Der Schatten der Vergangenheit #
Vor zehn Jahren starb Kurt Waldheim. Die Affäre rund um die Kriegsvergangenheit des Bundespräsidenten in der Deutschen Wehrmacht hallt bis heute nach. #
Von der Wiener Zeitung (Sonntag, 11. Juni 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Helmut Konrad
Gemessen an der realpolitischen Bedeutung des Amts (nicht an den theoretischen Handlungsmöglichkeiten) ist die Namensliste der österreichischen Bundespräsidenten ein erstaunliches Sammelbecken großer Männer unserer jüngeren Geschichte. Für fast alle aber gilt, dass jene Verdienste, mit denen sie ihren Platz in den Geschichtsbüchern sichern, zeitlich vor der Wahl ins höchste Staatsamt liegen.
Karl Renner konnte als zweifacher Republikgründer das Amt als Belohnung im Alter sehen. Theodor Körner, der in die großen Schuhe von Karl Seitz als Wiener Bürgermeister geschlüpft war, war zur Wahl nur angetreten, weil man ihm eine Niederlage versprochen hatte. Adolf Schärf war einer der Dirigenten der Großen Koalition und Franz Jonas ein Wiener Volksbürgermeister. Rudolf Kirchschläger hatte sich 1968 als österreichischer Botschafter in Prag internationales Ansehen erworben, als er, entgegen der Weisung des Außenministers Kurt Waldheim, in Schichtarbeit mit seiner Familie Visa für Tschechen und Slowaken ausstellte, denen Verfolgung durch die neuen politischen Herren drohte. Als unabhängiger Außenminister arbeitete er in der Alleinregierung Kreisky, und er blieb auch als Bundespräsident unabhängig. Seine mahnende Stimme wurde gehört, seine politische Wirkung hielt damit nicht Schritt.
Kurt Waldheim, der 1971 Franz Jonas für die Wahl zum Bundespräsidenten unterlag, hätte diese Liste gut fortsetzen können. Er war Außenminister der ÖVP-Alleinregierung vor 1970, und 1971 wurde er zum Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt. Zwei Funktionsperioden von je fünf Jahren stand er an der Spitze der UNO und war damit weltweit eine der bekanntesten politischen Personen.
Dennoch war es bei ihm anders. Der Platz in den Geschichtsbüchern, der Waldheim zugedacht ist, entstand nicht aus den Leistungen als führender Diplomat, sondern ist wohl ein „unintended side-effect“, eine nicht geplante Nebenwirkung aus dem Wahlkampf um das höchste Amt im Staat aus dem Jahr 1986. Ja, der 1986 erfolgte Einschnitt in die österreichische Nachkriegsgeschichte ist so bedeutend, dass Historikerinnen und Historiker von einer Zeitenwende sprechen. Die „Generation Gedächtnis“ übernahm die Themenführerschaft, und das hatte die „Causa Waldheim“ ausgelöst. Wir haben also mindestens drei Ebenen zu betrachten: Da geht es vorerst um Waldheims Lebensgeschichte, sein Werden und sein Selbstbild. Dann geht es um den „Fall“, um die Verdrängungen und die Auslassungen, wo Waldheim für eine ganze Generation von Österreicherinnen und Österreichern steht. Und schließlich, wohl am bedeutendsten, geht es um die Wirkungsgeschichte, um die Wahrnehmung Österreichs in der Weltöffentlichkeit und Österreichs Selbstbild in diesem neuen Schlaglicht.
Als Kurt Josef Waldheim am 21. Dezember 1918 in St. Andrä-Wördern in Niederösterreich geboren wurde, war der Erste Weltkrieg wenige Wochen vorbei und die junge Republik war gerade sechs Wochen alt. Die Zukunft des jungen Staates war ungewiss, aber der Lehrersohn (sein Vater hatte seinen Namen von Vaclavik auf Waldheim eingedeutscht) wuchs konservativ- katholisch-deutsch auf. Im Stiftsgymnasium Klosterneuburg war er Mitbegründer einer Schülerverbindung, und das im Alter von nicht einmal 15 Jahren. Es passt in das katholische Milieu, dass er 1936, nach der Matura, freiwillig zur österreichischen Armee des Ständestaates ging, und zwar zur Kavallerie. Den Übergang zum Deutschen Heer vollzog er bruchlos. Er nahm bereits an der Besetzung des Sudetenlandes teil und saß vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in einem Offizierslehrgang. Da Waldheim selbst die Folgejahre in seiner Autobiografie bagatellisierte, seien sie auch hier vorerst übersprungen.
