Anmerkungen zur Wiener Kommunalpolitik 2018#
Die Stadt steht vor großen politischen Weichenstellungen#
Gerhard Feltl / Peter Diem
Die Stimmung im Wiener Rathaus war schon besser gewesen, auch wenn Michael Häupl zuversichtlich meinte: „Mei Wien is ned deppert“. Doch statt Aufbruchstimmung und Zuversicht dominierten zur Jahreswende Richtungskämpfe und wilde Spekulationen über die Zukunft der Wiener SPÖ das Geschehen. Es war seit Generationen die erste Kampfabstimmung um den Thron des Rathausmannes – eine gnadenlose Abrechnung, ein Hauen und Stechen zwischen zwei extrem unterschiedlichen Parteiflügeln. Der Pulverdampf hat sich zwar verzogen, die Partei hat Ende Jänner 2018 zugunsten von XXX als xxx entschieden. Noch sind die Wunden aber nicht verheilt, die ideologischen Gegensätze und gruppenspezifischen Machtansprüche sind nur vordergründig bereinigt. Der „Bürgermeister mit Ablaufdatum“ hofft weiterhin, Wien als Bollwerk gegen die neue Bundesregierung zu etablieren, sich damit einen halbwegs respektablen Abgang zu verschaffen und seiner SPÖ bei den nächsten Wiener Gemeinderatswahlen mit dieser Kampfparole noch politisch posthum den Bürgermeistersessel zu retten. Nach der von Fritz Plasser und Franz Sommer im Oktober 2015 präsentierten Analyse über Stimmungslage und Motive der Wählerschaft bei der Wiener Gemeinderatswahl ist das politische Wien „eine soziokulturell zweigeteilte Stadt, in der konträre Lebenswelten, Lebensperspektiven und Alltagsrealitäten einander gegenüberstehen und sich traditionelle Integrations- und Kommunikationsformen zunehmend als brüchig bis unwirksam herausstellen.“ Hier nicht zu polarisieren, sondern Brücken zu bauen, sollte – so die Conclusio des Berichtes – eine der zentralen Aufgaben der politischen Akteure Wiens sein.
1. Saat der Missgunst. #
Vor 30 Jahren war die politische Stimmungslage in Wien wesentlich besser. Unter den Kommunalpolitikern Helmut Zilk, Hans Mayr und Jörg Mauthe begannen 1987 die Vorbereitungsarbeiten für ein visionäres und großzügig angelegtes Stadtentwicklungsprojekt. Die Idee einer gemeinsamen Weltausstellung in Wien und Budapest war zudem als Brückenschlag und Symbol für verbesserte Ost-West Beziehungen konzipiert. Sie entsprach den Bestrebungen, Österreich auf den Beitritt zu dem für 1992 geplanten europäischen Binnenmarkt vorzubereiten und in Ungarn die durch Glasnost und Perestroika ausgelösten Reformbestrebungen zu nutzen. Hatte sich zwischen Ungarn und Österreich doch trotz Eisernem Vorhang und ungeachtet der unterschiedlichen politischen Systeme ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis entwickelt, das auch international als beispielgebendes Kooperationsmodell betrachtet wurde. Für die Schweizer Prognos AG gab dies den Ausschlag, dem Expo-Projekt den prestigeträchtigen Instituts-Preis zu verleihen. Die Auszeichnung wurde 1988 von den Bürgermeistern Pàl Ivàny und Helmut Zilk stellvertretend für ihre jeweilige Hauptstadt entgegengenommen. In ihren Dankesworten erinnerten sie an die bleibenden Werte der gemeinsamen Geschichte und daran, dass durch dieses Twin-City-Konzept Grenzen und Systeme überschritten würden, ohne die eigene politische Überzeugung über Bord zu werfen. In seiner Laudatio betonte der russische Botschafter Valentin Falin: „Die Initiatoren der Expo 95 sind selbstbewusste Optimisten, mit unbefangenem Verhältnis zur Vergangenheit, mit realistischer Wahrnehmung der Gegenwart, und mit konstruktiver Erwartung an die Zukunft“. Die Vorbereitungsarbeiten zwischen den beiden Expo-Partnern begannen vielversprechend. Grundsätzliche Fragen wie Schienenverkehr, Grenzabfertigung und