war der Auslöser dieser katastrophalen Vorgänge im Parlament? Der Ministerpräsident Badeni war wieder einmal auf der Suche nach einer Mehrheit für seine Regierung im Parlament. In einem Parlament, das sich in jener Zeit aus fast zwanzig verschiedenen Nationen zusammensetzte und in dem elf Sprachen gesprochen wurden.
Und mit den Sprachen begann die Misere, denn Badeni handelte mit den Tschechen ein Abkommen aus, wonach Tschechisch in Böhmen neben Deutsch zur Amtssprache werden sollte. Was einen Sturm der Entrüstung der Deutschen provozierte. Obwohl sie nur ein Viertel der Abgeordneten stellten, war es für sie eindeutig, dass nur eine Weltsprache in den Ämtern der Monarchie zu hören sein sollte - und für sie war das eben Deutsch.
Badeni konnte seinen Antrag dennoch durchbringen. Die Tschechen frohlockten, der Unmut der deutschsprachigen Abgeordneten wuchs. Als dann die Ungarn darauf drängten, endlich den seit einem Jahr ausstehenden sogenannten Ausgleich, jene Vereinbarung zwischen dem Kaiserreich Österreich und dem Königtum Ungarn aus dem Jahr 1867, die die beiden Nationen aneinander band und die Anteile festlegte, mit denen die Magyaren an den Ausgaben des Kaiserreichs beteiligt waren, zu beschließen, war Badeni endgültig überfordert. Denn die Ungarn setzten als Druckmittel die Abtrennung vom Kaiserreich ein. In dieser Phase witterte die Opposition ihre Chance. Durch das Hinauszögern des Ausgleichs würde die Regierung vor die Wahl gestellt: entweder die verhasste Sprachenregelung zurückzuziehen oder Ungarn zu verlieren.
Unter diesen Voraussetzungen begann die Sitzung des Parlaments. Die Opposition bediente sich sehr geschickt der Geschäftsordnung des Hohen Hauses. Otto Lecher verzögerte durch seine Filibusterrede jede Beschlussfassung. Die Rede war meist von ohrenbetäubendem Lärm begleitet, jede nur erdenkliche Möglichkeit wurde versucht, dem Abgeordneten aus dem Konzept zu bringen. Denn die Geschäftsordnung sah vor, dass er nur zu seinem Thema reden durfte. Wäre er abgewichen, wäre ihm das Wort entzogen worden. Die Tumulte im Plenarsaal waren so laut, dass der Präsident Lecher kaum verstehen konnte und daher einen seiner Adlaten neben ihn stellte, damit dieser hören konnte, ob Lecher noch zum Thema spreche. Schimpfkanonaden ergossen sich über einzelne Mitglieder, die von "Bordellvater", "Haderlump", "Judenknecht" bis "Besoffener Hanswurst" reichten.
Für Mark Twain als Beobachter dieser Vorfälle war es unverständlich, wie sich distinguierte Herren derartig unfeine Ausdrücke an den Kopf werfen konnten. In der Nacht nach der Rede Otto Lechers wurde die Sitzung unterbrochen. Die Opposition hatte einen vorläufigen Sieg errungen. Am nächsten Tag ging es in derselben Tonart weiter. Garniert mit parlamentarischen Raufhändel. Im Zuge dieser Tumulte überlistete der Präsident die Abgeordneten mit einer Abänderung der Geschäftsordnung, die die Rechte der Opposition empfindlich einschränkte. Abrahamowicz ließ diesen Antrag (die "Lex Falkenhayn") mit den Worten abstimmen: "Die Personen, die mit Ja stimmen, erheben sich von den Sitzen!" Da die Mitglieder des Reichrats wegen der permanenten Tumulte ohnehin auf den Beinen waren und die Worte des Vorsitzenden kaum hörten, galt der Antrag als angenommen. Ein Gesetz, das zur Folge hatte, dass ein Bataillon von Polizisten in den Sitzungssaal einmarschierte, Abgeordnete der Opposition hinauszerrte und den parlamentarischen Betrieb zum Erliegen brachte.
Niemand gewinnt#
Gewonnen hat dabei niemand etwas. Das Ansehen des Parlaments war ernsthaft beschädigt, die Opposition eingeschüchtert und gelähmt und die Stimmung in der Öffentlichkeit radikalisierte sich zunehmend. Die Regierung von Badeni stürzte mit Bomben und Granaten. Es gab Demonstrationen in Wien und Prag, wo das Standrecht verhängt werden musste, weil Menschen gejagt und deren Häuser geplündert und zerstört wurden - allen voran die der jüdischen Bevölkerung.
Wie sieht es heutzutage mit der parlamentarischen Kultur in Österreich aus? Wie weit hat sie sich entwickelt? Könnte es noch im 21. Jahrhundert zu solchen Tumulten kommen, die drastischen, antidemokratischen Gesetzten führen?
Trotz mancher aktionistischer Vorfälle, rüder Umgangstöne und fallweise persönliche Beleidigungen präsentiert sich das heimische Parlament relativ stabil. Leider stehen minderheitenfeindliche, rassistische und antisemitische Ausfälle einer Oppositionspartei, wie sie in den letzten Tagen wieder zu vernehmen waren, noch immer auf der Tagesordnung und finden bis heute ungebrochene Zustimmung bei einem hohen Prozentsatz der Bevölkerung.
Doch grundsätzlich sollte man den Blick über die Grenzen Österreichs richten. Dorthin, wo die meisten relevanten Gesetze tatsächlich beschlossen werden: nach Brüssel und Straßburg. Hier offenbaren die vergangenen Monate erschreckend, wie sehr Wirtschaftskrisen, gegenseitige Ressentiments und übertriebene Nationalismen eine noch immer fragile multinationalistische Idee gefährden können.
Mark Twain: Turbulente Tage in Österreich. Metroverlag Wien, 96 Seiten, 12 Euro.