1947 nahm Außenminister Karl Gruber den jungen Kurt Waldheim als Sekretär in sein Team. Das war der Beginn einer Karriere im internationalen diplomatischen Dienst. Waldheim war Botschafter in Kanada und später bei den Vereinten Nationen, eine Position, die durch seine zwei Jahre als Außenminister der ÖVP-Alleinregierung von 1968 bis 1970 unterbrochen wurde. Und gekrönt wurde die Laufbahn durch seine Wahl zum Generalsekretär der UNO, was ein starker Trost für die Niederlage war, die er im Kampf um das Amt des Bundespräsidenten gegen Franz Jonas erlitten hatte.
In Waldheims Amtszeit bei der UNO war es vor allem der Generalsekretär selbst, der durch seine Haltung gegenüber Israel mehrere Resolutionen möglich machte, die als klare Positionierungen gegen die USA und Israel ausgelegt wurden. Auch die Haltung im Jom- Kippur-Krieg von 1973 fiel in diese Richtung aus. Waldheim verteidigte auch den Auftritt von Jassir Arafat vor der Vollversammlung der UNO am 13. November 1974. Hier lag er allerdings voll auf der Linie von Bruno Kreisky, der Arafat aus der Paria-Ecke der internationalen Politik geholt hatte. Für Österreich war aber vor allem die Durchsetzung des Südtirol- Pakets ein wichtiger Schritt dieser Amtszeit.
Es wurde später viel darüber gerätselt, ob Moskau Informationen zu Waldheims Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg hatte, was ihn möglicherweise erpressbar gemacht hatte. Dies scheint allerdings eher unwahrscheinlich, und eine mögliche dritte Amtszeit scheiterte nicht an Washington, sondern an Peking. Mit 63 Jahren schien die politische Karriere Waldheims am Ende. Er nahm, dem Beispiel anderer Ex-Politiker folgend, eine Gastprofessur an der Georgetown University an und betätigte sich in Gremien von Altpolitikern. Und er schrieb eine Art Autobiografie – „Im Glaspalast der Weltpolitik“ –, in der er seine Wehrmachtsaktivitäten ausklammerte, obwohl er auch den Lebensabschnitt im Buch behandelte. Als im Jahr 1985 die ÖVP einen Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl im Folgejahr suchte, kam sie auf Waldheim, der ja seit seiner Wahlniederlage gegen Franz Jonas die große internationale Karriere durchlaufen hatte.
Aber in den USA waren Medien bereits auf die Lücken in der Autobiografie aufmerksam geworden, und auch in Österreich selbst waren Medien und Historiker bereits am Werk, die Sachlage von Waldheims Jahren in der deutschen Wehrmacht zu rekonstruieren. Waldheim trat offiziell als unabhängiger Kandidat an und verfehlte im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit nur knapp. Mit 49,6 Prozent lag er fast 6 Prozent vor dem sozialdemokratischen Kandidaten, dem Gesundheitsminister Kurt Steyrer; Freda Meissner- Blau und Otto Scrinzi folgten weit abgeschlagen.