Sicherheitsaspekte, Besucherströme, Währungsfragen, Kooperation mit den Sponsoren, Ticketing- und Vermarktungsthemen sowie die Aufteilung der Aussteller auf die beiden Standorte wurden rasch und unbürokratisch gelöst. Der Bau der Autobahn zwischen Wien und Budapest wurde vorgezogen. Die Firma Siemens übermittelte das Angebot, ohne Kosten für den Steuerzahler eine Magnetschwebebahn („Transrapid“) zwischen den beiden Hauptstädten zu errichten. In Wien wurde ein Bankenkonsortium gegründet, um die Ausstellung sowie deren Nachnutzung privatwirtschaftlich zu finanzieren. Das provoziert natürlich die Frage: Woran ist dieses mit so großen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Erwartungen gestartete Vorhaben letztlich gescheitert? Es scheiterte aus denselben Gründen, aus denen auch heute noch ambitionierte kommunalpolitische Vorhaben begraben werden. Denn als aus parteipolitischem Kalkül beschlossen wurde, vier Jahre nach Beginn der erfolgreichen Projektumsetzung eine Volksbefragung durchzuführen, sah dies die Bevölkerung als Versuch der zuständigen Politiker an, die Projektverantwortung „auf das Volk“ abzuschieben. So wurde die Volksbefragung mit ihrem negativen Ausgang vor allem zur Abrechnung der Wähler mit den Kommunalpolitikern über generelle Versäumnisse bei den sensiblen Themen Wohnen, Verkehr, Wirtschaftsentwicklung und Zuwanderung. Befeuert wurde der Meinungsumschwung durch die Anti-Expo-Kampagne von Kurt Falk, der in der „Ganzen Woche“ Angstparolen trommelte und vor dem ungehemmten Zustrom von ausländischen Arbeitskräften, explodierenden Grundstückspreisen und Mieten, Verkehrschaos und massiv ansteigender Kriminalität warnte. Auch die Behauptung, im damaligen Jugoslawien würden bereits systematisch Taschendiebe für die Wiener Weltausstellung ausgebildet, durfte nicht fehlen. Hintergrund dieser Kampagne war die beinharte Auseinandersetzung zwischen Kurt Falk und Hans Dichand um üppige Fördermittel und Inserate seitens der Stadt Wien. Seither hat sich wenig geändert, auch wenn die Namen der Protagonisten gewechselt haben, die am Boulevard um das größte Stück am millionenschweren Inseratenkuchen kämpfen. „Kritik gilt solange als Majestätsbeleidigung, bis der Rechnungshof das Gegenteil beweist. Und den Zeitungsboulevard füttert man unbeirrt und wider besseres Wissen, die Intransparenz bei der Werbemittelvergabe wird gegen alle Gesetze zur Kunstform weiterentwickelt. Das ist der sumpfige Boden, auf dem die Saat der Missgunst besonders schön erblüht“, klagte jüngst die SPÖ-Kennerin Petra Stuiber in einem Standard-Kommentar mit der Headline „Rotgrünes Wien – Gegenentwurf mit Schwächen“. Wie sich zeigt, sind die als Ursache für das Scheitern der Weltausstellung im Österreichischen Jahrbuch für Politik 1991 beschriebenen politischen Rituale und Entscheidungsmuster nach wie vor aktuell und ein Lehrbeispiel für die grundsätzlichen Schwächen unseres politischen Systems sowie für die Dominanz von Partei- und Partikularinteressen gegenüber gesamtösterreichischen Anliegen.2. Erodierende Parteienlandschaft.#
Zu den Herausforderungen der Stadt Wien zählen nach wie vor ungelöste Verkehrsprobleme, Zuwanderung und Integration, Sicherheitsthemen und Kriminalität, die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt, Missstände und Mängel im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich, mangelnde Transparenz in den Entscheidungsabläufen sowie fehlende Dynamik bei der Umsetzung von bereits beschlossenen Projekten und Reformmaßnahmen. Dass zur Lösung der meisten anstehenden Probleme bis heute keine geeigneten Maßnahmen gefunden wurden, findet seinen Niederschlag in den Wahlergebnissen - und ist wesentlicher Grund für die massiv erodierende Parteienlandschaft. So reduzierte sich der Anteil der ehemaligen Großparteien SPÖ und ÖVP auf Bundesebene seit 2006 von zusammen 70% auf zuletzt 56 % bei der Nationalratswahl 2017. Betrachtet man die Situation in Wien, so zeigt sich, dass die SPÖ (die bei der Gemeinderatswahl 2005 aufgrund des sie parteitaktisch begünstigenden Wiener Wahlrechts mit 49 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit von 55 der 100 Mandate errungen hatte) bei der Gemeinderatswahl 2015 auf 40 Prozent und 44 Mandate abgedriftet ist. Bei der Nationalratswahl 2017 entfielen in Wien überhaupt nur noch knapp 35 Prozent der Stimmen auf die SPÖ. Die FPÖ hingegen erzielte bei der Gemeinderatswahl 2015 satte 31 Prozent und stellt damit 34 Abgeordnete. Die ÖVP hat realistische Chancen, ihren damals erzielten Tiefstand von neun Prozent deutlich zu verbessern - was sich aus dem jüngsten Ergebnis auf Bundesebene ablesen lässt. Die Zukunft der in Wien mitregierenden Grünen, die auf Bundesebene bei der Nationalratswahl 2017 den Einzug in den Nationalrat nicht geschafft haben, sieht hingegen düster aus. Machtkämpfe innerhalb der rotgrünen Landesregierung führen dazu, dass bislang streng gehütete Interna, Malversationen und Fehlentscheidungen vermehrt an die Medien herangetragen und öffentlich gemacht werden. Die Gründe für die Abwendung großer Wählersegmente von ihren Parteien sind vielfältig – wenngleich internationale Untersuchungen Wien immer wieder hohe Lebensqualität bestätigen. Wien kann mit der allseits gerühmten Trinkwasserqualität, mit gepflegten innerstädtischen Park- und Grünanlagen und der funktionierenden Müllabfuhr punkten. Weitere Pluspunkte sind die im internationalen Vergleich teilweise vorbildliche Infrastruktur, zahlreiche Erholungsräume wie Alte und Neue Donau, Prater, Lobau oder Donauinsel sowie ein üppiges Kultur- und Freizeitangebot mit Donauinselfest, Summer in the City, Life Ball, zielgruppenspezifischen Spektakeln von „Gay Vienna“, Silvesterpfad oder „Wiener Eistraum“. Auch der „Soziale Wohnbau“ mit rund 220.000 Gemeindebau-Wohnungen und etwa 200.000 geförderten Miet- und Genossenschaftswohnungen (in denen ca. 62 Prozent der Wiener Bevölkerung leben) wird gerne lobend erwähnt. Allerdings rechnet die Rahmenstrategie für „Smart-City-Wien“ damit, dass in 25 Jahren im Großraum Wien rund drei Millionen Menschen leben werden. Weshalb jährlich in Wien zumindest 9.000 geförderte Wohnungen neu errichtet werden sollen – darunter Wohnhausanlagen in der Seestadt Aspern, auf den Aspang-Gründen, im Hauptbahnhof-Quarter, in Neu Leopoldau oder im Carèe Atzgersdorf. Dieses Angebot wird mit der Nachfrage nach leistbarem Wohnen jedoch nicht mithalten können.3. Führungsschwäche und mangelndes Demokratieverständnis.#
Wenn Wien in internationalen Umfragen regelmäßig hohe Lebensqualität attestiert wird - was sind dann die Gründe dafür, dass von den Bewohnern Wiens die Alltagsrealität zunehmend kritisch wahrgenommen wird? Ist es das übliche Gesuder (© Alfred Gusenbauer), oder gibt es handfeste Gründe für die wachsende Kritik an Parteien und Politikern? Das vielfach positive Bild wird konterkariert durch diverse Skandale, Ungereimtheiten und häufigen Korruptionsverdacht - etwa bei der strittigen Umwidmung der Steinhofgründe, der Umgestaltung des Pratervorplatzes, der Freudenau-Planung oder dem „Paradiso-Projekt“ im Wienerwald, um nur einige Beispiele anzusprechen. Die Umgestaltung von Schwarzenbergplatz oder Praterstern ist architektonisch umstritten und hat keineswegs Weltstadt-Niveau. Ein