Der Wahlkampf wurde schon früh heftig. Und dabei ging es fast ausschließlich um die Auslassungen in Kurt Waldheims Lebensgeschichte. Dabei gab es schon seit 1971 Gerüchte um Waldheims Wirken im Krieg. Im Wahlkampf war es eine Mischung aus innenpolitischem Kalkül, vor allem von Hans Pusch, dem Kabinettschef von Bundeskanzler Fred Sinowatz, und, wie das spätere Gerichtsurteil zeigt, auch von Sinowatz selbst, dem Interesse amerikanischer Journalisten und der Recherche des Historikers Georg Tidl, der die Affäre ins Rollen brachte. Das „Profil“ startete eine von Hubertus Czernin verantwortete Artikelserie im März 1986, und zwei Tage später war die Angelegenheit auch Thema in der „New York Times“. Der World Jewish Congress veröffentlichte zeitgleich Dokumente und Fotos, die Waldheim mit dem Kriegsgeschehen am Balkan in Verbindung brachte. Waldheim hatte tatsächlich ganz wesentliche Teile seiner Lebensgeschichte verschwiegen. Waldheim bestätigte zeitnah, dass er seinen Dienst in der Heeresgruppe E am Balkan geleistet habe. Er habe aber nichts von Kriegsverbrechen gewusst und höre auch von der Massendeportation griechischer Juden aus Saloniki erst jetzt, gut 40 Jahre später. Und dann sprach er jenen Satz, der die österreichische Politik so nachhaltig verändern sollte:
„Ich habe im Krieg nichts anderes getan als Hunderttausende Österreicher auch, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt.“
Waldheim gewann die Wahl, wobei die letzten Wochen des Wahlkampfs hässlich waren. „Wir Österreicher wählen, wen wir wollen“, gelbe Plakate („jetzt erst recht!“), unterschwellig gegen die sogenannte „Ostküste“ und an Gefühle appellierend, die 1986 durchaus noch abrufbar waren. Am 8. Juli 1986, einen Monat nach der Wahl Waldheims, wurde am Wiener Stephansplatz ein großes hölzernes Pferd aufgestellt. Alfred Hrdlicka hatte es entworfen, dahinter standen der republikanische Club, Manfred Deix, Peter Turrini und andere. Das Pferd sollte an das Trojanische Pferd erinnern und trug den Namen Waldheim. Geschmückt war es mit einer SA-Kappe. Es sollte sowohl an den Ausspruch von Bundeskanzler Sinowatz erinnern, der sagte, er nehme zur Kenntnis, dass nicht Waldheim bei der SA war, sondern nur sein Pferd, als auch an Waldheims eigene Worte, er sei „nur mitgeritten“.
Aus dem Bauch des Pferdes Waldheim sollte symbolisch die verdrängte braune Vergangenheit Österreichs hervorkriechen. Als Präsident wurde Waldheim von keinem westlichen Land zum Staatsbesuch geladen. Im Gegenteil: Die USA setzten ihn auf die Watchlist, verhängten also ein Einreiseverbot. Um Klarheit in den „Fall Waldheim“ zu bringen, setzte die österreichische Bundesregierung 1987 eine internationale Historikerkommission ein, die nach Monaten intensiver Recherche 1988 ihr Ergebnis vorlegte. Dieses erkannte kein persönliches schuldhaftes Verhalten und keine persönliche Beteiligung an Kriegsverbrechen, wohl aber eine genaue Kenntnis der Verbrechen und ihre Unterstützung durch die „Feindlageberichte“ von Kurt Waldheim. Was waren Waldheims Stationen im Krieg auf dem Balkan? Nachdem Kurt Waldheim 1941 an der Ostfront schwer verwundet worden war, wurde er im März 1942 für dienstfähig erklärt und als Dolmetscher zur 12. Armee auf den Balkan versetzt. Dort gehörte er zur Kampfgruppe Bader, die gemeinsam mit einer italienischen Einheit in Montenegro gegen jugoslawische Partisanen kämpfte. Das faschistische Ustascha-Regime der Kroaten verlieh Waldheim dafür einen hohen Orden (Orden der Krone König Zvonimirs in Silber mit Eichenlaub).
Im August 1942 wurde Waldheim Mitglied im Generalstab der 12. Armee in Saloniki unter Generaloberst Alexander Löhr, der 1947 in Belgrad als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde. Im Dezember 1942 wurde Waldheim, der gerade in Wien seine Studien weiterführte, zum Oberleutnant befördert. 1943 war er vorerst Verbindungsoffizier zur 9. italienischen Armee in Tirana, Albanien, ab Juli erster Offizier des Generalstabs für Spezialaufgaben in Athen.