anderes hochemotionales Streitthema ist die geplante und auch von der Volksanwaltschaft heftig kritisierte Neugestaltung des Heumarkts mit dem überdimensionierten Hochhausprojekt. Das Vorhaben zeigt einmal mehr die rotgrüne Führungsschwäche, das mangelhafte Demokratieverständnis von Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou gegenüber der eigenen Parteibasis sowie massive Eigeninteressen verschiedener Mandatare gegenüber den Investoren. Permanenten Konfliktstoff liefert die zeitgemäße, praxisnahe und ästhetische Gestaltung des Donaukanals, wobei – wie der Standard berichtet – Vassilakou hier „schwere Fouls“ ihrer Stadtratskollegin Ulli Sima ortet. Die Endlosdiskussion um den verkehrstechnisch wichtigen Lobau-Tunnel und das Hickhack um die dritte Piste am Flughafen Schwechat veranschaulichen den Dauerkonflikt in der Stadtregierung. Die beträchtlichen Steuermittel, die in den rapiden und teilweise heftig umstrittenen Ausbau des Radverkehrs investiert werden, sind nur der politisch erzwungenen Rücksichtnahme der SPÖ auf ihren grünen Juniorpartner geschuldet – stagnieren die Pedalritter im Modal Split der Verkehrsmittel doch seit Jahren bei sieben Prozent. Wie es mit der grünen Parteiführung in Wien überhaupt weitergeht, soll bis zum Sommer 2018 entschieden werden. Dass Wien trotz regelmäßiger Probleme im Außenring nicht im Verkehr erstickt, ist sicherlich Verdienst der Wiener Linien, die täglich rund 2,6 Millionen Fahrgäste befördern - auch wenn Ausbau und Netzwartung nicht mit der Wachstumsdynamik mithalten können. Entlastung soll (allerdings nicht vor dem Jahr 2026) das U2/U5-Liniennetz bringen. Die beschriebene Lebensqualität Wiens wird allerdings mit vergleichsweise hohen Lebenshaltungskosten erkauft, weshalb Wien auch zu den teuersten Städten in Europa zählt. Entgegen beschönigender Beteuerungen der Finanzstadträtin wachsen den Wienern die Schulden über den Kopf. Betrug das Defizit im Jahr 2007 noch 1,39 Milliarden Euro, so sind die Schulden in nur zehn Jahren auf rund 6,6 Milliarden Euro angestiegen. „Kreative“ Budgetgestaltung und diverse Betriebsauslagerungen eröffnen zudem Gestaltungsspielraum bei der Darstellung des tatsächlichen Schuldenstandes. Auch die Aufnahme von Schweizer Frankenkrediten ließ den Schuldenberg der Stadt Wien kräftig anwachsen, weshalb trotz bisheriger Konvertierungen in die Euro-Währung noch immer rund 570 Millionen Franken an Fremdwährungsschulden verbleiben. Neben der Finanzgebarung zählt der Krankenanstaltenverbund zu den großen Sorgenkindern der Stadt. Wie der Rechnungshof kritisch anmerkt, hatte bereits im Jahr 1989 eine internationale Expertengruppe die Herauslösung aus dem Magistratsverbund empfohlen - dies wurde bis heute nicht umgesetzt. Eine andere Dauerbaustelle ist das Krankenhaus Nord, welches – neben einer mehrjährigen Verzögerung in der Fertigstellung – statt prognostizierter Kosten in Höhe von 825 Millionen Euro den Steuerzahler an die 1,4 Milliarden Euro (ohne Einrechnung der Fremdfinanzierung) kosten wird. Und der groß angekündigte „Spitalsplan 2030“ ist bereits Makulatur. Weitere Gründe für das ausufernde Budgetdefizit sind die üppigen Subventionen, der exorbitant hoch dotierte städtische Presse- und Informationsdienst (PID) sowie teure Werbe- und Inseratenkampagnen, um den Boulevard bei Laune zu halten. Dies alles unbeeindruckt von wiederholten Aufforderung des Stadtrechnungshofes, mit Steuergeldern sorgsam und verantwortungsvoll umzugehen.4. Problemkatalog und Privilegienparadies. #
Bei der Analyse zur Gemeinderatswahl 2015 in Wien wurde in der bereits zitierten Studie von Plasser/Sommer als wichtigste Aufgabe der Politiker genannt, Lösungen für die Themen Asylpolitik, Migration, Mindestsicherung und Sicherung von Arbeitsplätzen zu finden. Jeder dritte Wiener sah zudem die Frage nach leistbarem Wohnraum sowie das Bildungs- und Schulthema als vorrangiges Problem. Internationale Vergleichsdaten wie die jüngste Pirls-Studie (Progress in International Reading Literacy Study) bestätigen diese Einschätzung: In Österreich können 40 Prozent der Schüler am Ende der Volksschulzeit nicht sinnerfassend lesen, rund 30 Prozent aller 15-Jähringen können kaum lesen, schreiben oder rechnen. Stadtschulrats-Präsident Heinrich Himmer gesteht ein, dass in Wien bis zu 25.000 Schüler als „außerordentliche Schüler“ geführt werden müssen, da sie die deutsche Sprache nicht beherrschen. Mehr als 60 Prozent der Volksschüler haben eine andere Umgangs- oder Muttersprache als Deutsch, in den Hauptschulen trifft dies auf etwa 75 Prozent der Schüler zu. Die bereits im Vorfeld heftig diskutierte Studie zu den Islam-Kindergärten wurde schließlich im Dezember 2017 publiziert und zeigt auch in diesem Bereich zahlreiche und lange Zeit hindurch ignorierte Missstände auf: Signifikante Sprachdefizite, Mangel an qualifiziertem Personal, teilweise Indoktrinierung der Kinder in ethnisch und religiös abgeschotteten Kindergärten sowie fehlende pädagogische und wirtschaftliche Kontrolle der Subventionsnehmer. Unter dem Eindruck dieser Kritik wurden vom Wiener Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky nolens volens Reformmaßnahmen angekündigt. In der Gesamtbevölkerung hat bereits jeder zweite Wiener Migrationshintergrund. Betrug der Anteil ausländischer Staatsbürger im Jahr 1961 lediglich 1,5 Prozent, waren es zu Beginn des Jahre 2017 rund 540.000 Personen oder 29 Prozent. Insgesamt ist in den vergangenen zehn Jahren die Bevölkerung, im Wesentlichen durch Zuwanderung, um etwa 13 Prozent gewachsen. Die Ausgaben für Sozialhilfe sind auf jährlich rund 700 Millionen Euro gestiegen. Die Zahl der Mindestsicherungsbezieher hat sich in den vergangenen sieben Jahren mehr als verdoppelt und betrug zu Jahresbeginn 2017 rund 210.000 Personen. Einsparungsmöglichkeiten in der Verwaltung werden immer wieder diskutiert, aber kaum umgesetzt - Wien gilt nach wie vor als Paradebeispiel für Beamtenprivilegien. Das Pensionsantrittsalter der rund 42.000 Bediensteten der Stadt Wien beträgt durchschnittlich 57,6 Jahre (gegenüber 60,7 Jahren im Bund), 43 Prozent der Wiener Beamten lassen sich aus gesundheitlichen oder anderen Gründen wie Hacklerregelung oder Organisationsänderungen vorzeitig pensionieren. Alleine die Frühpensionen kosten den Steuerzahler laut Rechnungshof über die Jahre einen dreistelligen Millionenbetrag.5. Gefräßiger Schlund. #
Wien-Besuchern bleiben diese Probleme weitgehend verschlossen. Vor allem in der „Außensicht“ hat sich Wien in den vergangenen Jahrzehnten zu einer pulsierenden Metropole und zu einer sehr beliebten Besucherdestination entwickelt. Für den Tourismus sind jedoch andere Aspekte wesentlich als für die Ansprache von potentiellen Investoren – und wiederum andere für die Bewohner dieser Stadt sowie für die Positionierung Wiens in regionalpolitischer Hinsicht. Die gezielte Förderung innovativer Technologien, die oftmals angekündigte Breitbandinitiative, die Förderung von „Excellence Clusters“ oder „Creative Industries“ wird in vielen Broschüren der Stadt Wien aufwendig propagiert, jedoch nur halbherzig und mit wechselhaftem Erfolg umgesetzt. Geopolitisch hat sich Wien jahrzehntelang als „Mittler zwischen Ost und West“ verstanden. Die UNO-City und das Austria Center Vienna (ACV) sind sichtbare Belege für den Status als international anerkannte Konferenzstadt. Dass nach dem Brexit zwei in London ansässige EU-Behörden (die europäische Arzneimittelagentur und die Bankenaufsicht) nicht für den Standort Wien gewonnen werden konnten, zeigt indes fatale Akquisitionsschwächen auf Landes- und Bundesebene. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht erscheint die Stärkung der Position Wiens im Rahmen der Centrope-Region als vorrangiges Ziel. Dies bedeutet eine intensivere Zusammenarbeit mit den Städten in dieser Region, verbesserte Kooperationsmodelle im Bildungs- und Ausbildungsbereich und in der universitären Qualitätssicherung sowie den zügigen Ausbau vernachlässigter Güter- und Verkehrswege. Allzulange wurde beispielsweise der zweigleisige Ausbau der Eisenbahnverbindung zum Hauptbahnhof Bratislava hinausgezögert. Die seit Dezember 2017 zusätzlich angebotene Verbindung nach Prag und Brünn durch ein tschechisches Konkurrenz-Unternehmen („RegioJet“) zur ÖBB verdeutlicht die zunehmende Wettbewerbssituation. Wettbewerbsfähige Angebote, um Wien auch als Firmenstandort für Unternehmen aus den wirtschaftlich erstarkten Staaten in Zentral- und Osteuropa sowie aus Asien attraktiv zu machen, sind unverzichtbar. Die Abwanderung verschiedener Firmensitze oder Bundesbehörden weg von Wien sollte ein Alarmsignal sein. Wien werde sich, so Bürgermeister Michael Häupl in einer optimistischen Regierungserklärung vor mehr als zehn Jahren, als Standort für High-Tech, Forschung und Wissenschaft ebenso wie als Zentrum für moderne Architektur, Grafik und Design, Mode, Multimedia und Audiovision, für Bildende Kunst, Literatur und Musik positionieren. Die Nonchalance, mit der das im Rahmen des Staatsbesuches von Präsident Hu Jintao unterzeichnete Kooperationsabkommen mit der China Arts and Entertainment Group (CAEG) von der Stadt Wien schubladisiert wurde, verdeutlicht allerdings bemerkenswerte Entscheidungsschwäche. Das Angebot, in Wien ein „European Design Institute“ oder ein „Edutainment Center“ (nach Vorbild des erfolgreichen Exploratoriums in San Francisco und des Phaeno-Centers in Wolfsburg) zu errichten oder die Erlebniswelt „Olympic Spirit“ nach Wien zu holen, wurden ebenfalls nicht genutzt. Sehr positiv hat sich hingegen unter Hans Hurch das auch international beachtete Vienna Filmfestival entwickelt, das 2018 zum 56. Mal stattfinden wird. Eine Erfolgsstory für Public-Private-Partnership ist das attraktiv gestaltete und deutlich erweiterte Mozarthaus Vienna. Das Haus der Musik könnte sich nach inhaltlicher Neuausrichtung als erfolgreiches „Haus der Wiener Musik“ profilieren. Für ein anderes wichtiges Museumsprojekt der Stadt Wien existiert noch immer kein konkreter Finanzplan, wenngleich Direktor Matti Bunzl hofft, dass der mit rund 100-Millionen-Euro geplante und mehrfach verzögerte Neubau des neuen Wien-Museums im Jahr 2018 endlich begonnen werden kann. Die Wiener Festwochen haben nach wie vor keine klare Positionierung und kein unverwechselbares Programmprofil. Auch dem tradierten Wien-Image entsprechende und künstlerisch adäquat umgesetzte Programmformate wie ein „Wiener Operettenfestival“ wären für bestimmte Zielgruppen attraktiv. Was die dauerdefizitären Vereinigten Bühnen Wien (VBW) betrifft, so rechnete im Jahr 2011 die damalige ÖVP-Kultursprecherin Isabella Leeb dem zuständigen Direktor Thomas Drozda vor, dass die VBW von der Stadt Wien eine Jahresförderung von mehr als 44 Millionen Euro erhalten habe – und dass somit im Opernbereich jedes Ticket mit etwa 200 Euro und im Musical-Bereich jede Karte der rund 560.000 Besucher mit zumindest 30 Euro subventioniert wurde. In einer kritischen Betrachtung der VBW vom 20. Februar 2014 wunderte sich DIE ZEIT: „Was, um Himmels willen, treibt die Stadt Wien dazu, Jahr für Jahr viele Millionen in einen gefräßigen Schlund zu stopfen, der als Gegenleistung nur seichteste Unterhaltungsware ausspuckt?