Es folgte die Tätigkeit als dritter Ordonnanzoffizier in der Abteilung Feinaufklärung beim Oberkommando. 1944 beendete Waldheim sein Studium in Wien und heiratete Elisabeth Ritschel. Für seine Verdienste im Heer wurde er noch zweimal ausgezeichnet. Im Jänner 1944 erhielt er das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern, am 20. April 1945 die gleiche Auszeichnung I. Klasse. Es ist erwiesen, so der Bericht der Historikerkommission, dass Kurt Waldheim bei Stabsbesprechungen anwesend war, „Feindlageberichte“ und Berichte über Verhöre verfasste und somit genau über die Deportationen in die Konzentrationslager und über andere Kriegsverbrechen Bescheid wusste. Allerdings hatte er keine Befehlsgewalt und war auch nicht aktiv an Grausamkeiten beteiligt, wie dies die Quellenlage bestätigt.
Soweit also die erhobene Sachlage. Die Interpretation lässt noch immer viel Spielraum. Sie geht von einer ausreichenden Begründung für die scharfen Maßnahmen wie die Aufnahme in die US-amerikanische Watchlist bis hin zur Reinwaschung von persönlicher Schuld.
Von nachhaltiger Bedeutung ist also, dass die Diskussionen 1986 und 1987 Österreichs Bild in der Wahrnehmung durch die Weltöffentlichkeit dramatisch verändert haben und dass auch im Inneren des Landes die bis dahin weitgehend augenzwinkernd akzeptierte „Opferthese“ (die Nazis, das waren die Deutschen, wir Österreicher waren 1938 die ersten Opfer und wurden 1945 von den Alliierten befreit) hinfällig geworden war. Österreich war mit einem Schlag das Land der Verdränger, der uneinsichtigen Täter, geworden, ein Land, das seinen Anteil an der Schuld verleugnet hat. Der „hässliche Österreicher“ war sichtbar geworden. Hatte der „hässliche Deutsche“ gleich nach Kriegsende die Lektion gelernt, die Schuld eingestanden und die historische Verantwortung übernommen, so hatte Österreich vier Jahrzehnte lang die Kunst des Durchtauchens, des Verdrängens und des Leugnens perfektioniert.
Heidemarie Uhl hat mit ihrer bahnbrechenden Studie „Zwischen Versöhnung und Verstörung“ 1988 untersucht, wie sich Österreichs Identität ein halbes Jahrhundert nach dem sogenannten „Anschluss“ entwickelt hat. Dabei wurde dramatisch deutlich, wie sehr die zwei Jahre vor dieser Untersuchung die politische Landschaft verändert hatten. Aus der Generation „Verdrängung“ wurde die Generation „Gedächtnis“. Vieles wurde hinterfragt und einiges nicht mehr toleriert. Deutschnationalismus wurde zu Österreichpatriotismus, Antisemitismus war nicht länger salonfähig und Franz Vranitzky, der Fred Sinowatz als Bundeskanzler abgelöst hatte, sagte 1991 im Nationalrat: „Es gibt eine Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben.“
Kurt Waldheim, der große Verdränger, hatte mit der um seine Person ausgelösten Kontroverse Österreichs Politik nachhaltig verändert. Was Historikerinnen und Historiker schon lange gesagt hatten, war in der Mitte der österreichischen Politik angekommen. Cornelius Lehnguth, ein deutscher Historiker, hat mit seinem großen Werk „Waldheim und die Folgen“ klar aufgezeigt, dass erst der Fall Waldheim die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass in Österreich ein Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus geschaffen wurde, der bis in dieses Jahr wenigstens symbolische Entschädigungen bereitstellen konnte. Ohne Waldheim wäre die von Bundespräsident Klestil eingeforderte Präambel in der Regierungserklärung der schwarzblauen Koalition nicht möglich gewesen.
Kurt Waldheim blieb bis zum Ende seiner Amtszeit 1992 isoliert. Auf eine Wiederkandidatur verzichtete er. Kurz vor seinem Tod rang er sich noch zu einer öffentlichen Entschuldigung für seine Fehler im Umgang mit seiner Vergangenheit durch und ersuchte um Versöhnung.
Am 14. Juni 2007, vor zehn Jahren also, starb Kurt Waldheim im Alter von 88 Jahren an einem Herz-Kreislauf-Versagen. Ob er sich selbst darüber im Klaren war, was er, neben seinen außenpolitischen und internationalen Erfolgen, für das Selbstverständnis Österreichs bedeutet hat, ist aber wohl zu bezweifeln.
Helmut Konrad ist Historiker, Ex-Rektor der Karl-Franzens- Universität in Graz und Leiter des Instituts für Geschichte.