“. Die Erklärung wird in Thomas Drozda gesehen, der „als sozialdemokratische Allzweckwaffe in den Bereichen Medien und Kultur“ bezeichnet wird und dessen Biografie in dem Artikel (mit Verweis auf die zitierte Euroteam-Affäre, die Tätigkeit beim Burgtheater sowie die anschließende Leitungsfunktion bei VBW und VBW-International) als „schillernd“ bezeichnet wird. VBW-International sei ein Tochterunternehmen der VBW, an dem - wie der Artikel kritisch feststellt - auch der ehemalige Intendant Rudi Klausnitzer durch Verträge partizipiere, die er einst über eine Familienfirma mit sich selbst abgeschlossen habe und bei dem er „bis heute sechsstellige Beträge aus dem Auslandslizenzgeschäft der VBW kassiert“. Thomas Drozda wird auch durch diverse Personalentscheidungen, die sein Gastspiel als Kurzzeit-Minister noch lange überdauern, in die Bühnengeschichte eingehen: An der Staatsoper mit Bogdan Roscic, am Burgtheater mit Martin Kusej und am Theater a/d Wien mit Stefan Herheim, die allesamt ihre Intendanz erst in einigen Jahren antreten werden.6. Leadership und Zukunftsbewältigung. #
Als Faktoren, welche in der internationalen Städtekonkurrenz über die Entwicklungschancen von Städten und Metropolen entscheiden und die Attraktivität für Besucher, Bewohner, Zuwanderer und Investoren bestimmen, werden genannt: Smart Government, Creativity, Humanity, Knowledge, Nature and Health. Studien der Roland Berger Strategy Consultants prognostizieren, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs gegenüber Zentral- und Osteuropa in den kommenden Jahren verschlechtern wird. Realistisch gesehen, steht Wien in Konkurrenz zu „Mittelstädten“ wie München, Mailand, Budapest oder Prag. Der für die Wien-Positionierung notwendige Maßnahmenkatalog ist bekannt und wird in jeder neuen Regierungserklärung wiederholt – jedoch nur halbherzig umgesetzt: Staatsreform und Entbürokratisierung. Senkung der Steuer- und Abgabenlast. Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und Ausnahmeregelungen. Finanztechnische Angebote, um Firmenansiedlungen und Neugründungen attraktiv zu machen. Dienstleistungsangebote, um Industrieabwanderungen und den Verlust von Arbeitsplätzen zu kompensieren. Unterstützung für Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen und deren Spin-offs. In einer Diskussionsrunde von Stadtforum und Stadtakademie wurde im Dezember 2017 die Frage diskutiert, wie wichtig für die Entwicklungsdynamik einer Stadt die Rolle des Bürgermeisters sei. Einige Teilnehmer meinten, die technische und organisatorische Infrastruktur, das ökonomische Potential und die leistungsspezifischen Talente ihrer Bewohner würden vorrangig den Ausschlag geben. Andere wiederum sahen die Aufgabe des Bürgermeisters darin, die Stadtentwicklung lediglich positiv zu orchestrieren. Es gab Zeiten, in denen es tatsächlich genügte, sich als Stadtoberhaupt vom Boulevard wie auf einer päpstlichen „Sedia gestatoria“ durchs politische Geschehen tragen zu lassen. Doch ohne Leadership, Entscheidungsfreude und Durchsetzungsvermögen, Charisma und Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein und Fortüne ist erfolgreiche Zukunftsbewältigung nicht möglich - weder auf europäischer Ebene, noch in der Kommunalpolitik.Dieser Beitrag wurde im Jahrbuch für Politik veröffentlicht.